Urteil des BGH vom 06.04.2016

Sicherungsverwahrung, Unterbringung, Staatsanwalt, Verkündung

ECLI:DE:BGH:2016:060416U2STR478.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 478/15
vom
6. April 2016
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. April 2016,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Krehl,
Dr. Eschelbach,
Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Ott,
Richter am Bundesgerichtshof
Zeng,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof in der Verhandlung,
Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof bei der Verkündung,
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung
als Verteidiger des Angeklagten,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin C. ,
Rechtsanwältin in der Verhandlung
als Vertreterin der Nebenklägerin A. ,
Justizhauptsekretärin in der Verhandlung,
Justizangestellte bei der Verkündung,
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landge-
richts Köln vom 23. März 2015 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels
und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeich-
nete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abge-
sehen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren in-
soweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine Straf-
kammer des Landgerichts Bonn zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Der Angeklagte war durch Urteil des Landgerichts Köln vom 29. Novem-
ber 2013 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und wegen
exhibitionistischer Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
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und neun Monaten verurteilt worden. Von einer Unterbringung des Angeklagten
in der Sicherungsverwahrung hatte das Landgericht abgesehen. Auf die Revisi-
on der Staatsanwaltschaft hat der Senat mit Urteil vom 15. Oktober 2014 (2 StR
240/14, NStZ 2015, 510 ff.) das Urteil des Landgerichts mit den Feststellungen
aufgehoben, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen
worden ist, sowie
– zu Gunsten des Angeklagten – im Strafausspruch. Die Re-
vision des Angeklagten hat der Senat verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten nunmehr
– erneut – zu einer Ge-
samtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt und von der
Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgesehen. Mit
seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts. Die
Staatsanwaltschaft hat ihre zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und mit
der Sachrüge und mit mehreren Verfahrensbeanstandungen begründete Revi-
sion auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränkt. Die Revi-
sion des Angeklagten ist erfolglos; das vom Generalbundesanwalt vertretene
– wirksam beschränkte – Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat dagegen Er-
folg.
I.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Die Nachprüfung des an-
gefochtenen Urteils auf Grund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zu seinem
Nachteil ergeben.
II.
Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsan-
waltschaft hat Erfolg.
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1. a) Die Staatsanwaltschaft hat zwar eingangs ihrer Revisionsbegrün-
dungsschrift keine Beschränkung erklärt und die (uneingeschränkte) Aufhebung
des Rechtsfolgenausspruchs und die Zurückverweisung der Sache an eine an-
dere Strafkammer zur erneuten Verhandlung und Entscheidung beantragt. Mit
diesem umfassenden Revisionsantrag steht jedoch der übrige Inhalt der Revisi-
onsbegründungsschrift nicht in Einklang. Daraus ergibt sich, dass die Revisi-
onsführerin das Urteil ausschließlich
– und ersichtlich abschließend – deswe-
gen für fehlerhaft hält, weil das Landgericht die Sicherungsverwahrung nicht
angeordnet hat. Somit widersprechen sich Revisionsantrag und Inhalt der Revi-
sionsbegründung. Unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV (vgl. auch
Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 90/14, NStZ-RR 2014, 285 mwN) ver-
steht der Senat daher das gesamte Revisionsvorbringen dahin, dass sich die
Staatsanwaltschaft allein gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung
wendet.
b) Diese Revisionsbeschränkung auf den Maßregelausspruch ist wirk-
sam. Weder aus den Strafzumessungserwägungen noch aus den Erwägungen
zur unterbliebenen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass das Landgericht zwischen beiden
Rechtsfolgenentscheidungen einen Zusammenhang hergestellt hat, der eine
getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. BGH, Urteil vom
22. Oktober 2015 - 4 StR 275/15; Senat, Urteil vom 15. Oktober 2014 - 2 StR
240/14, insoweit in NStZ 2015, 510 ff. nicht abgedruckt).
Dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Revision Feststellungen angreift,
die nach den Erwägungen des Landgerichts sowohl
– strafmildernd – für den
Strafausspruch als auch für die Entscheidung über die Anordnung der Maßregel
tragend, mithin doppelrelevant sind, führt hier ebenfalls nicht zu einer unwirk-
samen Revisionsbeschränkung. Denn neue und abweichende Feststellungen
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können keine Auswirkungen auf den Teil des Urteils haben, der nicht angegrif-
fen werden soll. Zwar entzögen abweichende Feststellungen der strafmildern-
den Erwägung des Urteils die tatsächliche Grundlage. Indes schließt § 358
Abs. 2 Satz 2 StPO die Verhängung einer höheren Strafe aus, da der Straf-
ausspruch des ersten tatrichterlichen Urteils entsprechend § 301 StPO aus-
schließlich zu Gunsten des Angeklagten aufgehoben worden war (vgl. dazu
BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2011 - 3 StR 374/11, NStZ-RR 2012, 106
f.). Danach wäre selbst eine Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Straf-
ausspruch zu Ungunsten des Angeklagten von vorneherein unbegründet, weil
auf begünstigenden Strafzumessungsfehlern
– egal welcher Art – nichts beru-
hen könnte.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg; auf
die Verfahrensrüge, mit der die Staatsanwaltschaft die Verletzung des § 261
StPO beanstandet, kommt es nicht an.
Die Erwägungen des Landgerichts zum Absehen von der Anordnung der
Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung sind rechtsfeh-
lerhaft.
a) Das Landgericht hat schon nicht tragfähig begründet, dass nicht auch
die Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vorliegen.
aa) Wie schon der Senat in seinem in dieser Sache ergangenen Urteil
vom 15. Oktober 2014 ausgeführt hat, erfüllt eine in einem früheren Verfahren
ausgesprochene einheitliche Jugendstrafe nach § 31 JGG die Voraussetzungen
des § 66 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn zu erkennen ist, dass der Tä-
ter wenigstens bei einer der ihr zugrundeliegenden Straftaten eine Jugendstrafe
von mindestens einem Jahr verwirkt hätte, sofern sie als Einzeltat gesondert
abgeurteilt worden wäre. Dies festzustellen, ist tatrichterliche Aufgabe, die dem
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über die Sicherungsverwahrung entscheidenden Richter obliegt. Dabei hat der
Tatrichter festzustellen, wie der Richter des Vorverfahrens die einzelnen Taten
bewertet hat; er darf sich nicht an dessen Stelle setzen und im Nachhinein eine
eigene Strafzumessung vornehmen. Entsprechende Feststellungen muss der
Tatrichter so belegen, dass eine ausreichende revisionsgerichtliche Überprü-
fung möglich ist (vgl. Senat, Urteil vom 15. Oktober 2014 - 2 StR 240/14, NStZ
2015, 510, 511 mwN).
bb) Die Erwägungen des Landgerichts werden diesen Anforderungen
nicht gerecht. Sie beschränken sich im Ergebnis auf das, was sich bereits un-
mittelbar aus dem Gesetz ergibt. Relevante Angaben zu (weiteren, hypotheti-
schen) Strafzumessungserwägungen des Jugendschöffengerichts, die über
dessen schriftliche Urteilsgründe hinausgehen, waren weder von der Sitzungs-
vertreterin der Staatsanwaltschaft noch der Vorsitzenden des Jugendschöffen-
gerichts zu erwarten.
Zwar hat das Landgericht den ersichtlich relevanten Teil der schriftlichen
Urteilsgründe des Jugendschöffengerichts mitgeteilt, sich damit jedoch nicht
erkennbar auseinandergesetzt. Dies wäre aber in jedem Fall erforderlich gewe-
sen, zumal hier besonderer Anlass dazu bestanden hätte, weil sowohl die Be-
gründungen zur Erforderlichkeit und Bemessung der Jugendstrafe als auch die
Ausführungen zur Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung es zumindest
nahelegen, dass das Jugendschöffengericht allein wegen der versuchten Ver-
gewaltigung eine Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verhängt hätte.
cc) Die unzureichend begründete Annahme, dass nicht auch die formel-
len Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB vorliegen, kann sich auf die Über-
zeugungsbildung zum Vorliegen eines Hangs ausgewirkt haben. Die darin zum
Ausdruck kommende gesetzliche Bewertung würde das indizielle Gewicht der
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vom Angeklagten begangenen Taten
– insbesondere der Vorverurteilung – er-
höhen.
b) Der Generalbundesanwalt hat im Einzelnen zutreffend ausgeführt,
dass die Erwägungen des Landgerichts, gegen einen Hang des Angeklagten
spreche der deutlich zurückgegangene Gewalteinsatz bei den letzten Taten,
Wertungsfehler beinhalten, lückenhaft sind und teilweise nicht von den Feststel-
lungen getragen werden. Entsprechendes gilt, soweit das Landgericht von un-
terschiedlicher Motivation des Angeklagten bei der Begehung der jeweiligen
Taten ausgegangen ist.
Die fehlende Steigerung oder die Abnahme von Gewalt spricht nicht ge-
gen eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen. Einen Hang kann auch haben,
wer auf gleichbleibendem Niveau oder sogar mit abnehmender Intensität Straf-
taten begeht. Das Landgericht hätte die Tatumstände in Beziehung zu der in
den Urteilsgründen beschriebenen Devianz des Angeklagten setzen müssen.
Das sexuelle Interesse des Angeklagten an Kindern hat seinen Grund in deren
Hilf- und Wehrlosigkeit. Es korrespondiert mit dem in der Familie des Angeklag-
ten dominanten Bild der schwachen, sich im Hintergrund haltenden Frau. Vor
diesem Hintergrund können
– was das Vorliegen eines Hangs betrifft – aus dem
Vergleich der bei den Taten angewendeten Gewalt keine relevanten Schlüsse
gezogen werden. Vielmehr drängt sich auf, dass auch die zuletzt begangenen
Taten typischer Ausdruck der beim Angeklagten vorhandenen Devianz sind.
Auch die jeweilige Tatmotivation des Angeklagten spricht
– bei verglei-
chender Betrachtung
– erheblich für eine Steigerung oder zumindest Verfesti-
gung der Devianz des Angeklagten.
c) Schließlich hat das Landgericht dem Gesichtspunkt der "Nachreifung"
des Angeklagten ein unvertretbar hohes Gewicht beigemessen. Die in diesem
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Zusammenhang angestellte Erwägung, wonach der Angeklagte außerhalb des
Einflussbereichs seines Vaters für sich in einem 'sanktionsfreien Raum' lebte,
wird von den Feststellungen nicht getragen. Im Übrigen beschränken sich die in
diesem Zusammenhang geschilderten Aktivitäten des Angeklagten auf reine
Ankündigungen. Die zukünftig möglichen Auswirkungen von Therapien sind in
diesem Zusammenhang unerheblich, da das Vorliegen eines Hangs zum Ur-
teilszeitpunkt entscheidend ist. Behandlungsaussichten können (erst) im Rah-
men der Ermessensausübung oder bei der Frage der Aussetzung der Maßregel
berücksichtigt werden.
3. Die
– nicht ausgeführte – Kostenbeschwerde der Staatsanwaltschaft
ist gegenstandslos, da die Teilaufhebung des Urteils auch die Kostenentschei-
dung erfasst.
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III.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein ande-
res Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Fischer Krehl Eschelbach
Frau RinBGH Dr. Ott
Zeng
ist an der Unterschrift
gehindert.
Fischer
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