Urteil des BGH vom 23.02.2012

Muster, Gestaltungsspielraum, Gewerblicher Rechtsschutz, Gesamteindruck, Neuheit

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZR 68/11
vom
23. Februar 2012
in dem Rechtsstreit
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. Februar 2012 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Pokrant,
Dr. Kirchhoff, Dr. Koch und Dr. Löffler
beschlossen:
1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Ur-
teil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am
Main vom 20. Januar 2011 wird auf Kosten der Beklagten zu-
rückgewiesen.
2. Der Streitwert wird auf 200.000
€ festgesetzt.
Gründe:
I. Die Klägerin ist Inhaberin des am 23. April 2007 angemeldeten Sam-
melgeschmacksmusters Nr. 40702148, das unter Nr. 19 in fünf Ansichten ein
von der Klägerin als "Milla" bezeichnetes Muster für eine Gestaltung von
Schuhsohlen zeigt:
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Außerdem ist die Klägerin Inhaberin eines am 24. September 2007 an-
gemeldeten Sammelgeschmacksmusters Nr. 40704795, das unter Nr. 10 ein
von der Klägerin als "Milla 13" bezeichnetes Muster für eine Gestaltung von
Schuhen offenbart.
Die Beklagte vertreibt den nachfolgend abgebildeten Schuh:
Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagte mache mit diesem Schuh von
ihren Mustern "Milla" und "Milla 13" Gebrauch. Sie nimmt die Beklagte auf Un-
terlassung, Auskunftserteilung und Feststellung ihrer Schadensersatzpflicht in
Anspruch.
Die Beklagte ist dem entgegengetreten. Sie ist der Auffassung, den Ge-
schmacksmustern der Klägerin fehle die Neuheit, da deren Gestaltung durch
ein weiteres Sammelgeschmacksmuster der Klägerin - das Sammelge-
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schmacksmuster Nr. 40604684 - neuheitsschädlich vorweggenommen sei. Die-
ses Sammelgeschmacksmuster ist bereits am 12. September 2006 angemel-
det, am 16. Januar 2007 eingetragen und am 12. März 2007 veröffentlicht wor-
den und zeigt ein Muster für die Gestaltung von Schuhen. Ferner ist die Beklag-
te der Ansicht, die angegriffene Ausführungsform erwecke einen anderen Ge-
samteindruck als die Klagemuster.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Es hat eine Verletzung der
Geschmacksmuster "Milla" und "Milla 13" bejaht. Die Berufung ist im Wesentli-
chen ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht hat lediglich die Verurteilung
zur Auskunftserteilung nach einer entsprechenden Klagerücknahme teilweise
beschränkt (OLG Frankfurt am Main, GRUR-RR 2011, 165). Das Berufungsge-
richt hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Nichtzulas-
sungsbeschwerde der Beklagten, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt.
Mit der Revision möchte die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage
weiterverfolgen.
II. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte benutze das
Geschmacksmuster "Milla" der Klägerin ohne deren Zustimmung (§ 38 Abs. 1
Satz 1 GeschmMG). Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche auf
Unterlassung (§ 42 Abs. 1 Satz 1 GeschmMG) und Auskunftserteilung (§ 46
Abs. 1 GeschmMG) sowie ihr auf Feststellung der Schadensersatzpflicht (§ 42
Abs. 2 Satz 1 GeschmMG) gerichtetes Begehren hat es als begründet erachtet.
Dazu hat es ausgeführt.
Die Gestaltung der Schuhsohle "Milla" sei neu. Das dafür angemeldete
Geschmacksmuster Nr. 40702148 sei durch das bereits zuvor veröffentlichte
Geschmacksmuster Nr. 40604684 nicht neuheitsschädlich vorweggenommen.
Die Sohlen der Schuhe in Nr. 12 bis 15 der Voranmeldung wiesen zwar eben-
falls die charakteristischen Merkmale des Musters "Milla" auf. Zugunsten der
Klägerin gelte jedoch die Neuheitsschonfrist des § 6 Satz 1 GeschmMG. Dem
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stehe nicht entgegen, dass Gegenstand der Voranmeldung Schuhe seien, wäh-
rend das Klagemuster "Milla" lediglich Schuhsohlen betreffe.
Die Gestaltung der Sohle "Milla" verfüge auch über Eigenart. Die diesem
Muster am nächsten kommenden Gestaltungen vermittelten einen abweichen-
den Gesamteindruck.
Der von der Beklagten angebotene Schuh falle in den Schutzbereich des
Geschmacksmusters der Klägerin. Die angegriffene Ausführungsform weiche
vom Klagemuster im allein maßgeblichen Bereich der Innen- und Außensohle
nur in Einzelheiten ab, die auf die Gesamtanmutung keinen Einfluss hätten.
III. Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete Beschwerde
der Beklagten hat keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde macht ohne Erfolg geltend, die Revision sei zuzulas-
sen, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts hinsichtlich der Reichweite
der Neuheitsschonfrist aus § 6 Satz 1 GeschmMG grundsätzliche Bedeutung
habe und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung
des Revisionsgerichts erfordere.
a) Nach § 6 Satz 1 GeschmMG bleibt eine Offenbarung bei der Anwen-
dung des § 2 Abs. 2 und 3 GeschmMG (also bei der Prüfung von Neuheit und
Eigenart des Geschmacksmusters) unberücksichtigt, wenn ein Muster während
der zwölf Monate vor dem Anmeldetag durch den Entwerfer oder seinen
Rechtsnachfolger oder durch einen Dritten als Folge von Informationen oder
Handlungen des Entwerfers oder seines Rechtsnachfolgers der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht wurde.
b) Das Berufungsgericht hat angenommen, das für die Schuhsohle
"Milla" angemeldete Geschmacksmuster Nr. 40702148 sei durch das bereits
zuvor veröffentlichte Geschmacksmuster Nr. 40604684 nicht neuheitsschädlich
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vorweggenommen. Die Sohlen der Schuhe in Nr. 12 bis 15 der Voranmeldung
wiesen zwar ebenfalls die charakteristischen Merkmale des Musters "Milla" auf.
Zugunsten der Klägerin gelte jedoch die Neuheitsschonfrist des § 6 Satz 1
GeschmMG. Dem stehe nicht entgegen, dass Gegenstand der Voranmeldung
Schuhe seien, während das Klagemuster "Milla" lediglich Schuhsohlen betreffe.
Da nach § 1 Nr. 1 GeschmMG auch der Teil eines Erzeugnisses ein Muster
sein könne, sei die Neuheitsschonfrist auch auf diejenigen vorveröffentlichten
Erzeugnisse zu erstrecken, die erkennbar das Muster als Teil enthielten. Es sei
deshalb unschädlich, wenn sich die Erstveröffentlichung - wie im vorliegenden
Fall - nicht nur auf einen Teil eines aus mehreren Teilen bestehenden Ganzen
(hier Schuhe) erstrecke, während die Nachanmeldung nur ein Teil dieses Gan-
zen (hier Schuhsohlen) zum Gegenstand habe.
c) Die Beschwerde weist allerdings zutreffend darauf hin, dass die Frage,
inwieweit die Neuheitsschonfrist des § 6 Satz 1 GeschmMG eine sachliche
Identität des vorweggenommenen Musters und der späteren Anmeldung vo-
raussetzt, in der Literatur umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt ist. Ei-
nerseits wird die Auffassung vertreten, § 6 Satz 1 GeschmMG erfordere eine
begrenzte Sachidentität zwischen der Vorwegnahme und der späteren Anmel-
dung des Musters; lediglich unwesentliche Abweichungen, die den Rahmen
eines für den informierten Benutzer übereinstimmenden Gesamteindrucks nicht
überschritten, seien unschädlich (von Falckenstein in Eichmann/von Falcken-
stein, GeschmMG, 4. Aufl., § 6 Rn. 7; Beyerlein, in Günther/Beyerlein,
GeschmMG, 2. Aufl., § 6 Rn. 12 f.; Fischoeder in Stoeckel/Lüken, Handbuch
Marken- und Designrecht, 2. Aufl., S. 426). Andererseits wird das Erfordernis
einer Sachidentität zwischen vorweggenommenem und angemeldetem Muster
abgelehnt (Auler in Büscher/Dittmer/Schiwy, Gewerblicher Rechtsschutz Urhe-
berrecht Medienrecht, § 6 GeschmMG Rn. 2; vgl. zu Art. 7 GGV Ruhl, GGV,
2. Aufl., Art. 7 Rn. 53).
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Entgegen der Ansicht der Beschwerde ist diese Frage jedoch nicht klä-
rungsbedürftig. Es kann offenbleiben, ob im Streitfall eine begrenzte Sachidenti-
tät zwischen der Vorwegnahme und der späteren Anmeldung des Musters vor-
liegt, weil die Offenbarung der Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses
- wie das Berufungsgericht angenommen hat - die Offenbarung der Erschei-
nungsform seiner (erkennbaren) Teile einschließt (zustimmend Beyerlein in
Günther/Beyerlein aaO § 6 Rn. 6), oder ob dem entgegensteht - wie die Be-
schwerde meint - dass nach dem neuen Geschmacksmusterrecht ein Schutz
von Teilen eines Musters nicht mehr in Betracht kommt. Wäre durch das vor-
veröffentlichte Muster die Erscheinungsform der Schuhsohle nicht zugleich mit
der Erscheinungsform des Schuhs offenbart worden, hätte die Erscheinungs-
form der Schuhsohle - wie die Beschwerdeerwiderung zutreffend geltend macht
- auch nicht Eingang in den vorbekannten Formenschatz gefunden und müsste
daher jedenfalls wegen Fehlens der Vorbekanntheit bei der Prüfung der Neuheit
und Eigenart der Schuhsohle "Milla" unberücksichtigt bleiben.
Es kommt in keinem Fall darauf an, ob zwischen dem innerhalb der
Schonfrist des § 6 GeschmMG offenbarten Muster und dem später angemelde-
ten Muster sachliche Identität im Sinne eines übereinstimmenden Gesamtein-
drucks besteht. Besteht sachliche Identität, bleibt das früher offenbarte Muster
bei der Prüfung der Neuheit und Eigenart des später angemeldeten Musters
nach § 6 GeschmMG unberücksichtigt. Besteht keine sachliche Identität, steht
das früher offenbarte Muster der Neuheit und Eigenart des später angemelde-
ten Musters jedenfalls deshalb nicht entgegen, weil es einen anderen Gesamt-
eindruck hervorruft (vgl. von Falckenstein in Eichmann/von Falckenstein aaO;
Beyerlein, in Günther/Beyerlein aaO; Auler in Büscher/Dittmer/Schiwy aaO).
2. Die Beschwerde macht weiter ohne Erfolg geltend, die Revision sei je-
denfalls deshalb zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen,
weil das Berufungsgericht grundlegend verkannt habe, dass nach der Recht-
sprechung des Bundesgerichtshofs bei der Beurteilung des Schutzumfangs ei-
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nes Geschmacksmusters nach § 38 Abs. 2 Satz 2 GeschmMG zu berücksichti-
gen sei, dass eine hohe Musterdichte und damit ein kleiner Gestaltungsspiel-
raum des Entwerfers zu einem engen Schutzumfang des Musters führe, mit der
Folge, dass bereits geringe Gestaltungsunterschiede beim informierten Benut-
zer einen anderen Gesamteindruck hervorrufen könnten.
a) Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei
der Bestimmung des Schutzumfangs - ebenso wie bei der Bestimmung der Ei-
genart - der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers des Klagemusters bei
der Entwicklung seines Geschmacksmusters zu berücksichtigen. Dabei besteht
zwischen dem Gestaltungsspielraum des Entwerfers und dem Schutzumfang
des Musters eine Wechselwirkung. Eine hohe Musterdichte und damit ein klei-
ner Gestaltungsspielraum des Entwerfers führen zu einem engen Schutzum-
fang des Musters, mit der Folge, dass bereits geringe Gestaltungsunterschiede
beim informierten Benutzer einen anderen Gesamteindruck hervorrufen kön-
nen. Dagegen führt eine geringe Musterdichte und damit ein großer Gestal-
tungsspielraum des Entwerfers zu einem weiten Schutzumfang des Musters, so
dass selbst größere Gestaltungsunterschiede beim informierten Benutzer mög-
licherweise keinen anderen Gesamteindruck erwecken (vgl. BGH, Urteil vom
24. März 2011 - I ZR 211/08, GRUR 2011, 1112 Rn. 32 = WRP 2011, 1621
- Schreibgeräte; Urteil vom 7. April 2011 - I ZR 56/09, GRUR 2011, 1117 Rn. 35
= WRP 2011, 1463 - ICE; zu Art. 6 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 GGV BGH, Urteil vom
19. Mai 2010 - I ZR 71/08, GRUR 2011, 142 Rn. 17 f. = WRP 2011, 100 - Un-
tersetzer, mwN).
b) Entgegen der Darstellung der Beschwerde hat das Berufungsgericht
jedoch nicht festgestellt, dass bei der Gestaltung von Schuhsohlen ausweislich
der von der Klägerin vorgelegten Werbebroschüren eine erhebliche Musterdich-
te - und damit ein kleiner Gestaltungsspielraum des Entwerfers und enger
Schutzumfang des Klagemusters - besteht. Die Rüge der Beschwerde geht da-
her an der Sache vorbei.
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Das Berufungsgericht hat festgestellt, bei der Produktgruppe "Schuhsoh-
len" bestehe ein vergleichsweise großer Gestaltungsspielraum. Durch den Ver-
wendungszweck sei lediglich die Anpassung der Oberfläche der Schuhsohle an
die Anatomie des Fußes vorgegeben. Darüber hinaus seien der Phantasie der
Designer in Bezug auf Form, Farbe und Materialauswahl kaum Grenzen ge-
setzt. Von diesem Gestaltungsspielraum hätten Designer von Schuhen seit je-
her intensiven Gebrauch gemacht. Dies veranschaulichten bereits die von der
Klägerin vorgelegten Werbebroschüren für aktuelle Schuhe.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist demnach von einem
vergleichsweise großen Gestaltungsspielraum des Entwerfers und folglich von
einem entsprechend weiten Schutzumfang des Klagemusters auszugehen. So-
weit das Berufungsgericht aus seinen Feststellungen geschlossen hat, es be-
stehe eine erhebliche Musterdichte, hat es damit ersichtlich nur die von ihm
festgestellte erhebliche Mustervielfalt gemeint, die Ausdruck eines weiten Ge-
staltungsspielraums ist.
3. Die Beschwerde rügt vergeblich, das Berufungsgericht habe bei der
Prüfung, ob die Sohle des Schuhs der Beklagten in den Schutzbereich der
Schuhsohle "Milla" falle, wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Soh-
lengestaltungen außer Acht gelassen. Ein Zulassungsgrund ist insofern nicht
ersichtlich. Unabhängig davon hat der Senat die Rügen geprüft und nicht für
durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2
Halbsatz 2 ZPO abgesehen.
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IV. Danach ist die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
im Berufungsurteil auf Kosten der Beklagten (§ 97 Abs. 1 ZPO) zurückzuwei-
sen.
Bornkamm
Pokrant
Kirchhoff
Koch
Löffler
Vorinstanzen:
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 28.10.2009 - 2-6 O 250/09 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 20.01.2011 - 6 U 221/09 -
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