Urteil des BGH vom 20.10.2016

Leitsatzentscheidung zu Eltern, Amtspflicht, Jugendhilfe, Verfügung

ECLI:DE:BGH:2016:201016UIIIZR278.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 278/15
Verkündet am:
20. Oktober 2016
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
BGB § 839 Abs.1 Satz 1 Cb Fe; GG Art. 34; SGB VIII § 24 Abs. 2 (F: 1. August
2013)
a) Der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe verletzt seine Amtspflicht,
wenn er einem gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII (in der ab dem 1. August 2013
geltenden Fassung) anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmel-
dung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Für das Ver-
schulden des Amtsträgers kommt dem Geschädigten ein Beweis des ersten
Anscheins zugute.
b) Die mit dem Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII korrespondierende Amts-
pflicht bezweckt auch den Schutz der Interessen der personensorgeberech-
tigten Eltern.
c) In den Schutzbereich der verletzten Amtspflicht fällt auch der Verdienstaus-
fallschaden, den Eltern dadurch erleiden, dass ihr Kind entgegen § 24 Abs. 2
SGB VIII keinen Betreuungsplatz erhält.
BGH, Urteil vom 20. Oktober 2016 - III ZR 278/15 - OLG Dresden
LG Leipzig
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 20. Oktober 2016 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Herrmann, die
Richter Tombrink, Dr. Remmert und Reiter und die Richterin Dr. Arend
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Dresden vom 26. August 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der beklagten Stadt im Wege der Amtshaftung
Ersatz von Verdienstausfall (nebst Zinsen und vorgerichtlicher Anwaltskosten)
wegen unterbliebener Bereitstellung eines Betreuungsplatzes für ihre am
18. Januar 2013 geborene Tochter.
Mit Schreiben vom 21. Mai 2013 meldete die Klägerin für ihre Tochter bei
der Beklagten Bedarf für einen Kinderbetreuungsplatz für die Zeit ab dem
19. Januar 2014 an. In ihrer Eingangsbestätigung vom 2. Juli 2013 teilte die
Beklagte der Klägerin mit, dass die Nachfrage nach Betreuungsplätzen im ge-
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samten Stadtgebiet besonders hoch sei und derzeit die verfügbaren Kapazitä-
ten übersteige. Mit Schreiben vom 23. Oktober 2013 wies die Klägerin die Be-
klagte darauf hin, dass ihr Ehemann voll berufstätig sei und sie selbst beabsich-
tige, ab dem 19. Januar 2014 wieder in Vollzeit zu arbeiten, so dass der Be-
treuungsplatz dringend benötigt werde. Nach mehreren Bewerbungen in Kin-
dertageseinrichtungen sei ihr "vielleicht" ein Platz ab September 2014 in Aus-
sicht gestellt worden, eine Verlängerung der Elternzeit bis dahin sei finanziell
aber nicht tragbar. Ab dem 1. August 2013 bestehe ein Rechtsanspruch auf
einen Betreuungsplatz. In ihrer Eingangsbestätigung vom 27. November 2013
verwies die Beklagte auf ihre Mitteilung vom 2. Juli 2013. Mit Schreiben vom
6. Dezember 2013 bat die Klägerin die Beklagte unter Bezugnahme darauf,
dass seit dem 1. August 2013 ein dahingehender Rechtsanspruch bestehe,
nochmals um Zuteilung eines Betreuungsplatzes für ihre Tochter bis 18. Januar
2014, da sie ab dem 19. Januar 2014 wieder arbeiten müsse. Sofern dies nicht
möglich sei, entstehe ihr ein erheblicher finanzieller Schaden, so dass sie recht-
liche Schritte einleiten werde. Mit Schreiben vom 15. Januar 2014 wiederholte
die Beklagte ihre früheren Ausführungen. Einen Betreuungsplatz für ihre Toch-
ter erhielt die Klägerin von der Beklagten nicht zugewiesen.
Die Klägerin hat behauptet, dass sie sich bereits vor der Geburt ihrer
Tochter und in den Monaten danach wiederholt, auch parallel zu ihrer Bedarfs-
anmeldung gegenüber der Beklagten, bei verschiedenen Betreuungseinrichtun-
gen um einen Platz für ihre Tochter bemüht habe. Zudem habe sie mehrfach
persönlich bei der Beklagten vorgesprochen. Nachdem ihre Anstrengungen er-
folglos geblieben seien und auch die Beklagte ihr keinen Platz zur Verfügung
gestellt habe, habe sie sich gezwungen gesehen, bei ihrem Arbeitgeber eine
Verlängerung der zunächst bis zum 17. Januar 2014 laufenden Elternzeit um
sechs Monate, also bis zum 17. Juli 2014, zu beantragen. Diesem Wunsch ha-
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be der Arbeitgeber am 2. Dezember 2013 entsprochen. Erst am 30. Januar
2014 sei es ihr dann gelungen, eigenständig einen Betreuungsplatz in einer
Tageseinrichtung ab dem 1. März 2014 zu organisieren. Eine von ihr angefragte
Verkürzung der verlängerten Elternzeit habe ihr Arbeitgeber unter Hinweis auf
die bereits erfolgte befristete Einstellung einer Vertretungskraft abgelehnt. Unter
Abzug ersparter Betreuungskosten (für die Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar
2014) und eines ihr gewährten Landeserziehungsgelds hat die Klägerin ihren
Verdienstausfallschaden auf 4
.463,12 € berechnet.
Die Klägerin hat geltend gemacht, aus dem Rechtsanspruch nach § 24
Abs. 2 SGB VIII folge die Amtspflicht der Beklagten, nach rechtzeitiger Bedarfs-
anmeldung Kindern bei Vollendung des ersten Lebensjahres einen Betreu-
ungsplatz zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte trage insofern die Planungs-
verantwortung. Diese Amtspflicht beziehe sich nicht allein auf das betreuungs-
bedürftige Kind, sondern auch auf die erziehungsberechtigten Eltern des Kin-
des. In ihren Schutzbereich falle auch das berufliche Erwerbsinteresse der
Eltern. Ein fehlendes Verschulden habe die Beklagte darzulegen.
Die Beklagte hat eine drittschützende Wirkung des Rechtsanspruchs aus
§ 24 Abs. 2 SGB VIII in Abrede gestellt und gemeint, diese Norm bezwecke
allein einen Anspruch des Kindes auf frühkindliche Förderung. Sie hat weiterhin
entgegnet, sie habe eine ordnungsgemäße Bedarfsplanung vorgenommen;
Verzögerungen bei der Errichtung von zusätzlichen Betreuungseinrichtungen
habe sie selbst nicht zu vertreten.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Be-
klagten hat das Oberlandesgericht das Ersturteil abgeändert und die Klage ab-
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gewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die
Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Beru-
fungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht (BeckRS 2015, 14850) hat einen Schadensersatz-
anspruch der Klägerin aus Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) abge-
lehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zwar habe die Beklagte
ihre aus § 24 Abs. 2 SGB VIII resultierende Amtspflicht, der Tochter der Kläge-
rin zum 18. Januar 2014 einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte zu
verschaffen, verletzt. Der Anspruch auf einen Betreuungsplatz bestehe nicht
nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität. Ob die Beklagte schuldhaft gehan-
delt habe, könne allerdings dahinstehen. Denn die Klägerin sei nicht geschützte
Dritte der Amtspflicht der Beklagten. Anspruchsberechtigt nach § 24 Abs. 2
SGB VIII sei allein das betreuungsbedürftige Kind. Der Anspruch ziele aus-
schließlich auf dessen frühkindliche Förderung. Die erziehungsberechtigten El-
tern des Kindes seien vom Schutzbereich dieser Norm nicht umfasst. Anderes
ergebe sich auch aus den Gesetzesmaterialien nicht. Von den in § 22 Abs. 2
SGB VIII genannten Förderungsgrundsätzen habe der Gesetzgeber ausdrück-
lich nur die frühkindliche Förderung in § 24 Abs. 2 SGB VIII erwähnt, nicht aber
die Hilfe zur besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung.
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Im Übrigen wäre der geltend gemachte Verdienstausfallschaden selbst dann,
wenn die Eltern geschützte Dritte sein sollten, vom Schutzbereich der verletzten
Amtspflicht nicht erfasst. Dieser beziehe sich allein auf die frühkindliche Förde-
rung, nicht hingegen auf das Erwerbsinteresse der Eltern. Auf die Verletzung
von Pflichten aus einem - drittschützenden - öffentlich-rechtlichen Schuldver-
hältnis (§§ 280, 311, 249 BGB analog) könne die Klage ebenfalls nicht mit Er-
folg gestützt werden, weil es an einer entsprechenden Sonderverbindung mit
der Beklagten gefehlt habe.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht in allen
Punkten stand.
1.
Zutreffend hat das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der
Klägerin wegen der Verletzung von Pflichten aus einem - gegebenenfalls dritt-
schützenden - öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis (§§ 280, 311, 249 BGB
analog) verneint. Hiergegen erhebt die Revision auch keine Einwände.
2.
Soweit die Revision die Klageforderung aus einem Aufwendungsersatz-
anspruch aus § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (analog) herleiten möchte, verhilft
ihr dies nicht zum Erfolg.
a) § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gewährt einen Anspruch auf Aufwen-
dungsersatz gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, wenn die durch
diesen zu gewährenden Hilfen vom Leistungsberechtigten selbst beschafft wer-
den. Diese Vorschrift bezieht sich zwar unmittelbar nur auf Hilfen im Sinne von
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§ 2 Abs. 2 Nr. 4 bis 6 SGB VIII; sie ist jedoch auf jugendhilferechtliche Leistun-
gen, welche die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kin-
dertagespflege betreffen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3, §§ 22 ff SGB VIII), entsprechend
anzuwenden (BVerwGE 148, 13 Rn. 17 ff; Bayerischer VGH, Beschluss vom
17. November 2015 - 12 ZB 15.1191, BeckRS 2016, 41519 Rn. 36; OVG
Rheinland-Pfalz, Urteile vom 25. Oktober 2012 - 7 A 10671/12, KommJur 2013,
21, 22 f und vom 28. Mai 2014 - 7 A 10276/14, BeckRS 2014, 53254; Meysen,
DJI Impulse, 2/2012, 12, 14; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 24 Rn. 48;
Grube in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 01/14, § 24 Rn. 42; Fischer in Schell-
horn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 4. Aufl., § 24 Rn. 28; Mayer, VerwArch
2013, 344, 371 ff; Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385, 390 und NJW 2014,
1216 ff; Rixen, NJW 2012, 2839, 2843).
b) Der Aufwendungsersatzanspruch steht aber ebenso wie der Pri-
märanspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht den Eltern des zu betreu-
enden Kindes, sondern allein dem Kind selbst zu (s. BVerwG aaO Rn. 47 [zu
§ 24 Abs. 1 SGB VIII aF]; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28. Mai 2014 aaO
[zu § 24 Abs. 1 SGB VIII aF] unter Aufgabe der gegenteiligen Ansicht im Urteil
vom 25. Oktober 2012 aaO S. 24 f; Struck in Wiesner aaO; Mayer aaO S. 372;
Schübel-Pfister, NVwZ 2013 aaO; aA Meysen aaO). Mit ihrer Klage verfolgt die
Klägerin indes nicht Ansprüche ihrer Tochter, sondern eigene Ansprüche. Zu-
dem stellt der hier geltend gemachte Verdienstausfall eines Elternteils keinen
im Rahmen des Anspruchs aus § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (analog) ersatzfä-
higen (Mehr-)Aufwand dar (s. VG Köln, Urteil vom 18. März 2016 - 19 K
3699/14, BeckRS 2016, 47915; Mayer aaO S. 376; Schübel-Pfister, NJW 2014,
S. 1218).
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3.
Ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 670 BGB),
der von der Klägerseite in der mündlichen Revisionsverhandlung angesprochen
worden ist, steht der Klägerin nicht zu. Eltern, die ihr Kind selbst betreuen, füh-
ren kein "(auch) fremdes Geschäft" (hier: des zuständigen Trägers der öffentli-
chen Jugendhilfe), sondern nehmen eine originär ihnen selbst obliegende
Pflicht wahr (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, § 1631 Abs. 1 BGB; s. Pauly/Beutel, DÖV
2013, 445, 449; Mayer, VerwArch 2013, 345, 367 ff).
4.
Rechtsfehlerhaft jedoch hat das Berufungsgericht einen Schadenser-
satzanspruch aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG)
abgelehnt.
a) Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung liegt eine Amtspflicht-
verletzung der Beklagten vor. Die diesbezüglichen Ausführungen des Beru-
fungsgerichts sind zutreffend.
aa) Mit dem durch das Kinderförderungsgesetz (Gesetz zur Förderung
von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertages-
pflege vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2403) geschaffenen § 24 Abs. 2
SGB VIII hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab dem 1. August 2013 (Art. 10
Abs. 3 Kinderförderungsgesetz) einem Kind, welches das erste Lebensjahr
vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres einen Anspruch auf
frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung (§ 22 Abs. Abs. 1 Satz 1
SGB VIII) oder in Kindertagespflege (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII) eingeräumt.
Hieraus erwächst für den örtlich (§ 86 SGB VIII) und sachlich (§ 85 Abs. 1 SGB
VIII) zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe (§ 3 Abs. 2 Satz 2, § 69
Abs. 1 SGB VIII i.V.m. dem jeweiligen Landesrecht) die (Amts-)Pflicht, im Rah-
men seiner die Planungsverantwortung umfassenden Gesamtverantwortung
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(§ 79 Abs. 1 und 2 Nr. 1, § 80 SGB VIII) sicherzustellen, dass für jedes an-
spruchsberechtigte Kind, für das ein entsprechender Bedarf rechtzeitig ange-
meldet worden ist (§ 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII), ein Betreuungsplatz zur Verfü-
gung steht; insoweit trifft ihn eine unbedingte Gewährleistungspflicht (Bayeri-
scher VGH, Beschluss vom 17. November 2015 - 12 ZB 15.1191, BeckRS
2016, 41519 Rn. 24; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 24 Rn. 20 f; Rixen,
NJW 2012, 2839; Mayer, VerwArch 2013, 344, 346 f, 349 f, 358).
Die vorbezeichnete Amtspflicht besteht nicht nur im Rahmen der vorhan-
denen Kapazität; vielmehr ist der gesamtverantwortliche Jugendhilfeträger ge-
halten, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder
durch geeignete Dritte - freie Träger der Jugendhilfe oder Tagespflegeperso-
nen - bereitzustellen (vgl. BVerfG, NJW 2015, 2399, 2401 Rn. 43; Bayerischer
VGH aaO Rn. 25 f, 41; Grube in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 01/14, § 24 Rn.
40; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl., § 24 Rn. 12; Lakies in
Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 7. Aufl., § 24
Rn. 67; Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385, 387; Meysen, DJI Impulse, 2/2012,
12, 13; Rixen aaO S. 2840 f; Mayer aaO S. 351 f, 365; s. auch Niedersächsi-
sches OVG, NJW 2003, 1826, 1827 [zu § 24 Abs. 1 SGB VIII aF]; aA wohl
Pauly/Beutel, DÖV 2013, 445, 446 f). Diese Pflicht kann der zuständige Träger
der öffentlichen Jugendhilfe dadurch erfüllen, dass er einen (zumutbaren) Platz
entweder in einer Tageseinrichtung oder im Rahmen der Kindertagespflege zu-
weist (so OVG Nordrhein-Westfalen, NJW 2013, 3803, 3804, 3805; VGH Ba-
den-Württemberg, Beschluss vom 29. November 2013 - 12 S 2175/13, BeckRS
2013, 59599; Hessischer VGH, NJW 2014, 1753, 1754 Rn. 8; Schleswig-
Holsteinisches OVG, Beschluss vom 30. Juni 2014 - 3 MB 7/14, BeckRS 2014,
54048; Sächsisches OVG, NJW 2015, 1546, 1547 Rn. 8; Grube in Hauck/Noftz
aaO Rn. 19, 25; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar aaO Rn. 14; Schübel-Pfister,
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NVwZ 2013, S. 389 und NJW 2014, 1216, 1217; aA Bayerischer VGH aaO
Rn. 31, 33; Lakies in Münder/Meysen/Trenczek aaO; Rixen aaO S. 2839;
Mayer aaO S. 350, 358: verbindliches Wahlrecht der Eltern). Beide Alternativen
stehen prinzipiell gleichrangig nebeneinander; dies ergibt sich aus dem Wortlaut
von § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII und einem Vergleich mit der Regelung in § 24
Abs. 3 Satz 1 SGB VIII (s. Hessischer VGH aaO Rn. 9; Schleswig-Holsteini-
sches OVG aaO; Rixen aaO; Mayer aaO).
bb) Trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs hat die Beklagte - als zu-
ständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe - der Tochter der Klägerin zum
Ablauf ihres ersten Lebensjahres keinen Betreuungsplatz zur Verfügung ge-
stellt. Damit hat die Beklagte ihre Amtspflicht zur Erfüllung des Förderanspruchs
aus § 24 Abs. 2 SGB VIII verletzt, denn in der Nichterfüllung des Anspruchs
liegt zugleich die Amtspflichtverletzung (vgl. hierzu Grube in Hauck/Noftz aaO
Rn. 48; Meysen aaO S. 15; Rixen aaO S. 2843; Mayer aaO S. 380 f; aA
Pauly/Beutel aaO S. 450).
b) Die Auffassung des Berufungsgerichts, die hier in Rede stehende
Amtspflicht schütze allein die Belange des zu betreuenden Kindes, nicht aber
auch die Interessen der personensorgeberechtigten Eltern, ist hingegen von
Rechtsfehlern beeinflusst.
aa) Ob eine Amtspflicht gegenüber einem geschädigten Dritten besteht,
bestimmt sich danach, ob die Amtspflicht - wenn auch nicht notwendig allein, so
doch gegebenenfalls neben der Erfüllung allgemeiner Interessen und öffentli-
cher Zwecke auch - den Sinn hat, gerade sein Interesse wahrzunehmen. Aus
den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie
aus der besonderen Natur des Amtsgeschäfts muss sich ergeben, dass der
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Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen Belange nach dem Zweck
und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert
werden sollen; darüber hinaus kommt es darauf an, ob in qualifizierter und zu-
gleich individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar
abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Es muss mithin eine be-
sondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten
Dritten bestehen (ständige Senatsrechtsprechung, s. z.B. Urteile vom 11. Juli
1955 - III ZR 178/53, BGHZ 18, 110, 113; vom 12. Juni 1986 - III ZR 146/85,
NJW 1987, 585, 586; vom 13. Juli 1989 - III ZR 240/88, BeckRS 1989,
30401299; vom 26. Oktober 1989 - III ZR 147/88, BGHZ 109, 163, 167 f; vom
6. Mai 1993 - III ZR 2/92, BGHZ 122, 317, 320 f; vom 18. Februar 1999 - III ZR
272/96, BGHZ 140, 380, 382; vom 26. Juli 2001 - III ZR 243/00, NJW-RR 2002,
124; vom 20. Januar 2005 - III ZR 48/01, BGHZ 162, 49, 55; vom 22. Oktober
2009 - III ZR 295/08, VersR 2010, 346, 348 Rn. 20; vom 13. Oktober 2011
- III ZR 126/10, BGHZ 191, 173, 179 Rn. 14; vom 8. November 2012 - III ZR
151/12, BGHZ 195, 276, 282 f Rn. 14 f; vom 6. Juni 2013 - III ZR 196/12, NJW
2013, 3370, 3371 Rn. 14 und vom 14. Juli 2016 - III ZR 265/15, BeckRS 2016,
14013 Rn. 16 [zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen]).
Hierfür ist die unmittelbare Beteiligung am Amtsgeschäft ebenso wenig
notwendige Voraussetzung wie ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf die
maßgebliche Amtshandlung. Andererseits genügt es nicht allein, dass sich die
Verletzung der Amtspflicht für den Geschädigten nachteilig ausgewirkt hat; die
Amtshandlung muss entweder im Interesse des Dritten vorgenommen werden
oder in seine Rechtsstellung eingreifen (s. etwa Senatsurteile vom 13. Juli 1989
aaO; vom 8. November 2012 aaO S. 283 Rn. 15; vom 6. Juni 2013 aaO und
vom 14. Juli 2016 aaO).
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Für die Frage, ob der Geschädigte zu dem Personenkreis zu rechnen ist,
dessen Interessen durch die Amtspflicht (mit) geschützt werden sollen, oder ob
er lediglich reflexartig durch die Wahrnehmung der im öffentlichen Interesse
liegenden Amtspflichten begünstigt wird, kommt es wesentlich darauf an, wel-
che Wertungen und Zielvorstellungen dem betreffenden Gesetz mit den her-
kömmlichen Auslegungsmethoden zu entnehmen sind (Senatsurteil vom
20. Januar 2005 aaO S. 56).
bb) Nach diesen Maßstäben sind die personensorgeberechtigten Eltern
geschützte Dritte der mit § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII korrespondierenden
Amtspflicht, dem Kind bei rechtzeitiger Bedarfsanmeldung ab Vollendung des
ersten Lebensjahres einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen.
(1) Nach Wortlaut und Zweck des § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, der Sys-
tematik der §§ 22 ff SGB VIII sowie der Regelungsabsicht des Gesetzgebers
steht der Förderungsanspruch zwar nicht den Kindeseltern, sondern allein dem
Kind selbst zu (Grube in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 01/14, § 24 Rn. 22;
Schübel-Pfister, NVwZ 2013, 385, 386 und NJW 2014, 1216, 1217; Kümper,
NVwZ 2015, 1739, 1740; Pauly/Beutel, DÖV 2013, 445 f; Pernice-Warnke, Fa-
mRZ 2015, 905, 906; Mayer, VerwArch 2013, 344, 347, 362; vgl. auch BVerw-
GE 148, 13 Rn. 47 [zu § 24 Abs. 1 SGB VIII aF]; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil
vom 28. Mai 2014 - 7 A 10276/14, BeckRS 2014, 53254 [zu § 24 Abs. 1 SGB
VIII aF] unter Aufgabe der gegenteiligen Ansicht im Urteil vom 25. Oktober
2012, KommJur 2013, 21, 24 f). Dies hindert einen Drittschutz zugunsten der
Eltern nach den oben dargelegten Rechtsprechungsgrundsätzen jedoch nicht,
weil die hier im Streit stehende Amtspflicht gerade auch den Zweck hat, ihre
Belange wahrzunehmen (s. auch Grube in Hauck/Noftz aaO Rn. 47; Rixen,
NJW 2012, 2839, 2843; Mayer aaO S. 346, 381; Hahn, LKV 2015, 545, 546;
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wohl auch: Pernice-Warnke aaO S. 906, 907; aA Schübel-Pfister, NVwZ 2013,
S. 390 und NJW 2014, S. 1218; Kümper aaO S. 1742).
(2) Mit dem Kinderförderungsgesetz, insbesondere der Einführung des
Anspruchs nach § 24 Abs. 2 SGB VIII (nF), beabsichtigte der Gesetzgeber ne-
ben der Förderung des Kindeswohls auch die Entlastung der Eltern zu Gunsten
der Aufnahme oder Weiterführung einer Erwerbstätigkeit. Es ging ihm - auch -
um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben und,
damit verbunden, um die Schaffung von Anreizen für die Erfüllung von Kinder-
wünschen (s. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, BT-
Drucks. 16/9299 S. 1, 10, 11 f; Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks.
16/10173, S. 1; s. dazu auch Pauly/Beutel aaO S. 450; Hahn, LKV 2015, 545,
546; Mayer aaO S. 381; vgl. auch Niedersächsisches OVG, NJW 2003, 1826,
1827 [zu § 24 Abs. 1 SGB VIII aF]).
Diese Regelungsabsicht hat - entgegen der Ansicht der Revisionserwide-
rung - auch im Gesetzestext ihren Niederschlag gefunden. Im dritten Abschnitt
des zweiten Kapitels des Achten Buchs des Sozialgesetzbuchs, betreffend die
Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege
(§§ 22-26 SGB VIII), sind zu Beginn die Grundsätze der Förderung beschrieben
(§ 22 SGB VIII). Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen
danach neben Erziehungs-, Bildungs- und Förderungszwecken auch den Eltern
dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander verein-
baren zu können (§ 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII). Diese Förderungsgrundsätze
gelten auch für den Anspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII (s. Rixen aaO
S. 2840; Mayer aaO S. 346, 381; Hahn aaO S. 546 f; vgl. auch Schübel-Pfister,
NVwZ 2013, S. 386). Das hiergegen vorgebrachte Argument, in § 24 Abs. 2
SGB VIII sei nur die frühkindliche Förderung erwähnt und keine generelle Be-
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zugnahme auf § 22 Abs. 2 SGB VIII enthalten (Kümper aaO; Pernice-Warnke
aaO S. 906), überzeugt nicht. Die in § 22 Abs. 2 SGB VIII beschriebenen För-
derungsgrundsätze gelten ohne Einschränkung und Differenzierung für den ge-
samten dritten Abschnitt des zweiten Kapitels des Achten Buchs des Sozialge-
setzbuchs, also auch für § 24 Abs. 2 SGB VIII. Mit der dort gewählten Bezeich-
nung "frühkindliche Förderung" wird nach den Vorstellungen des Gesetzgebers
die spezifische Zielsetzung der Förderung der Altersgruppe von einem Jahr bis
drei Jahren hervorgehoben und zugleich der Bezug zu den Förderungsgrund-
sätzen in § 22 SGB VIII hergestellt (BT-Drucks. 16/9299 S. 15). Es ist weder
ersichtlich noch gedanklich naheliegend, dass der Gesetzgeber das in § 22
Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII genannte Förderungsziel gerade für den Anspruch in § 24
Abs. 2 SGB VIII nicht gelten lassen wollte (zutreffend: Hahn aaO S. 547). Viel-
mehr knüpft der in § 24 Abs. 2 SGB VIII verwendete Begriff "frühkindliche För-
derung" uneingeschränkt an die in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII enthaltene For-
mulierung "gefördert werden" an. In § 22 Abs. 2 SGB VIII werden die Förde-
rungsziele näher bestimmt, die insbesondere auch die Hilfe zugunsten der El-
tern, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser vereinbaren zu können, um-
fassen.
Die für den Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII relevanten Regelungen in
§ 24 Abs. 5 Satz 1, § 80 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII sehen die Be-
rücksichtigung der elterlichen Interessen vor (s. dazu Schübel-Pfister, NVwZ
2013, S. 386; Rixen aaO; Mayer aaO S. 346; Hahn aaO; vgl. ferner OVG
Rheinland-Pfalz, KommJur 2013, 21, 24 f). Nach § 24 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII
sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, "Eltern oder Elternteile,
die Leistungen nach den Absätzen 1 bis 3 in Anspruch nehmen wollen", zu in-
formieren und bei der Auswahl zu beraten. Gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII
haben die Träger im Rahmen ihrer Planungsverantwortung den Bedarf "unter
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Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Men-
schen und der Personensorgeberechtigten" zu ermitteln und nach § 80 Abs. 2
Nr. 4 SGB VIII Einrichtungen und Dienste so zu planen, dass "Mütter und Väter
Aufgaben in der Familie und Erwerbstätigkeit besser miteinander vereinbaren
können".
Aus dem Gesetz geht sonach deutlich hervor, dass der Gesetzgeber
- auch in Bezug auf § 24 Abs. 2 SGB VIII - neben dem Kindeswohl die Belange
der Eltern im Blick gehabt hat. Damit hat er zugleich der Erkenntnis Rechnung
getragen, dass Kindes- und Elternwohl sich gegenseitig bedingen und ergänzen
und zum gemeinsamen Wohl der Familie verbinden (s. Schübel-Pfister, NVwZ
2013, S. 386; Kümper aaO). Demgegenüber greift es zu kurz, wenn man es
den Eltern unter Hinweis auf die Abgrenzung von Gefahren- und Verantwor-
tungsbereichen schlicht als "eigene Sache" zuweisen wollte, ob sie neben der
Kinderbetreuung einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder nicht (so aber Kümper
aaO S. 1742 f).
Der Einbeziehung der Eltern in den Schutzbereich der mit § 24 Abs. 2
SGB VIII verbundenen Amtspflicht steht der Einwand, insoweit fehle es an der
Gesetzgebungskompetenz des Bundes, nicht entgegen (so aber Pauly/Beutel
aaO S. 446, 450). Das Bundesverfassungsgericht hat für das Kinderförde-
rungsgesetz keine Bedenken gegen die konkurrierende Gesetzgebungskompe-
tenz des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG (öffentliche Fürsorge) zu erken-
nen gegeben und zum Ausdruck gebracht, dass unter dem Gesichtspunkt der
Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit (Art. 72 Abs. 2 GG) auf den Zu-
sammenhang zwischen Kinderbetreuungsmöglichkeit und Möglichkeiten der
Beteiligung der Eltern am Arbeitsleben abgestellt und damit an die Bedeutung
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der Regelungen als Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsfaktor angeknüpft werden darf
(s. BVerfG, NJW 2015, 2399, 2403 Rn. 53; zutreffend Hahn aaO S. 546, 547).
Die Anerkennung eines Aufwendungsersatzanspruchs aus § 36a Abs. 3
Satz 1 SGB VIII analog (s.o., unter 2) lässt ein Bedürfnis für den (Dritt-)Schutz
der Eltern nicht entfallen. Denn dieser Anspruch kommt dann nicht zum Zuge,
wenn Anstrengungen zur Selbstbeschaffung einer Betreuung erfolglos geblie-
ben sind, und er ist problematisch, wenn die anderweitige Betreuung - auch
wenn ein auf die bloße fachliche Vertretbarkeit der Auswahl aus der ex ante-
Sicht der Leistungsberechtigten beschränkter Kontrollmaßstab anzulegen ist (s.
BVerwG, NJW 2013, 1111, 1113 f Rn. 34; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom
28. Mai 2014 - 7 A 10276/14, BeckRS 2014, 53524; Bayerischer VGH, Be-
schluss vom 17. November 2015 - 12 ZB 15/1191, BeckRS 2016, 41519 Rn. 39
- den hierfür geltenden Eignungsanforderungen nicht entspricht (s. dazu Grube
in Hauck/Noftz aaO Rn. 46, 48; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 24
Rn. 49; Mayer aaO S. 379). Einen Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfall
gewährt dieser Anspruch, wie bereits oben (unter 2) ausgeführt, nicht.
Letztlich genügt die Einbeziehung der Eltern in den Schutzbereich der
Amtspflicht auch den Erfordernissen der hinreichenden Individualisierbarkeit,
Überschaubarkeit und Abgrenzbarkeit des geschützten Personenkreises (s. zu
diesen Kriterien z.B. Senatsurteile vom 16. Februar 1995 - III ZR 135/93, BGHZ
129, 17, 19; vom 8. November 2012 aaO S. 287 f und vom 6. Juni 2013 aaO
S. 3372 Rn. 19). Sie betrifft allein die Personensorgeberechtigten und führt da-
mit nicht zu einer uferlosen Ausweitung der Amtshaftung (so auch Pernice-
Warnke aaO; Mayer aaO S. 381).
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c) Entgegen der Meinung des Berufungsgerichts wird der geltend ge-
machte Verdienstausfallschaden vom Schutzbereich der verletzten Amtspflicht
umfasst.
aa) Da eine Person, der gegenüber eine Amtspflicht zu erfüllen ist, nicht
in allen ihren Belangen immer als Dritter anzusehen sein muss, ist jeweils zu
prüfen, ob gerade das im Einzelfall berührte Interesse nach dem Zweck und der
rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt sein soll (s. bspw. Se-
natsurteile vom 12. Juni 1986 - III ZR 146/85, NJW 1987, 585, 586; vom 26. Ok-
tober 1989 - III ZR 147/88, BGHZ 109, 163, 168; vom 18. Februar 1999 - III ZR
272/96, BGHZ 140, 380, 382; vom 13. September 2001 - III ZR 228/00, VersR
2002, 97; vom 20. Januar 2005 - III ZR 48/01, BGHZ 162, 49, 55; vom 22. Ja-
nuar 2009 - III ZR 172/08, VersR 2009, 931, 932 Rn. 15; vom 22. Januar 2009
- III ZR 197/08, VersR 2009, 1362, 1363 Rn. 11; vom 13. Oktober 2011 - III ZR
231/10, BGHZ 191, 187, 193 Rn. 13; vom 8. November 2012 - III ZR 151/12,
BGHZ 195, 276, 283 Rn. 15; vom 6. Juni 2013 - III ZR 196/12, NJW-RR 2013,
3370, 3371 Rn. 14; vom 3. Juli 2014 - III ZR 502/13, NJW 2014, 2642, 2643
Rn. 14 und vom 14. Juli 2016 - III ZR 265/15, BeckRS 2016, 14013 Rn. 16). Der
Geschädigte kann dementsprechend nur den Ersatz solcher Schäden verlan-
gen, deren Ausgleich vom Schutzzweck der verletzten Amtspflicht gedeckt ist
(s. etwa Senatsurteile vom 24. Oktober 2002 - III ZR 259/01, NVwZ 2003, 576,
377 und vom 3. Juli 2014 aaO).
bb) Die auch gegenüber den personensorgeberechtigten Eltern als ge-
schützten Dritten bestehende, mit § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII korrespondie-
rende Amtspflicht, dem Kind bei rechtzeitiger Bedarfsanmeldung ab Vollendung
des ersten Lebensjahres einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, er-
streckt sich insbesondere auch auf das Erwerbsinteresse der Eltern. Wie oben
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(unter b) ausgeführt, entspricht es der im Gesetz zum Ausdruck gekommenen
Regelungsabsicht des Gesetzgebers, die Vereinbarkeit von Familie und Er-
werbsleben zu verbessern und Anreize für die Erfüllung von Kinderwünschen
zu schaffen. Den Eltern ein- bis dreijähriger Kinder soll eine Erwerbstätigkeit
leichter als bisher ermöglicht werden. Hieraus folgt, dass der Verdienstausfall-
schaden, den ein Elternteil infolge der Nichtbereitstellung eines Betreuungsplat-
zes erleidet, grundsätzlich vom Schutzbereich der verletzten Amtspflicht mitum-
fasst wird (so auch Meysen, DJI Impulse, 2/2012, 12, 15; Rixen, NJW 2012,
2839, 2844; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 24 Rn. 49; Mayer,
VerwArch 2013, 344, 382; Hahn, LKV 2015, 545, 547; wohl auch Kaiser in
Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl., § 24 Rn. 23, 27; Winkler in Rolfs/
Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand 1. April 2016, § 24
SGB VIII Rn. 34 f; aA Kümper, NVwZ 2015, 1739, 1742 f; BeckOGK/Dörr,
BGB, Stand: 1. Juli 2016, § 839 Rn. 429).
Dem Bedenken der Revisionserwiderung, damit liege es in der Hand der
Eltern, die Haftung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe durch eine Ver-
tragsgestaltung mit dem Arbeitgeber beliebig zu erweitern, ist entgegenzuhal-
ten, dass die Befürchtung eines Missbrauchs die vollständige Versagung des
Ersatzes von Verdienstausfall nicht zu begründen vermag und der Geschädigte
nach § 254 BGB gehalten ist, seinen Schaden möglichst gering zu halten.
d) Ob die Bediensteten der Beklagten schuldhaft gehandelt haben, hat
das Berufungsgericht von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig offenge-
lassen. Die hierzu noch erforderlichen Feststellungen hat es nachzuholen.
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In diesem Zusammenhang wird das Berufungsgericht Folgendes zu be-
achten haben:
Mit der Nichterfüllung des Anspruchs auf einen Betreuungsplatz ist das
Verschulden der Bediensteten des Jugendhilfeträgers zwar nicht schon ab-
schließend - im Sinne einer unwiderleglichen Vermutung - festgestellt (so aber
wohl Grube in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 01/14, § 24 Rn. 48; Meysen, DJI
Impulse, 2/2012, 12, 15); solches gilt auch nicht in Anbetracht dessen, dass
zwischen der Verkündung des Kinderförderungsgesetzes am 15. Dezember
2008 (BGBl. I S. 2403) und dem Inkrafttreten von § 24 Abs. 2 SGB VIII nF am
1. August 2013 (Art. 10 Abs. 3 Kinderförderungsgesetz) ein Zeitraum von im-
merhin gut viereinhalb Jahren verstrichen ist (in diesem Sinne Rixen, NJW
2012, 2839, 2843 f; Mayer, VerwArch 2013, 344, 381).
Dem Geschädigten kommt jedoch eine Beweiserleichterung zustatten.
Nach der Rechtsprechung des Senats genügt für den grundsätzlich dem Ge-
schädigten obliegenden Nachweis des Verschuldens des Amtsträgers der Be-
weis eines Sachverhalts, der nach dem regelmäßigen Ablauf der Dinge die Fol-
gerung begründet, dass ein Beamter seine Amtspflicht schuldhaft verletzt hat;
auf dieser Grundlage besteht zugunsten des Geschädigten in Bezug auf das
Verschulden des Amtsträgers ein Beweis des ersten Anscheins (s. Senatsurtei-
le vom 25. Juni 1957 - III ZR 244/55, BeckRS 1957, 31206202 und vom 23. Mai
1960 - III ZR 110/59, VersR 1960, 905, 906; BeckOGK/Dörr, BGB, Stand:
1. Juli 2016, § 839 Rn. 446). Ein solcher Sachverhalt liegt vor, wenn der zu-
ständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner unbedingten Gewährleis-
tungspflicht, einen rechtzeitig beantragten Betreuungsplatz zur Verfügung zu
stellen, nicht nachkommt.
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Es ist daher Sache der Beklagten, den gegen sie streitenden Anscheins-
beweis zu erschüttern. Auf allgemeine finanzielle Engpässe kann sie sich hier-
bei nicht mit Erfolg berufen (so aber wohl Pauly/Beutel, DÖV 2013, 445, 451,
die unter Hinweis auf eine allgemeine finanzielle Notlage der Kommunen die
Vermutung eines unverschuldeten Unvermögens der kommunalen Leistungs-
träger befürworten), weil der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe
nach der gesetzgeberischen Entscheidung für eine ausreichende Anzahl an
Betreuungsplätzen grundsätzlich uneingeschränkt - insbesondere: ohne "Kapa-
zitätsvorbehalt" (BVerfG, NJW 2015, 2399, 2401 Rn. 43) - einstehen muss.
Soweit die Beklagte einen zur Erschütterung des Anscheinsbeweises
geeigneten Vortrag hält, ist sie im Bestreitensfalle gehalten, diesen zu bewei-
sen.
Gelingt die Erschütterung des Anscheinsbeweises, so ist es Aufgabe der
Klägerseite - unter Berücksichtigung einer sekundären Darlegungslast der Be-
klagten in Bezug auf Vorgänge aus ihrer Sphäre - zum Verschulden der Beklag-
ten vorzutragen und diesen Vortrag gegebenenfalls nachzuweisen.
5.
Nach alledem kommt ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen
die Beklagte aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) in
Betracht und kann das Berufungsurteil somit keinen Bestand haben (§ 562
Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie wegen ausstehender Feststellun-
gen zum Verschulden der Bediensteten der Beklagten und zum Umfang des
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erstattungsfähigen Schadens noch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO). Eigene Feststellungen hierzu kann das Revisi-
onsgericht nicht treffen.
Herrmann
Tombrink
Remmert
Reiter
Arend
Vorinstanzen:
LG Leipzig, Entscheidung vom 02.02.2015 - 7 O 1928/14 -
OLG Dresden, Entscheidung vom 26.08.2015 - 1 U 320/15 -