Urteil des BGH vom 18.07.2012

Leitsatzentscheidung zu Reformatio in Peius, Einspruch, Teilrechtskraft, Vorläufige Festnahme, Entlastung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 603/11
vom
18. Juli 2012
Nachschlagewerk:
ja
BGHSt:
ja
Veröffentlichung:
ja
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OWiG § 74 Abs. 2
Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen Erscheinen in
der Hauptverhandlung entbundenen und unentschuldigt ausgebliebenen Be-
troffenen auch dann nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen, wenn das voraus-
gegangene Sachurteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenaus-
spruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen
worden war.
BGH, Beschl. vom 18. Juli 2012
– 4 StR 603/11 – OLG Celle
in der Bußgeldsache
gegen
wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Betroffenen am 18. Juli 2012 beschlossen:
Das Amtsgericht hat den Einspruch des nicht vom persönlichen
Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundenen und unent-
schuldigt ausgebliebenen Betroffenen auch dann nach § 74
Abs. 2 OWiG zu verwerfen, wenn das vorausgegangene Sach-
urteil vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenaus-
spruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu-
rückverwiesen worden war.
Gründe:
I.
1. Das Amtsgericht Hannover hat den Betroffenen durch Urteil vom
9. Dezember 2010 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchst-
geschwindigkeit zu einer Geldbuße von 160
€ verurteilt und ein Fahrverbot von
einem Monat festgesetzt. Dieselben Rechtsfolgen enthielt bereits der Bußgeld-
bescheid der Landeshauptstadt Hannover vom 19. Mai 2010. Auf die Rechts-
beschwerde des Betroffenen hat das Oberlandesgericht Celle durch Beschluss
vom 29. März 2011 das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufge-
hoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Entscheidung an die-
selbe Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen. Die weiter ge-
hende Rechtsbeschwerde hat das Oberlandesgericht als unbegründet verwor-
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fen. Das Amtsgericht Hannover hat den Einspruch des Betroffenen gegen den
Bußgeldbescheid der Landeshauptstadt Hannover vom 19. Mai 2010 durch
Urteil vom 25. August 2011 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Be-
troffene, der nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbun-
den war, trotz ordnungsgemäßer Ladung in der Hauptverhandlung unentschul-
digt ausgeblieben ist. Gegen dieses Urteil hat der Betroffene erneut Rechtsbe-
schwerde eingelegt. Er rügt mit einer unzulässigen (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 344
Abs. 2 StPO) Verfahrensrüge, dass sein Verteidiger fälschlich eine Abladung
zum Hauptverhandlungstermin am 25. August 2011 erhalten habe und auch er
deshalb nicht zum Termin erschienen sei. Mit der Sachrüge beanstandet er die
Verletzung des rechtlichen Gehörs.
2. Das Oberlandesgericht Celle möchte die Rechtsbeschwerde als un-
begründet verwerfen. Es ist der Ansicht, dass der Einspruch des Betroffenen,
der trotz Anordnung seines persönlichen Erscheinens in der Hauptverhandlung
ausbleibt, auch nach vorangegangener Teilaufhebung im Rechtsfolgenaus-
spruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden kann.
An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das
Oberlandesgericht durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom
2. November 2006
– 4 Ss OWi 742/06 – (VRS 112 [2007], 49) gehindert. Nach
Ansicht des Oberlandesgerichts Hamm kommt eine Verwerfung des Einspruchs
nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht in Betracht, wenn durch das Rechtsbeschwerde-
gericht nur der Rechtsfolgenausspruch eines Urteils mit den getroffenen Fest-
stellungen aufgehoben worden ist. Der Konflikt zwischen der zwingenden An-
ordnung des § 74 Abs. 2 OWiG und der eingetretenen Teilrechtskraft der
vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung sei dahin zu lösen, dass der Teil-
rechtskraft der Vorrang einzuräumen sei. Es sei auch nicht sachgerecht, eine
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Einspruchsverwerfung in solchen Fällen zuzulassen, in denen die rechtskräfti-
gen Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils nicht von dem Vorwurf des
Bußgeldbescheides abwichen, weil die Frage der Zulässigkeit der Einspruchs-
verwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG nur einheitlich und nicht fallbezogen beant-
wortet werden könne. Die möglichen praktischen Schwierigkeiten, die sich dar-
aus ergeben könnten, dass ein Betroffener die Durchführung der Hauptver-
handlung durch Abwesenheit unmöglich mache, könnten dadurch gelöst wer-
den, dass im Falle des unerlaubten Fernbleibens in der Hauptverhandlung ein
Verzicht auf die oder eine Verwirkung der Anwesenheitsrüge zu sehen sein
könnte.
Nach dieser Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Hamm wäre im
vorliegenden Fall das angefochtene Urteil auf die im Rahmen der Sachrüge von
Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Frage, ob das Amtsgericht den Um-
fang seiner Prüfungs- und Feststellungspflicht verkannt hat, aufzuheben. Das
vorlegende Oberlandesgericht Celle teilt diese Auffassung nicht. Auszugehen
sei davon, dass § 74 Abs. 2 OWiG zwingend und ohne Ausnahme die Verwer-
fung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid bei unentschuldigter Abwe-
senheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung vorschreibe. Mit der Neufas-
sung habe der Gesetzgeber
– gerade auch bei Abwesenheit des Betroffenen –
eine Vereinfachung des Verfahrens und damit eine Entlastung der Gerichte er-
reichen wollen, die nach der Zielrichtung des Gesetzentwurfs dringend geboten
erschien. Eine einschränkende Auslegung des § 74 Abs. 2 OWiG würde dieser
Zielrichtung zuwiderlaufen. Die bei vergleichbaren Verfahrenskonstellationen
geltenden strafprozessualen Regelungen geböten keine abweichende Beurtei-
lung. Die Vorschrift des § 74 Abs. 2 OWiG enthalte keine der Bestimmung in
§ 329 Abs. 1 Satz 2 StPO vergleichbare Regelung, wonach eine Verwerfung
der Berufung nach Zurückverweisung durch das Revisionsgericht unzulässig
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ist. Daraus könne der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber bei der
Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG unterschiedliche Regelungen treffen wollte.
Ferner könne nicht außer Acht gelassen werden, dass dem Amtsgericht
keine Zwangsmittel zur Verfügung stünden, um das Erscheinen des Betroffenen
vor Gericht zu erzwingen. Der Gesetzgeber habe bei der Neufassung des § 74
Abs. 2 OWiG die noch in § 74 Abs. 2 a.F. neben der Verwerfung des Ein-
spruchs vorgesehenen Möglichkeiten, die Vorführung des Betroffenen anzuord-
nen oder ohne den Betroffenen die Hauptverhandlung durchzuführen, ange-
sichts der zwingenden Regelung des § 74 Abs. 2 OWiG ausdrücklich für ent-
behrlich gehalten. § 230 Abs. 2 StPO, der die Vorführung eines Angeklagten im
Strafverfahren regele, sei nicht anwendbar. Verhaftung und vorläufige Fest-
nahme seien nach § 46 Abs. 3 Satz 1 OWiG unzulässig. Das Verfahren in Ab-
wesenheit des Betroffenen setze voraus, dass dieser auf seinen Antrag gemäß
§ 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbun-
den worden sei. Ein nicht mitwirkungsbereiter Betroffener hätte demnach die
Möglichkeit, das Verfahren auf unabsehbare Zeit zu verhindern, ohne dass eine
Verjährung der Ordnungswidrigkeit eintreten würde (§ 32 Abs. 2 OWiG). Dies
wäre nicht hinnehmbar. Deshalb werde die Verwerfung des Einspruchs bei un-
entschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen nach Aufhebung eines Sachurteils
durch das Rechtsbeschwerdegericht in vollem Umfang nach allgemeiner An-
sicht als zulässig angesehen. Die vorstehenden Argumente hätten aber glei-
chermaßen Geltung für Fälle der Aufhebung nur im Rechtsfolgenausspruch. Die
vom Oberlandesgericht Hamm aufgezeigte Lösung würde das Verfahren mit
neuen, vom Gesetzgeber mit der Neuregelung gerade nicht intendierten zusätz-
lichen Rechtsproblemen belasten.
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Dafür spreche auch, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 67
Abs. 2 OWiG die Möglichkeit der Beschränkung des Einspruchs auf bestimmte
Beschwerdepunkte geschaffen habe und es damit als rechtlich zulässig anse-
he, dass ein Gericht die Rechtsfolgen der Tat auf der Basis eines Schuld-
spruchs durch Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde festsetze. Die Tat-
sache, dass der Gesetzgeber die zwingende Regelung ohne Einschränkungen
eingeführt habe, obwohl ihm bekannt gewesen sei, dass unter der Geltung des
§ 74 Abs. 2 OWiG a.F. eine Verwerfung des Einspruchs bei vorangegangener
Teilaufhebung im Rechtsfolgenausspruch von den Oberlandesgerichten als un-
zulässig angesehen wurde, rechtfertige den Schluss, dass der Gesetzgeber das
mögliche Spannungsverhältnis zwischen einem Schuldspruch durch Urteil und
einer Rechtsfolgenentscheidung durch bereits vorher ergangenen Bußgeldbe-
scheid im Interesse der Entlastung der Gerichte bewusst in Kauf genommen
habe.
Das Oberlandesgericht hat die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem
Bundesgerichtshof vorgelegt und die Rechtsfrage wie folgt formuliert:
„Darf das Amtsgericht den Einspruch eines nicht vom persönlichen Er-
scheinen in der Hauptverhandlung entbundenen Betroffenen gegen den
Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch gemäß § 74
Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil
vom Rechtsbeschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgeho-
ben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Amtsgericht zu-
rückverwiesen worden war?“
3. Der Generalbundesanwalt hat angeregt, die Vorlegungsfrage, die
sich an der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 10. Dezember 1985
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– 1 StR 506/85, BGHSt 33, 394 orientiere, an die aktuelle Gesetzeslage anzu-
passen, nach der das Amtsgericht den Einspruch zu verwerfen „hat“. Er bean-
tragt zu entscheiden:
„Unter den Voraussetzungen des § 74 Abs. 2 OWiG hat das Amtsgericht
den Einspruch eines Betroffenen gegen einen Bußgeldbescheid auch
dann zu verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom Rechts-
beschwerdegericht nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und in
diesem Umfang an das Amtsgericht zurückverwiesen wurde.“
II.
1. Die Vorlegungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Vorschrift des § 121
Abs. 2 GVG ist gemäß § 79 Abs. 3 OWiG für die Rechtsbeschwerde im Sinne
des Ordnungswidrigkeitengesetzes entsprechend heranzuziehen (vgl. BGH,
Beschluss vom 20. März 1992
– 2 StR 371/91, BGHSt 38, 251, 254). Das Ober-
landesgericht Celle kann nicht seiner Absicht gemäß entscheiden, ohne von der
Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Hamm abzuweichen.
2. In der Vorlegungsfrage teilt der Senat die Auffassung des vorlegenden
Gerichts.
a) Der Betroffene ist nach § 73 Abs. 1 OWiG zum Erscheinen in der
Hauptverhandlung verpflichtet. Er kann aber nach § 73 Abs. 2 OWiG auf seinen
Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbun-
den werden, wenn er sich geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Haupt-
verhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklä-
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rung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Bleibt
der Betroffene ohne genügende Entschuldigung aus, obwohl er von der Ver-
pflichtung zum Erscheinen nicht entbunden war, hat das Gericht den Einspruch
ohne Verhandlung zur Sache durch Urteil zu verwerfen (§ 74 Abs. 2 OWiG).
Dem Ausbleiben des Betroffenen, wenn es nicht aus anderen Gründen genü-
gend entschuldigt ist, ist mangelndes Interesse an der Wahrnehmung seiner
Prozessrolle zu entnehmen; dies rechtfertigt angesichts der geringeren Bedeu-
tung von Bußgeldverfahren eine Verwerfung des Einspruchs.
Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des
Betroffenen ist nach der Neufassung des § 74 Abs. 2 OWiG durch Art. 1 Nr. 13
des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und an-
derer Gesetze (OWiGÄndG) vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 156, 157) zwin-
gend, ein Ermessensspielraum wird dem Gericht anders als nach der früheren
Rechtslage nicht mehr eingeräumt. Durch die Umwandlung der Vorschrift in
eine zwingende Regelung wollte der Gesetzgeber eine Vereinfachung des Ver-
fahrens und damit eine „dringend gebotene“ Entlastung der Gerichte erreichen
(BT-Drucks. 13/5418 S. 7, 9). Schon nach der früheren Rechtslage durfte aber
das Amtsgericht den Einspruch des trotz Anordnung des persönlichen Erschei-
nens in der Hauptverhandlung unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen ge-
gen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde auch dann noch nach § 74
Abs. 2 Satz 1 OWiG verwerfen, wenn das vorangegangene Sachurteil vom
Rechtsbeschwerdegericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen worden
war (BGH, Beschluss vom 10. Dezember 1985
– 1 StR 506/85, BGHSt 33,
394). Der Bundesgerichtshof hat dies seinerzeit daraus geschlossen, dass das
Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9. Dezem-
ber 1974 (BGBl. I S. 3393, 3533) lediglich § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO
in dem Sinne geändert hat, dass die Berufung oder der Einspruch nach diesen
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Vorschriften nicht mehr verworfen werden darf, wenn das Tatgericht erneut ver-
handelt, nachdem die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden ist.
Damit habe der Gesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu
§ 329 Abs. 1 StPO (Urteil vom 3. April 1962
– 5 StR 580/61, BGHSt 17, 188)
Rechnung tragen wollen. Weil § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO sowie § 74
Abs. 2 OWiG dasselbe Rechtsproblem beträfen, lasse sich schon aus dem Um-
stand, dass der Gesetzgeber diese Frage in § 329 Abs. 1 StPO und § 412 StPO
neu geregelt habe, während § 74 Abs. 2 OWiG
– bei Änderung in anderen
Punkten
– unverändert geblieben sei, der Schluss ziehen, dass er damit unter-
schiedliche Regelungen für Strafverfahren und Bußgeldverfahren habe treffen
wollen.
Diese Argumentation trifft auch nach der gegenwärtigen Rechtslage zu.
Zwar stand nach der früheren Fassung des § 74 Abs. 2 OWiG die Verwerfung
des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen im Ermessen
des Gerichts, während diese Folge nunmehr zwingend auszusprechen ist. Aus
der Tatsache, dass der Gesetzgeber bei dieser erneuten Änderung des § 74
Abs. 2 OWiG in Kenntnis der Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Verwerfung
nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht wiederum
keine dem § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechende Regelung in die Vorschrift
eingefügt hat, kann daher weiterhin geschlossen werden, dass die Verwerfung
des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach Aufhebung des ersten
Sachurteils in der Rechtsbeschwerdeinstanz und die Verwerfung der Berufung
bzw. des Einspruchs gegen einen Strafbefehl unterschiedlich geregelt bleiben
sollen (so auch OLG Köln, VRS 98 [2000], 217, 219; OLG Stuttgart, NJW 2002,
978, 979; OLG Brandenburg, VRS 117 [2009] 102; OLG Hamm, Beschluss vom
22. März 2012
– 3 RBs 68/12, veröffentlicht bei juris; zustimmend Seitz in
Göhler, OWiG, 16. Aufl., § 74 Rn. 24; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, Stand
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März 2011, § 74 Rn. 13; Bohnert, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 22; aA KK-Senge,
OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn. 21). Dies entspricht auch dem Ziel der Entlastung der
Gerichte durch das OWiGÄndG. Da es sich um eine bewusste Entscheidung
des Gesetzgebers handelt, die Verfahrensweise beim unentschuldigten Aus-
bleiben des Betroffenen im Bußgeldverfahren abweichend vom Strafverfahren
zu regeln, scheidet eine Anwendung der Regelungen der §§ 412, 329 Abs. 1
StPO über § 71 Abs. 1 OWiG aus.
b) Die Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Ausbleiben des
Betroffenen hat auch dann zu erfolgen, wenn das Rechtsbeschwerdegericht die
Sache nur im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben und an das Amtsgericht zu-
rückverwiesen hat.
aa) Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. § 74 Abs. 2 OWiG
ist durch das OWiGÄndG ohne Ausnahme zu einer zwingenden Regelung um-
gestaltet worden, obwohl der Gesetzgeber wusste, dass die Rechtsprechung
der Oberlandesgerichte eine Verwerfung des Einspruchs nach Teilaufhebung
durch das Rechtsbeschwerdegericht wegen der eingetretenen Teilrechtskraft
des Schuldspruchs als unzulässig ansah (vgl. OLG Köln, NStZ 1987, 372; KG,
VRS 72 [1987], 451; BayObLG VRS 80 [1991], 45). Die Änderung diente der
dringend gebotenen Entlastung der Justiz im Bereich der Ordnungswidrigkeiten
(BT-Drucks. 13/5418 S. 1). Zugleich wurde die zuvor in § 74 Abs. 2 Satz 2
OWiG a.F. gegebene Möglichkeit der Vorführung des Betroffenen oder der Ver-
handlung in seiner Abwesenheit abgeschafft (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9).
Der Gesetzgeber hat dafür angesichts der zwingenden Regelung keinen An-
wendungsbereich mehr gesehen, also auch nicht in den in den Materialien nicht
angesprochenen Fällen der Teilaufhebung und Zurückverweisung durch das
Rechtsbeschwerdegericht. Es ist deshalb ersichtlich auch in diesen Fällen da-
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von auszugehen, dass die Verwerfung des Einspruchs gesetzgeberisch gewollt
ist. Der Gesetzgeber hat dem Betroffenen in § 73 Abs. 1 OWiG das persönliche
Erscheinen in der Hauptverhandlung auferlegt. Lehnt es der Betroffene durch
sein unentschuldigtes Ausbleiben ab, zur Aufklärung beizutragen, ist das Ge-
richt im Interesse der Verfahrensökonomie von der Verpflichtung entbunden,
die Beschuldigung zu prüfen oder
– bei Rechtskraft des Schuldspruchs – zum
Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln. Das Interesse des Betroffenen und
der Allgemeinheit an einer inhaltlich möglichst gerechten Entscheidung tritt in
diesen Fällen hinter der Verfahrensökonomie zurück (vgl. zur alten Rechtslage
Meurer, NStZ 1987, 540).
bb) Der Eintritt der Teilrechtskraft des Schuldspruchs bei Aufhebung nur
des Rechtsfolgenausspruchs durch das Rechtsbeschwerdegericht steht der
Verwerfung des Einspruchs in der neuen Verhandlung nicht entgegen.
Wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Urteils sind der rechts-
kräftige Schuldspruch und die ihm zugrunde liegenden Feststellungen zwar im
Regelfall Grundlage des weiteren Verfahrens und wesentlicher Teil des ab-
schließenden Urteils (BGH, Urteil vom 14. Januar 1982
– 4 StR 642/81, BGHSt
30, 340, 342). Dies folgt aus dem Gebot der inneren Einheit und der damit not-
wendig verbundenen Widerspruchsfreiheit der Entscheidung, das unabhängig
davon Gültigkeit beansprucht, ob ein Urteil über die Schuld- und Rechtsfolgen-
frage gleichzeitig entscheidet oder nicht. Durch die Verwerfung des Einspruchs
wird dieser Grundsatz aber nicht berührt, denn durch sie wird der einheitliche
Inhalt des Bußgeldbescheids wiederhergestellt. Durch die Verwerfung des Ein-
spruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG wird der Bußgeldbescheid insgesamt rechts-
kräftig (§ 84 Abs. 1 OWiG).
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Der Grundsatz der reformatio in peius gebietet es nicht, einen dem Be-
troffenen günstigeren, in Folge der nur teilweisen Urteilsaufhebung rechtskräfti-
gen Schuldspruch aufrecht zu erhalten. Dieser Grundsatz gilt im Ordnungswid-
rigkeitenrecht ohnehin nur eingeschränkt. § 72 Abs. 3 Satz 2 OWiG verbietet
dem Gericht nur die Festsetzung einer nachteiligeren Rechtsfolge als im Buß-
geldbescheid festgesetzt, wenn es durch Beschluss entscheidet. Im Rechtsbe-
schwerdeverfahren gilt der Grundsatz des § 358 Abs. 2 StPO, der den Betroffe-
nen vor einer Verschlechterung des Rechtsfolgenausspruchs, nicht aber des
Schuldspruchs schützt (vgl. Seitz, aaO, § 79 Rn. 37; KK-Kuckein, StPO,
6. Aufl., § 358 Rn. 18). So kann das Revisions- oder das Rechtsbeschwerdege-
richt auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen den
Schuldspruch verbösern, ohne gegen das Verbot der reformatio in peius zu
verstoßen.
Vor einer möglichen Verschlechterung des Schuldspruchs ist der Be-
troffene durch den Eintritt von Teilrechtskraft nicht in jedem Fall geschützt. Bei
Vorliegen besonderer Umstände kann es sich ergeben, dass zwischen den Er-
örterungen zur Schuld- und Straffrage eine so enge Verbindung besteht, dass
eine getrennte Überprüfung des angefochtenen Teils nicht möglich ist, ohne
dass der nicht angefochtene Teil mitberührt wird (BGH, Beschluss vom
21. Oktober 1980
– 1 StR 262/80, BGHSt 29, 359, 364; Urteil vom 22. April
1993
– 4 StR 153/93, BGHSt 39, 208, 209; KK-Paul, aaO, § 318 Rn. 7a mwN).
Eine Beschränkung des Rechtsmittels auf den Strafausspruch kann zudem
dann unwirksam sein, wenn die Feststellungen zur Tat so mangelhaft sind,
dass sie keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung über die Rechts-
folge sein können (BGH, Urteil vom 5. November 1984
– AnwSt (R) 11/84,
BGHSt 33, 59). Die Teilrechtskraft des Schuldspruchs führt somit nicht in jedem
Fall zu dessen Unabänderlichkeit. Der horizontalen Teilrechtskraft kommt nicht
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die volle Wirkung der Rechtskraft zu (LR-Gössel, StPO, 25. Aufl., § 318 Rn. 30,
Rn. 126 Fn. 377).
Dem teilrechtskräftigen Schuldspruch kommt im Bußgeldverfahren auch
sonst keine unabänderliche Bestandsgarantie zu. So kann das Gericht in jeder
Lage das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG einstellen und somit die Teilrechts-
kraft durchbrechen.
Es werden nach alledem keine unabänderlichen Verfahrensgrundsätze
durchbrochen, wenn bei verschuldetem Ausbleiben des Betroffenen in der
Hauptverhandlung durch Einspruchsverwerfung ein teilrechtskräftiger, gegen-
über dem Bußgeldbescheid günstigerer oder ungünstigerer Schuldspruch ent-
fällt.
c) Der Senat entnimmt der vom Gesetzgeber geschaffenen Regelung
der ausnahmslosen Verwerfung des Einspruchs bei unentschuldigtem Nicht-
erscheinen des nicht von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen ent-
bundenen Betroffenen in der Hauptverhandlung, dass ihm dann auch die
Rechtswohltat des Verschlechterungsverbots hinsichtlich des Rechtsfolgenaus-
spruchs nicht zukommt. Das Verschlechterungsverbot ist kein übergeordneter
allgemeiner Verfahrensgrundsatz, sondern gilt im Rechtsbeschwerdeverfahren
aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 358 Abs. 2
StPO. Der Gesetzgeber konnte durch die Anordnung der Verwerfung des
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Einspruchs diese Regelung konkludent auf die Fälle beschränken, in denen das
Gericht nach einer Urteilsaufhebung durch das Rechtsbeschwerdegericht eine
neue Sachentscheidung trifft.
Mutzbauer
Roggenbuck
Schmitt
Bender
Quentin