Urteil des BGH vom 19.04.2016

Abhängigkeit, Unterbringung, Leistungsfähigkeit, Behandlung

ECLI:DE:BGH:2016:190416B3STR566.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 566/15
vom
19. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerde-
führers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 19. April
2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 analog StPO einstimmig be-
schlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Koblenz vom 27. April 2015
a) dahin ergänzt, dass
aa) der Angeklagte im Übrigen freigesprochen wird; insoweit
fallen
die
Kosten
des
Verfahrens
und
die
ausscheidbaren notwendigen Auslagen des Angeklagten
der Staatskasse zur Last,
bb) die in den Niederlanden erlittene Auslieferungshaft im
Verhältnis 1:1 auf die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe
angerechnet wird,
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das
Landgericht von der Unterbringung des Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt abgesehen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer
Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten
des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
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Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Bandenhandels mit Betäu-
bungsmitteln in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren
verurteilt. Die dagegen gerichtete, auf die Rügen der Verletzung formellen und
materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge in
dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das
Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat rechtsfehlerhaft von einem Teilfreispruch abge-
sehen, soweit es sich in acht der dem Angeklagten zur Last gelegten Fälle des
Bandenhandels mit Betäubungsmitteln (Fälle 184, 229, 262, 299, 311, 344, 389
und 399 der Anklageschrift) nicht von dessen Täterschaft zu überzeugen
vermocht hat (UA S. 49). Dem Angeklagten waren mit der Anklage 685 tatmehr-
heitlich begangene Fälle des Bandenhandels mit Betäubungsmitteln vorge-
worfen worden. Dem ist die Strafkammer im Eröffnungsbeschluss gefolgt.
Insoweit ist dem Angeklagten unter den Ziffern 184, 229, 262, 299, 311, 344,
389 und 399 zur Last gelegt worden, am 19. September 2013 sowie am 2., 7.,
11., 12., 15., 20. und 21. Oktober 2013 im Zusammenwirken mit den drei
Mitangeklagten jeweils 1 bis 10 Gramm der unter den Bezeichnungen "Göttin
Astarte" und "CM 21" vertriebenen Substanzen, die den in der Anlage II zu § 1
Abs. 1 BtMG genannten Wirkstoff AKB-48F enthielten, an verschiedene
Abnehmer veräußert zu haben. Diese Vorwürfe hat das Landgericht nach der
Beweisaufnahme als nicht erwiesen angesehen. Es hätte den Angeklagten
deshalb, um den Eröffnungsbeschluss zu erschöpfen, ohne Rücksicht auf die
dem Urteil unter dem Gesichtspunkt der Bewertungseinheit zugrunde gelegte
konkurrenzrechtliche Beurteilung der Verkaufsfälle als Bandenhandel mit
Betäubungsmitteln in zwei Fällen teilweise freisprechen müssen (vgl. BGH,
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Urteil vom 2. Februar 2012 - 3 StR 321/11, NStZ 2012, 337, 338 mwN;
Beschluss vom 15. Oktober 2014 - 3 StR 321/14, juris Rn. 2).
2. Die Strafkammer hat außerdem entgegen der Vorschrift des § 51
Abs. 4 Satz 2 StGB keine Bestimmung über den Maßstab getroffen, nach dem
die von dem Angeklagten in den Niederlanden erlittene Freiheitsentziehung auf
die gegen ihn erkannte Gesamtfreiheitsstrafe anzurechnen ist. Diese
Entscheidung muss in der Urteilsformel zum Ausdruck kommen (vgl. BGH,
Beschluss vom 22. Juli 2003 - 5 StR 162/03, NStZ-RR 2003, 364). Da nach der
Sachlage nur eine Anrechnung im Maßstab 1:1 in Betracht kommt, hat der
Senat den grundsätzlich dem Tatrichter obliegenden Ausspruch über die
Festsetzung des Anrechnungsmaßstabs nachgeholt und die Urteilsformel
entsprechend § 354 Abs. 1 StPO ergänzt (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom
22. Juli 2003 - 5 StR 162/03, NStZ-RR 2003, 364; vom 13. August 2009 - 3 StR
255/09, NStZ-RR 2009, 370).
3. Die Entscheidung des Landgerichts, von der Unterbringung des Ange-
klagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, hält rechtlicher Überprüfung
nicht stand.
a) Die Strafkammer hat ihre Entscheidung unter Bezugnahme auf die
Ausführungen des in der Hauptverhandlung gehörten psychiatrischen Sachver-
ständigen damit begründet, dass der Angeklagte zwar an einer Abhängigkeit
von Cannabinoiden leide (ICD-10 F12.2), ein Hang, psychotrop wirkende
Substanzen im Übermaß zu sich zu nehmen, jedoch nicht festzustellen sei.
Voraussetzung für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 StGB sei,
dass die berufliche, soziale und gesundheitliche Leistungsfähigkeit des Ange-
klagten durch seinen Betäubungsmittelkonsum nachhaltig beeinträchtigt werde.
Eine nachhaltige Beeinträchtigung könne im Hinblick auf die Komplexität des
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Tatgeschehens und die herausgehobene organisatorische Position des Ange-
klagten in der Tätergruppe indes ausgeschlossen werden. Im Übrigen sei
mangels jeglicher Motivation des Angeklagten, eine Therapie zu durchlaufen,
nicht davon auszugehen, dass eine Entziehungsbehandlung innerhalb von zwei
Jahren abgeschlossen werden könne.
b) Diese äußerst knappen Ausführungen lassen zunächst besorgen,
dass das Landgericht die Voraussetzungen eines Hanges gemäß § 64 Satz 1
StGB verkannt hat. Ein solcher liegt nicht nur - wovon die Strafkammer
möglicherweise ausgegangen ist - im Falle einer chronischen, auf körperlicher
Sucht beruhenden Abhängigkeit vor; vielmehr genügt bereits eine
eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung
erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich
zu nehmen, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss (BGH,
Beschlüsse vom 4. April 1995 - 4 StR 95/95, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 5;
vom 13. Januar 2011 - 3 StR 429/10, juris Rn. 4). Im Hinblick auf die von der
Strafkammer
als
gegeben
angesehene Abhängigkeitserkrankung
des
Angeklagten liegt es indes ausgesprochen nahe, dass der Angeklagte eine
derartige Neigung hat. Dem steht auch nicht ohne Weiteres entgegen, dass er
trotz seiner Abhängigkeit von Cannabinoiden in der Lage war, die abgeurteilten
Straftaten zu begehen.
Die Beeinträchtigung der Gesundheit oder der Arbeits- und Leistungs-
fähigkeit durch den Rauschmittelkonsum indiziert zwar einen Hang im Sinne
des § 64 Satz 1 StGB, ihr Fehlen schließt diesen indes nicht aus (BGH, Urteil
vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13, juris Rn. 10; Beschluss vom 3. Februar 2016
- 1 StR 646/15, juris Rn. 11).
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Darüber hinaus steht auch die aktuelle Therapieunwilligkeit des Ange-
klagten seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht notwendig
entgegen. Therapieunwilligkeit kann zwar im Einzelfall gegen die Erfolgs-
aussicht der Maßregel (§ 64 Satz 2 StGB) sprechen. Liegt sie vor, so ist es
jedoch geboten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit
und aller sonstigen maßgeblichen Umstände die Gründe des Motivations-
mangels festzustellen und zu prüfen, ob eine Therapiebereitschaft für eine
erfolgversprechende Behandlung geweckt werden kann; denn gerade auch
darin kann das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen (vgl. BGH,
Beschlüsse vom 19. März 2004 - 2 StR 513/03, NStZ-RR 2004, 263; vom
15. Dezember 2009 - 3 StR 516/09, NStZ-RR 2010, 141).
c) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen nicht
von vornherein ausscheidet, muss über die Anordnung der Unterbringung des
Angeklagten in einer Entziehungsanstalt deshalb - wiederum unter Hinzu-
ziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) - neu verhandelt und
entschieden werden. Dem steht nicht entgegen, dass nur der Angeklagte
Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April
1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9; Beschlüsse vom 19. Dezember 2007 - 5 StR
485/07, NStZ-RR 2008, 107; vom 27. März 2008 - 3 StR 38/08, StV 2008, 405,
406). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch
nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. dazu BGHSt 38, 362 f.).
4. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisions-
rechtfertigung keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Ergänzend zu der Stellungnahme des Generalbundesanwalts bemerkt der
Senat:
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Der Einwand des Beschwerdeführers, dass die - sachverständig
beratene - Strafkammer sich bei der Feststellung der Wirkstoffkonzentration der
von dem Angeklagten vertriebenen Betäubungsmittel in Widerspruch zu dem
von ihr als erwiesen angesehenen Erfahrungssatz gesetzt habe, wonach eine
valide Hochrechnung aus einer Teilmenge eines Betäubungsmittels auf die
Zusammensetzung und den Wirkstoffgehalt der Gesamtmenge nur vorge-
nommen werden könne, wenn mindestens 10 bis 30% der gesamten Menge
untersucht worden seien, geht fehl. Den Urteilsgründen lässt sich entnehmen,
dass dieser Erfahrungssatz dem Gutachten des Sachverständigen zufolge der
von der Strafkammer vorgenommenen Hochrechnung nicht entgegen stand,
weil der Angeklagte und seine Mittäter die von ihnen bezogenen Substanzen
zunächst vermischt und aus der auf diese Weise gewonnenen Gesamtmenge
die von ihnen vertriebenen 1- bis 3-Gramm-Päckchen befüllt hatten (UA S. 67).
Becker Schäfer Gericke
Spaniol Tiemann
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