Urteil des BGH vom 28.01.2016

Gerichtliche Zuständigkeit, Verordnung, Eugh, Vergleich

ECLI:DE:BGH:2016:280116BIZR236.14.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZR 236/14
vom
28. Januar 2016
in dem Rechtsstreit
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Januar 2016 durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Büscher, die Richter Prof. Dr. Schaffert,
Dr. Kirchhoff, Prof. Dr. Koch und die Richterin Dr. Schwonke
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg - 3. Zivil-
senat - vom 18. September 2014 wird auf Kosten der Beklagten
zurückgewiesen.
Der Streitwert wird auf
1.650.000 € festgesetzt.
Gründe:
I. Die Parteien stellen Jeanshosen her und vertreiben sie. Die Klägerin ist
Inhaberin der deutschen Bildmarke Nr. 909 346 (Klagemarke 1)
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sowie der Gemeinschaftsbildmarken Nr. 65 342 (Klagemarke 2), Nr. 2 285 443
(Klagemarke 3) und Nr. 2 298 933 (Klagemarke 4).
Die Beklagte vertreibt über ihre Bekleidungsgeschäfte die Jeansmodelle
"AMISU" (in verschiedenen Ausführungen), "ANN CHRISTINE" und "FISHBO-
NE".
Die Klägerin erwarb in den Jahren 2009 und 2010 bei der Beklagten ins-
gesamt fünf Jeanshosen. Sie sieht in der Gestaltung der Gesäßtaschen dieser
Jeanshosen eine Verletzung der Klagemarken. Sie hat die Beklagte in der ge-
nannten Reihenfolge der Klagemarken mit der Klageschrift vom 9. September
2010 wegen der Jeanshosen des Modells "AMISU" in drei Ausführungen und
mit der Klageerweiterung vom 9. Februar 2011 wegen der Jeanshosen "ANN
CHRISTINE" und "FISHBONE" auf Unterlassung, Auskunft und Erstattung vor-
gerichtlicher Abmahnkosten in Anspruch genommen und die Feststellung der
Schadensersatzpflicht begehrt.
Die Parteien haben bereits am 21. Juli 2006 wegen von der Klägerin gel-
tend gemachten Verletzungen ihrer Marken durch die Beklagte einen englisch-
sprachigen, als "Settlement Agreement" bezeichneten Vergleich abgeschlos-
sen. In diesem Vergleich erkannte die Beklagte den Bestand der Klagemarken
und weiterer Marken der Klägerin sowie deren Bekanntheit an, verpflichtete sich
zur Unterlassung des Vertriebs bestimmter Jeansmodelle in Europa und ver-
sprach für den Fall von Zuwiderhandlungen eine Vertragsstrafe von 50 € pro
verkaufter Jeanshose. Im Vergleich war die Geltung belgischen Rechts und die
Zuständigkeit belgischer Gerichte vereinbart. Die Klägerin hat die Beklagte in
Bezug auf die Modelle "AMISU" in zwei Ausführungen, "FISHBONE" und "ANN
CHRISTINE" mit verfahrenseinleitendem Schriftsatz vom 21. September 2010
vor dem Handelsgericht Brüssel (Tribunal de Commerce de Bruxelles) auf Un-
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terlassung, Auskunftserteilung und Zahlung von Schadensersatz in Anspruch
genommen. Das Handelsgericht Brüssel hat die Beklagte mit Urteil vom 21. Ok-
tober 2011 zur Unterlassung und zur Zahlung einer
vorläufig mit 1.250.000 €
bemessenen Summe wegen des unter Verstoß gegen die in dem Vergleich
übernommenen Verpflichtungen erfolgten Verkaufs von 25.000 Jeanshosen
verurteilt. Das Verfahren ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.
Das Landgericht hat die Beklagte wegen einer Verletzung der Klagemar-
ke 1 antragsgemäß verurteilt. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblie-
ben. Das Berufungsgericht (OLG Hamburg, GRUR 2015, 272 = WRP 2015, 87)
hat die Revision nicht zugelassen. Mit der angestrebten Revision möchte die
Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache
hat keine grundsätzliche Bedeutung, die auf die Verletzung von Verfahrens-
grundrechten gestützten Rügen greifen nicht durch und die Fortbildung des
Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert auch
im Übrigen eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht (§ 543 Abs. 2 Satz 1
ZPO).
1. Die Beschwerde macht ohne Erfolg geltend, das Berufungsgericht ha-
be in zulassungsrelevanter Weise Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001
über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. Dezember 2000 (ABl. EG
Nr. L 12 vom 16. Januar 2001, S. 1 - nachfolgend Brüssel-I-VO) unrichtig an-
gewendet und zu Unrecht die Zulässigkeit der Klage betreffend die Jeansmo-
delle "ANN CHRISTINE" und "FISHBONE" bejaht.
a) Das Berufungsgericht hat angenommen, die auf § 14 Abs. 2 Nr. 2,
Abs. 5 MarkenG gestützte Klage sei hinsichtlich sämtlicher beanstandeter Ver-
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letzungsformen und hinsichtlich sämtlicher Anträge zulässig. Das zwischen den
Parteien geführte Verfahren vor dem Handelsgericht Brüssel, in welchem die
Klägerin Unterlassung und Schadensersatz wegen Vertriebs der Modelle
"AMISU" in zwei Ausführungen, "FISHBONE" und "ANN CHRISTINE" verlange,
begründe keine entgegenstehende Rechtshängigkeit im Sinne von Art. 27
Brüssel-I-VO. Auch wenn der Sachverhalt beider Verfahren jedenfalls teiliden-
tisch sei, weil tatsächliche Grundlage der Vertrieb identischer Jeansmodelle in
Deutschland sei, unterschieden sich die herangezogenen Rechtsvorschriften.
Im vorliegenden Fall gehe die Klägerin wegen der Verletzung von Markenrech-
ten auf deliktischer Grundlage gegen die Beklagte vor, im Brüsseler Verfahren
mache sie hingegen die Rechtsfolgen der Verletzung eines zwischen den Par-
teien geschlossenen Vertrages geltend. Die Gefahr widersprechender Ent-
scheidungen bestehe nicht, weil die Inanspruchnahme auf vertraglicher oder
deliktischer Grundlage sich wechselseitig nicht präjudiziere. Je nach Vertrags-
inhalt könne auch der Anspruchsgrund unterschiedlich ausgestaltet sein. Soweit
die Klägerin im vorliegenden Verfahren die Feststellung der deliktischen Scha-
densersatzpflicht dem Grund nach verlange, drohe auch deshalb kein dem
Brüsseler Verfahren widersprechendes Ergebnis, weil eine dort zugesprochene
Schadensersatzsumme im hiesigen Betragsverfahren mindernd berücksichtigt
werden könnte. Diese Erwägungen sind aus Rechtsgründen nicht zu beanstan-
den.
b) Die internationale Zuständigkeit richtet sich vorliegend nach der Brüs-
sel-I-Verordnung. Diese Verordnung ist zwar durch Art. 80 der Verordnung (EU)
Nr. 1215/2012 vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handels-
sachen (ABl. EU Nr. L 351 vom 20. Dezember 2012, S. 1) mit Wirkung ab dem
10. Januar 2015 aufgehoben worden. Nach Art. 66 Abs. 1 dieser Verordnung
gilt die neue Verordnung aber nur für Verfahren, die nach dem 9. Januar 2015
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eingeleitet worden sind. Da die Klägerin die Klage vorher erhoben hat, bestimmt
sich die internationale Zuständigkeit weiter nach der Brüssel-I-Verordnung.
c) Nach Art. 27 Abs. 1 Brüssel-I-VO setzt, wenn bei Gerichten verschie-
dener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben
Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfah-
ren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Ge-
richts feststeht. Der Streitgegenstandsbegriff des Art. 27 Brüssel-I-VO ist nicht
nach dem Prozessrecht der jeweiligen, in verschiedenen Mitgliedstaaten ange-
rufenen Gerichte, sondern unionsrechtsautonom auszulegen (zu dem gleichlau-
tenden Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ: EuGH, Urteil vom 8. Dezember 1987 - 144/86,
Slg. 1987, 4861 = NJW 1989, 665 Rn. 11 - Gubisch Maschinenfabrik; Urteil vom
6. Dezember 1994 - C-406/92, Slg. 1994, I-5439 = JZ 1995, 616 Rn. 30 - Tatry).
Die Auslegung des Begriffs "derselbe Anspruch" in Art. 21 EuGVÜ und Art. 27
Brüssel-I-VO hat sich daran zu orientieren, dass soweit wie möglich Parallel-
prozesse vor Gerichten verschiedener Vertragsstaaten vermieden werden, in
denen Entscheidungen ergehen können, die miteinander "unvereinbar" im Sin-
ne von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und Art. 34 Nr. 3 Brüssel-I-VO sind und deshalb in
dem jeweils anderen Staat nicht anerkannt werden (EuGH, NJW 1989, 665
Rn. 8 und 13 - Gubisch Maschinenfabrik). Für die Unvereinbarkeit zweier Ent-
scheidungen im Sinne des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ und Art. 34 Nr. 3 Brüssel-I-VO
und die Beurteilung, ob in zwei Prozessen derselbe Anspruch verfolgt wird,
kommt es deshalb nicht auf die "formale Identität" der Klagen, sondern darauf
an, ob der "Kernpunkt" beider Rechtsstreitigkeiten derselbe ist (EuGH,
NJW 1989, 665 Rn. 16 und 17 - Gubisch Maschinenfabrik; BGH, Urteil vom
6. Februar 2002 - VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795 f.). Zur Klärung der Frage,
ob eine solche Unvereinbarkeit vorliegt, ist zu prüfen, ob die betreffenden Ent-
scheidungen Rechtsfolgen haben, die sich gegenseitig ausschließen (EuGH,
Urteil vom 4. Februar 1988 - 145/86, Slg. 1988, 645 Rn. 22 - Hoffmann; Urteil
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vom 6. Juni 2002 - C-80/00, Slg. 2002, I-4995 = NJW 2002, 2087 Rn. 40
- Italian Leather).
d) Nach diesen Maßstäben ist das Berufungsgericht zu Recht davon
ausgegangen, dass das Verfahren, das die Klägerin bei dem Handelsgericht
Brüssel eingeleitet hat, nicht dieselben Ansprüche im Sinne von Art. 27 Brüssel-
I-VO betrifft, die Gegenstand des Streitfalls sind. Die in Belgien geltend ge-
machten Ansprüche beruhen auf einer Unterlassungserklärung der Beklagten
und ihrem Versprechen, bei Nichteinhaltung der Unterlassungsverpflichtung
Schadensersatz zu zahlen; die vor den deutschen Gerichten geltend gemach-
ten deliktischen Ansprüche beruhen auf dem Vorwurf markenverletzenden Ver-
haltens.
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union
liegt nach unionsrechtsautonomem Verständnis eine vertragliche Streitigkeit
vor, wenn zwischen den Parteien eine freiwillig eingegangene rechtliche Son-
derbeziehung besteht, die über die allgemeinen Verhaltensgebote des Delikts-
rechts hinausgeht. Der Begriff "Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag"
kann daher nicht so verstanden werden, dass er für eine Situation gilt, in der
keine von einer Partei gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Ver-
pflichtung vorliegt (vgl. zu der im Wesentlichen gleichlautenden Vorschrift in Art.
5 EuGVÜ EuGH, Urteil vom 17. Juni 1992 - C-26/91, Slg. 1992, I-3967 = JZ
1995, 90 Rn. 15 - Handte/TMCS; Urteil vom 27. Oktober 1998 - C-51/97,
Slg. 1998, 6511, TranspR 1999, 151 Rn. 17 - Réunion Européenne; Urteil vom
20. Januar 2005 - C-27/02, Slg. 2005, I-481 = NJW 2005, 811 Rn. 50 - Engler).
Dagegen sind deliktischer Natur nicht an einen Vertrag anknüpfende Klagen,
mit denen eine Schadenshaftung geltend gemacht wird, zu denen auch Unter-
lassungsklagen zählen (EuGH, Urteil vom 1. Oktober 2002 - C-167/00, Slg.
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2002, I-8111 = NJW 2002, 3617 Rn. 36 - Verein für Konsumenteninformati-
on/Karl Heinz Henkel).
bb) Ausgehend von dieser Rechtsprechung zu der im EuGVÜ und in der
Brüssel-I-VO angelegten Unterscheidung zwischen vertraglichen und delikti-
schen Ansprüchen (Art. 5 Nr. 1 und 3 der jeweiligen Verordnungen) können auf
einem Vergleich beruhende und damit vertragliche Ansprüche und deliktische
markenrechtliche Ansprüche nicht als derselbe Anspruch im Sinne von Art. 27
Brüssel-I-VO angesehen werden, auch wenn ihnen teilweise dasselbe tatsäch-
liche Geschehen zugrunde liegt.
(1) Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf abgestellt, dass die An-
spruchsvoraussetzungen für Ansprüche der Klägerin aus dem von den Parteien
im Jahr 2006 geschlossenen Vergleich und für deliktische Ansprüche der Klä-
gerin aus § 14 MarkenG nicht dieselben sind und die jeweiligen Unterlassungs-
und Schadensersatzansprüche ein unterschiedliches Schicksal haben können.
So stehen zwischen den Parteien im Brüsseler Verfahren - anders als im Streit-
fall - der Bestand der Klagemarke 1 und die Verwechslungsgefahr zwischen der
Klagemarke 1 und den angegriffenen Taschengestaltungen bei den Jeansmo-
dellen der Beklagten nicht in Streit. Dagegen wird dort über einen Verzicht der
Klägerin auf ihre Ansprüche aus dem Vergleich gestritten. Dies ist eine Frage,
die für den Streitfall ohne Bedeutung ist.
(2) Da die Anspruchsvoraussetzungen in den beiden von der Klägerin
eingeleiteten Verfahren nicht identisch sind, besteht keine Gefahr, dass vor Ge-
richten verschiedener Vertragsstaaten Entscheidungen ergehen, die miteinan-
der unvereinbar sind. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf abgestellt,
dass der vertragliche Anspruch aus Gründen des Vertragsrechts ein anderes
Schicksal haben kann als der deliktische Anspruch, um den es im Streitfall geht.
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Soweit die Gefahr besteht, dass die Beklagte aufgrund von Handlungen, die
sowohl als Verletzung der Pflichten aus dem Vergleichsvertrag als auch als
Verletzung der Markenrechte der Klägerin angesehen werden können, in bei-
den Verfahren zum Schadensersatz verurteilt wird, hat das Berufungsgericht
zutreffend darauf verwiesen, dass ein in Belgien rechtskräftig zugesprochener
Schadensersatzbetrag in Deutschland im Betragsverfahren berücksichtigt wer-
den kann.
e) Die Frage, ob auf demselben tatsächlichen Geschehen beruhende de-
liktische und vertragliche Ansprüche "denselben Anspruch" im Sinne von Art. 27
Brüssel-I-VO darstellen, hat der Gerichtshof der Europäischen Union bisher
nicht entschieden. Es besteht jedoch keine Veranlassung, die Revision mit dem
Ziel zuzulassen, diese Frage im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens
gemäß Art. 267 AEUV zu klären. Im Streitfall bestehen keine vernünftigen Zwei-
fel an der Auslegung des Unionsrechts, so dass ein Vorabentscheidungsersu-
chen an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht geboten ist (vgl. EuGH,
Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81, Slg. 1982, 3415 = NJW 1983, 1257,
1258 - C.I.L.F.I.T.).
2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2
Halbsatz 2 ZPO abgesehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Büscher
Schaffert
Kirchhoff
Koch
Schwonke
Vorinstanzen:
LG Hamburg, Entscheidung vom 10.05.2012 - 327 O 606/10 -
OLG Hamburg, Entscheidung vom 18.09.2014 - 3 U 96/12 -
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