Urteil des BGH vom 05.03.2015

Grad des Verschuldens, Schmerzensgeld, Entschädigung, Einfluss, Abhängigkeit

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 A R s 2 9 / 1 4
vom
5. März 2015
in den Strafsachen
gegen
1.
2.
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
hier:
Anfragebeschluss des 2. Strafsenats vom 8. Oktober 2014
(2 StR 137/14 und 2 StR 337/14)
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. März 2015 gemäß § 132
Abs. 3 GVG beschlossen:
Der vom 2. Strafsenat beabsichtigten Entscheidung, in der Straf-
sache gegen E. (2 StR 337/14) die Verurteilung
des Angeklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld aufzuheben,
soweit die Bemessung auf der Berücksichtigung der wirtschaftli-
chen Verhältnisse auch des Angeklagten beruht, steht Rechtspre-
chung des 3. Strafsenats entgegen; an dieser Rechtsprechung
hält der 3. Strafsenat fest.
Im Übrigen hält der 3. Strafsenat an Rechtsprechung, die den be-
absichtigten Entscheidungen entgegenstehen kann, nicht fest.
Gründe:
I.
Der 2. Strafsenat hat in den vorgenannten Strafsachen über die Revisio-
nen der Angeklagten gegen deren Verurteilung zur Zahlung von Schmerzens-
geld im Adhäsionsverfahren (§ 403 StPO) zu entscheiden.
Im Verfahren 2 StR 137/14 gegen G. sieht sich der
2. Strafsenat nach der bisherigen Rechtsprechung der Zivil- und der Strafsena-
te des Bundesgerichtshofs gehalten, die angefochtene Entscheidung wegen
unzureichender tatrichterlicher Erörterung der Vermögensverhältnisse von
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Schädiger und Geschädigtem der Höhe nach aufzuheben und es bei einer
Feststellung der Zahlungspflicht dem Grunde nach zu belassen. Er beabsichtigt
gleichwohl, die Revision zu verwerfen.
Im Verfahren 2 StR 337/14 gegen E. hat der Tatrichter
demgegenüber bei der Bemessung des Schmerzensgelds die wirtschaftlichen
Verhältnisse des Angeklagten und der Geschädigten berücksichtigt. Der
2. Strafsenat kann nicht ausschließen, dass das Schmerzensgeld ohne deren
Berücksichtigung niedriger ausgefallen wäre. Er beabsichtigt deshalb, die Ver-
urteilung der Höhe nach aufzuheben und es bei einer Feststellung der Zah-
lungspflicht dem Grunde nach zu belassen.
Der 2. Strafsenat vertritt die Rechtsauffassung:
"Bei der Bemessung der billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2
BGB) sind weder die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten noch die
des Schädigers zu berücksichtigen."
Er hat deshalb beim Großen Senat für Zivilsachen und bei den anderen
Strafsenaten des Bundesgerichtshofs angefragt, ob an entgegenstehender
Rechtsprechung festgehalten wird.
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II.
An Rechtsprechung, die der beabsichtigten Entscheidung des 2. Straf-
senats im Verfahren 2 StR 137/14 entgegenstehen könnte, hält der 3. Straf-
senat nicht fest. Schon nach den aus der bisherigen Rechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs abzuleitenden Maßstäben für die Bemessung von Schmer-
zensgeld sähe der 3. Strafsenat nunmehr keinen Anlass mehr, in der beschrie-
benen Fallgestaltung die Höhe der zugebilligten Entschädigung wegen Darle-
gungsmängeln zu beanstanden und deshalb die Verurteilung des Angeklagten
zur Zahlung von Schmerzensgeld aufzuheben.
1. Nach dem Beschluss des Großen Senats für Zivilsachen vom 6. Juli
1955 - GSZ 1/55 (BGHZ 18, 149) "können" bei der Bemessung einer billigen
Entschädigung in Geld alle Umstände des Falles berücksichtigt werden, darun-
ter auch der Grad des Verschuldens des Verpflichteten und die wirtschaftlichen
Verhältnisse beider Teile.
a) Mit dieser Fassung seiner Antwort auf die Vorlagefrage wollte der
Große Senat für Zivilsachen "zum Ausdruck zu bringen, daß nicht alle erwähn-
ten Umstände in jedem Einzelfall berücksichtigt werden müssen, sondern nur
nach dessen Lage berücksichtigt werden können." In erster Linie sei für die
Bemessung des Schmerzensgeldes die Höhe und das Maß der Lebensbeein-
trächtigung zu berücksichtigen; hierauf liege das Schwergewicht. Daneben
könnten aber auch alle Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen
Schadensfall sein "besonderes Gepräge" geben. Was die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse des Schädigers betreffe, sei aber zu beachten, dass besonders ver-
werfliches Verhalten wie rücksichtsloser Leichtsinn oder gar Vorsatz den Ge-
danken, diesen vor wirtschaftlicher Not zu bewahren, "weitgehend zurückdrän-
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gen" könnten. Was demgegenüber die wirtschaftlichen Verhältnisse des Ver-
letzten anbelangt, betont die Entscheidung deren weitgehende Ambivalenz in
Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalles. So könnten deutliche Un-
gleichheiten der Vermögensverhältnisse beider Parteien einerseits je nach La-
ge des Falles dazu führen, von den bestehenden Ermessensmöglichkeiten zu
Gunsten oder zu Lasten des Schädigers in höherem oder in geringerem Maße
Gebrauch zu machen. Andererseits erscheine es nicht ausgeschlossen, dass
im Einzelfall "der gewohnte höhere Lebensstandard des Verletzten" auch ein-
mal zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes führen könne.
b) Daraus wird deutlich, dass der Große Senat für Zivilsachen den wirt-
schaftlichen Verhältnissen von Schädiger und Geschädigtem im Wesentlichen
nur die Funktion eines Korrektivs für besonders gelagerte Fälle beigemessen
hat. Soweit die zivilrechtliche Literatur an der Berücksichtigungsfähigkeit der
wirtschaftlichen Verhältnisse festhält, vertritt sie dementsprechend ebenfalls die
Auffassung, dass diese nur ausnahmsweise für den Anspruch von Belang sind
(vgl. Staudinger/Schiemann (2005), BGB, § 253 Rn. 42). Dieses Regel-
Ausnahme-Verhältnis kann bei der Beurteilung der tatrichterlichen Darlegungs-
pflichten nicht außer Betracht bleiben.
2. Nichts anderes ergibt sich aus der langjährigen ständigen Rechtspre-
chung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs in der Folge der genannten
Entscheidung des Großen Senats für Zivilsachen.
So hat der 1. Strafsenat (Urteil vom 7. Februar 1995 - 1 StR 668/94,
NJW 1995, 1438) den Tatrichter lediglich zur Erörterung "ganz ungewöhnlicher"
wirtschaftlicher Verhältnisse von Schädiger oder Geschädigtem verpflichtet an-
gesehen. Zwar könnten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten die
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Zumessung des Schmerzensgelds beeinflussen. Dies bedeute jedoch nicht,
dass diese Verhältnisse und ihr Einfluss auf die Bemessung in jedem Fall aus-
drücklich erörtert werden müssten. Das Schwergewicht liege nach dem Be-
schluss des Großen Senats für Zivilsachen einerseits auf dem Maß der Le-
bensbeeinträchtigung, andererseits auf dem Grad des Verschuldens. Rück-
sichtsloser Leichtsinn oder gar Vorsatz könnten den Gedanken weitgehend zu-
rückdrängen, den Schädiger vor wirtschaftlicher Not zu bewahren. Ebenso hat
der 3. Strafsenat (Beschluss vom 5. Januar 1999 - 3 StR 602/98, NJW 1999,
1123, 1124) einen Verstoß gegen tatrichterliche Erörterungspflichten bei der
Bemessung des Schmerzensgelds mit der Begründung verneint, es seien keine
Anhaltspunkte für "außergewöhnliche" wirtschaftliche Verhältnisse ersichtlich,
die maßgeblichen Einfluss auf die Bestimmung des Schmerzensgeldes hätten
gewinnen können.
Dementsprechend haben die Strafsenate auch aufhebende Entschei-
dungen in erster Linie darauf gestützt, dass sich die Erörterung der wirtschaftli-
chen Verhältnisse nach Sachlage (Beschluss vom 30. April 1993 - 3 StR
169/93), nach den Feststellungen (Beschluss vom 9. Juni 1993 - 2 StR 232/93,
BGHR StPO § 403 Anspruch 4) oder nach den Umständen (Beschluss vom
26. August 1998 - 2 StR 151/98, BGHR StPO § 403 Anspruch 6) aufdrängte.
3. Soweit ersichtlich erstmals der anfragende Senat hat in der Folge
- ohne dass dem die Qualität einer Entscheidung im Sinne des § 132 Abs. 2
GVG zukäme - die Auffassung vertreten, es sei "regelmäßig erforderlich", auch
die wirtschaftlichen Verhältnisse "der Tatbeteiligten" zu berücksichtigen (Be-
schluss vom 7. Juli 2010 - 2 StR 100/10, NStZ-RR 2010, 344). Dem ist auch
der 3. Strafsenat in mehreren Entscheidungen gefolgt (vgl. Beschlüsse vom
8. Januar 2014 - 3 StR 372/13, StraFo 2014, 217; vom 21. Januar 2014 - 3 StR
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388/13; vom 20. März 2014 - 3 StR 20/14; vom 2. September 2014 - 3 StR
325/14, NStZ-RR 2014, 350). Eine solche Spruchpraxis, die sich insbesondere
im strafrechtlichen Revisionsverfahren nur zum Nachteil des Geschädigten
auswirken kann, erscheint indes weder mit den vom Großen Senat für Zivilsa-
chen entwickelten Maßstäben für die Bemessung von Schmerzensgeld noch
mit der daran anknüpfenden vorgängigen ständigen Rechtsprechung der Straf-
senate vereinbar. Der 3. Strafsenat gibt diese Rechtsprechung auf.
III.
1. Was die beabsichtigte Entscheidung im Verfahren 2 StR 337/14 be-
trifft, ist der 3. Strafsenat weiterhin der Auffassung, dass - nach Maßgabe des
Beschlusses des Großen Senats für Zivilsachen vom 6. Juli 1955 (oben I.) - die
wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers bei der Bemessung des Schmer-
zensgelds berücksichtigt werden können.
a) Nach dem vorgenannten Beschluss ist der Schmerzensgeldanspruch
gemäß (seinerzeit) § 847 BGB kein gewöhnlicher Schadensersatzanspruch,
sondern ein Anspruch eigener Art mit doppelter Funktion. Er soll dem Geschä-
digten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht
vermögensrechtlicher Art sind (Ausgleichsfunktion); zugleich soll er dem Ge-
danken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung
schuldet für das, war er ihm angetan hat (Genugtuungsfunktion). Daran, dass
dem Schmerzensgeld neben der Ausgleichs- auch eine Genugtuungsfunktion
zukommt, hält der 3. Strafsenat fest. Welche Auffassung der 2. Strafsenat hier-
zu vertritt, lässt sich der Anfrage nicht mit hinreichender Deutlichkeit entneh-
men. Soweit dieser ausführt, die Genugtuungsfunktion könne nicht zur Berück-
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sichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers führen, weil "Art
und Ausmaß des vom Schädiger wiedergutzumachenden Unrechts" nicht von
dessen Vermögensverhältnissen abhängen, vermengt er beide Funktionen und
stellt die Genugtuungsfunktion letztlich insgesamt in Frage.
b) Hält man richtigerweise an der Genugtuungsfunktion des Schmer-
zensgelds fest, so verbietet sich die plakative Aussage des 2. Strafsenats, die
Entschädigung für ein- und dasselbe körperliche oder seelische Leiden könne
nicht davon abhängen, ob der Schädiger "Hilfsarbeiter oder Millionär" sei. Dies
gilt insbesondere für die - im Verfahren 2 StR 337/14 allein zur Beurteilung an-
stehende - Fallgestaltung einer anspruchserhöhenden Berücksichtigung der
wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers. Mit der von Gesetzes wegen ge-
forderten Billigkeit der Entschädigung stünde es jedenfalls nicht in Einklang,
den minderbemittelten Straftäter wie vom anfragenden Senat vorgeschlagen
auf die Pfändungsgrenze zu verweisen, den "Millionär" im Einzelfall aber mit
einem Betrag davonkommen zu lassen, der nach dessen Verhältnissen allen-
falls symbolisch erscheint.
2. Dagegen teilt der 3. Strafsenat die Auffassung des anfragenden
Senats, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten bei der Be-
messung des Schmerzensgelds unberücksichtigt bleiben müssen; insoweit hält
er an entgegenstehender Rechtsprechung nicht fest.
Gemessen an den Maßstäben des Beschlusses des Großen Senats für
Zivilsachen vom 6. Juli 1955 bleibt die Bedeutung der wirtschaftlichen Verhält-
nisse des Geschädigten für die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs zwar wie
dargelegt letztlich ambivalent. Gute wie auch schlechte wirtschaftliche Verhält-
nisse des Geschädigten können danach in Abhängigkeit von den Umständen
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des Einzelfalls gleichermaßen anspruchserhöhend wie anspruchsmindernd wir-
ken. In allen der vom Großen Senat für Zivilsachen aufgezeigten Fallgestaltun-
gen läge in der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschä-
digten bei der Bemessung seines Anspruchs nach heutigem Verfassungsver-
ständnis jedoch eine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung und
damit ein Verstoß jedenfalls gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Genugtuungsfunktion
des Schmerzensgelds kann bei schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen des
Geschädigten eine Besserstellung ebenso wenig rechtfertigen wie gar eine An-
spruchsminderung. Umgekehrt erscheint es aber auch nicht zulässig, den
Schmerzensgeldanspruch eines Geschädigten, der sich in guten wirtschaftli-
chen Verhältnissen befindet, deswegen zu erhöhen oder zu mindern.
Becker Hubert Mayer
Gericke Spaniol