Urteil des BGH vom 19.04.2016

Unterbringung, Leistungsfähigkeit, Abhängigkeit, Persönlichkeitsstörung

ECLI:DE:BGH:2016:190416B3STR48.16.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 48/16
vom
19. April 2016
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung der Beschwerde-
führer und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 19. April
2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 analog StPO einstimmig
beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Koblenz vom 18. Mai 2015
a) dahin ergänzt, dass
aa) die Angeklagten im Übrigen freigesprochen werden;
insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die
ausscheidbaren notwendigen Auslagen der Angeklagten
der Staatskasse zur Last,
bb) die vom Angeklagten B. in den Niederlanden
erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 auf die
gegen ihn erkannte Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet
wird,
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das
Landgericht von der Unterbringung der Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt abgesehen hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer
Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten
der
Rechtsmittel,
an
eine
andere
Strafkammer
des
Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.
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Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen Bandenhandels mit
Betäubungsmitteln in zwei Fällen verurteilt, den Angeklagten K. zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten, den Ange-
klagten B. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Die
dagegen gerichteten, auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen
Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben jeweils mit der Sachrüge
in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind
die Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat jeweils rechtsfehlerhaft von einem Teilfreispruch
abgesehen, soweit es sich in acht der den Angeklagten zur Last gelegten Fälle
des Bandenhandels mit Betäubungsmitteln (Fälle 184, 229, 262, 299, 311, 344,
389 und 399 der Anklageschrift) nicht von deren Täterschaft zu überzeugen
vermocht hat (UA S. 39 f.). Den Angeklagten waren mit der Anklage jeweils 685
tatmehrheitlich begangene Fälle des Bandenhandels mit Betäubungsmitteln
vorgeworfen worden. Dem ist die Strafkammer im Eröffnungsbeschluss gefolgt.
Insoweit ist den Angeklagten unter den Ziffern 184, 229, 262, 299, 311, 344,
389 und 399 jeweils zur Last gelegt worden, am 19. September 2013 sowie am
2., 7., 11., 12., 15., 20. und 21. Oktober 2013 im Zusammenwirken mit den zwei
Mitangeklagten jeweils 1 bis 10 Gramm der unter den Bezeichnungen "Göttin
Astarte" und "CM 21" vertriebenen Substanzen, die den in der Anlage II zu § 1
Abs. 1 BtMG genannten Wirkstoff AKB-48F enthielten, an verschiedene
Abnehmer veräußert zu haben. Diese Vorwürfe hat das Landgericht nach der
Beweisaufnahme als nicht erwiesen angesehen. Es hätte die Angeklagten
deshalb, um den Eröffnungsbeschluss zu erschöpfen, ohne Rücksicht auf die
dem Urteil unter dem Gesichtspunkt der Bewertungseinheit zugrunde gelegte
konkurrenzrechtliche Beurteilung der Verkaufsfälle als Bandenhandel mit
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Betäubungsmitteln in zwei Fällen teilweise freisprechen müssen (vgl. BGH,
Urteil vom 2. Februar 2012 - 3 StR 321/11, NStZ 2012, 337, 338 mwN;
Beschluss vom 15. Oktober 2014 - 3 StR 321/14, juris Rn. 2).
2. Im Hinblick auf den Angeklagten B. hat die Strafkammer
entgegen der Vorschrift des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB keine Bestimmung über
den Maßstab getroffen, nach dem die von dem Angeklagten in den
Niederlanden erlittene Freiheitsentziehung auf die gegen ihn erkannte Gesamt-
freiheitsstrafe anzurechnen ist. Diese Entscheidung muss in der Urteilsformel
zum Ausdruck kommen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juli 2003 - 5 StR 162/03,
NStZ-RR 2003, 364). Da nach der Sachlage nur eine Anrechnung im Maßstab
1:1 in Betracht kommt, hat der Senat den grundsätzlich dem Tatrichter
obliegenden Ausspruch über die Festsetzung des Anrechnungsmaßstabs
nachgeholt und die Urteilsformel entsprechend § 354 Abs. 1 StPO ergänzt (vgl.
dazu BGH, Beschlüsse vom 22. Juli 2003 - 5 StR 162/03, NStZ-RR 2003, 364;
vom 13. August 2009 - 3 StR 255/09, NStZ-RR 2009, 370).
3. Die Entscheidung des Landgerichts, von der Unterbringung der Ange-
klagten in einer Entziehungsanstalt abzusehen, hält rechtlicher Überprüfung
nicht stand.
a) Die Strafkammer hat ihre Entscheidung unter Bezugnahme auf die
Ausführungen des in der Hauptverhandlung gehörten psychiatrischen Sachver-
ständigen damit begründet, dass bei den Angeklagten ein Hang, psychotrop
wirkende Substanzen im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht festzustellen sei.
Voraussetzung für die Annahme eines Hanges im Sinne des § 64 Satz 1 StGB
sei, dass die berufliche, soziale und gesundheitliche Leistungsfähigkeit des
Angeklagten durch seinen Betäubungsmittelkonsum nachhaltig beeinträchtigt
werde. Die "täglichen Aktivitäten bei der Abwicklung der eingehenden Bestel-
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lungen", die der Angeklagte B. "ohne Beeinträchtigung durch seinen
Betäubungsmittelkonsum" ausgeführt habe, ließen die erforderliche nachhaltige
Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit indes ausgeschlossen erscheinen.
Eine nachhaltige Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Angeklagten
K. könne "im Hinblick auf die Komplexität des Tatgeschehens" und die
"Position", die er "in der Gruppierung eingenommen" habe, ebenfalls ausge-
schlossen werden. Bei ihm sei im Übrigen mangels jeglicher Motivation, eine
Therapie zu durchlaufen, nicht davon auszugehen, dass eine Entziehungs-
behandlung innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen werden könne.
b) Diese äußerst knappen Ausführungen lassen besorgen, dass das
Landgericht die Voraussetzungen eines Hanges gemäß § 64 Satz 1 StGB
verkannt hat. Ein Hang im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur - wovon die
Strafkammer möglicherweise ausgegangen ist - im Falle einer chronischen, auf
körperlicher Sucht beruhenden Abhängigkeit vor; vielmehr genügt bereits eine
eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung
erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich
zu nehmen, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss (BGH,
Beschlüsse vom 4. April 1995 - 4 StR 95/95, BGHR StGB § 64 Abs. 1 Hang 5;
vom 13. Januar 2011 - 3 StR 429/10, juris Rn. 4). Insoweit sind die vom
Landgericht getroffenen Feststellungen unzureichend.
Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit der Angeklagten hat die
Strafkammer ausgeführt, dass der an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung
(ICD-10 F60.2) leidende Angeklagte B. sich dahin eingelassen habe,
seit seinem 16. Lebensjahr regelmäßig Amphetamin konsumiert und seinen
Konsum während der Tatzeit auf bis zu 3 Gramm täglich gesteigert zu haben,
an den Wochenenden auch auf bis zu 5 Gramm täglich. Außerdem habe er
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gelegentlich Kokain, LSD sowie zweimal im Monat Ecstasy und auch Pilze
probiert. Hinsichtlich des Angeklagten K. hat sie ausgeführt, dass er an
einer "Persönlichkeitsstörung aus dem dissozialen Formenkreis" leide, die aber
im Hinblick auf die §§ 20, 21 StGB ebenso wenig bedeutsam sei wie sein
"etwaiger Betäubungsmittelkonsum". Das lässt darauf schließen, dass die
Strafkammer das Ausmaß des Betäubungsmittelkonsums der Angeklagten im
Hinblick auf § 64 Satz 1 StGB nicht weiter hinterfragt und aufgeklärt hat, weil
sie ihm in Anbetracht des weitgehend intakten Leistungsverhaltens der
Angeklagten rechtsfehlerhaft von vornherein keine Relevanz für diese Vorschrift
beigemessen hat. Sie hat dabei verkannt, dass einer Neigung der Angeklagten,
Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht ohne Weiteres entge-
gensteht, dass sie gleichwohl in der Lage waren, die abgeurteilten Straftaten zu
begehen. Die Beeinträchtigung der Gesundheit oder der Arbeits- und
Leistungsfähigkeit durch den Rauschmittelkonsum indiziert zwar einen Hang im
Sinne des § 64 Satz 1 StGB, ihr Fehlen schließt diesen indes nicht aus (BGH,
Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13, juris Rn. 10; Beschluss vom 3. Februar
2016 - 1 StR 646/15, juris Rn. 11).
c) Darüber hinaus steht auch die aktuelle Therapieunwilligkeit des
Angeklagten K. seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht
notwendig entgegen. Mangelnde Therapiebereitschaft kann zwar im Einzelfall
gegen die Erfolgsaussicht der Maßregel (§ 64 Satz 2 StGB) sprechen. Liegt sie
vor, so ist es jedoch geboten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täter-
persönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände die Gründe des
Motivationsmangels festzustellen und zu prüfen, ob eine Therapiewilligkeit für
eine erfolgversprechende Behandlung geweckt werden kann; denn gerade
auch darin kann das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen (vgl.
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BGH, Beschlüsse vom 19. März 2004 - 2 StR 513/03, NStZ-RR 2004, 263; vom
15. Dezember 2009 - 3 StR 516/09, NStZ-RR 2010, 141).
d) Da das Vorliegen der übrigen Unterbringungsvoraussetzungen im
Hinblick auf die Angeklagten nicht von vornherein ausscheidet, muss über ihre
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt deshalb - wiederum unter Hinzu-
ziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) - neu verhandelt und
entschieden werden. Dem steht nicht entgegen, dass nur die Angeklagten
Revision eingelegt haben (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April
1990 - 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9; Beschlüsse vom 19. Dezember 2007 - 5 StR
485/07, NStZ-RR 2008, 107; vom 27. März 2008 - 3 StR 38/08, StV 2008, 405,
406). Sie haben die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch
nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. dazu BGHSt 38, 362 f.).
4. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisions-
rechtfertigungen keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Ergänzend zu der Stellungnahme des Generalbundesanwalts bemerkt der
Senat:
Die Einwände der Beschwerdeführer, dass die - auch insoweit sachver-
ständig beratene - Strafkammer sich bei der Feststellung der Wirkstoffkonzen-
tration der von den Angeklagten vertriebenen Betäubungsmittel in Widerspruch
zu dem von ihr als erwiesen angesehenen Erfahrungssatz gesetzt habe,
wonach eine valide Hochrechnung aus einer Teilmenge eines Betäubungs-
mittels auf die Zusammensetzung und den Wirkstoffgehalt der Gesamtmenge
nur vorgenommen werden könne, wenn mindestens 10 bis 30% der gesamten
Menge untersucht worden seien, geht fehl. Den Urteilsgründen lässt sich
entnehmen, dass dieser Erfahrungssatz dem Gutachten des Sachverständigen
zufolge der von der Strafkammer vorgenommenen Hochrechnung nicht
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entgegen stand, weil die Angeklagten und ihre Mittäter die von ihnen bezo-
genen Substanzen zunächst vermischt und aus der auf diese Weise gewon-
nenen Gesamtmenge die von ihnen vertriebenen 1- bis 3-Gramm-Päckchen
befüllt hatten (UA S. 58).
Becker Schäfer Gericke
Spaniol Tiemann