Urteil des BGH vom 21.01.2016

Überzeugung, Beratung, Verkündung, Vergewaltigung

ECLI:DE:BGH:2016:210116B2STR433.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 433/15
vom
21. Januar 2016
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 21. Januar 2016 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Limburg a. d. Lahn vom 26. Mai 2015 mit den Feststellungen auf-
gehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung auch
über die Kosten des Rechtsmittels an eine andere Strafkammer
des Landgerichts Limburg a. d. Lahn zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die dagegen gerich-
tete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte
Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte im
Januar 2011 als Reinigungskraft in einem Krankenhaus in Bad C. be-
schäftigt. Seit Anfang 2011 lag hier die Geschädigte B. , die am 4. Dezember
2010 einen linksseitigen Schlaganfall erlitten hatte. Bei ihrer Aufnahme bestand
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eine Halbseitenlähmung rechts, eine Sprachstörung, eine Gesichtslähmung
sowie eine Wahrnehmungsstörung in Bezug auf den eigenen Körper (sog. Nec-
let). Bis zum 5. Januar 2010 hatte sich ihr Zustand bereits dahin gebessert,
dass sie das rechte Bein wieder etwas bewegen konnte. Ihr rechter Arm war
aber weiterhin gelähmt. Das Sprachverständnis der Geschädigten hatte sich
dahin verbessert, dass sie in der Lage war, mittels Kopfnicken bzw. Kopfschüt-
teln eine verlässliche Ja/Nein-Kommunikation durchzuführen. Sprechen oder
Schreien war ihr nicht möglich. Zu Ort, Zeit und Situation war sie vollständig
orientiert. Ihre Fähigkeit, Erlebtes zutreffend wahrzunehmen und zu speichern,
war nicht eingeschränkt.
Am Morgen des 5. Januar 2011 betrat der Angeklagte das Krankenzim-
mer der noch schlafenden Geschädigten. Sie erwachte, als er an ihr Bett heran-
trat. Der Angeklagte schob ihre Bettdecke zur Seite und hielt ihre linke Hand
fest, um einen erwarteten Widerstand von vornherein zu überwinden. Sodann
berührte er ihre Brust und fasste mit zwei Fingern in ihre Scheide. Anschließend
verließ er das Krankenzimmer, kehrte aber nach wenigen Minuten zurück, ging
suchend im Zimmer umher und rief „Scheiße, Scheiße“. Nachdem er das Zim-
mer zum zweiten Mal verlassen hatte, drückte die Geschädigte die Notrufklin-
gel. Sie war sehr aufgeregt und weinte. Dem Pflegepersonal gelang es nicht,
durch Fragen in Erfahrung zu bringen, was sich ereignet hatte. Erst am Nach-
mittag konnte die Tochter der Geschädigten das Geschehen erfragen.
2. Das Landgericht ist von der uneingeschränkten Aussagetüchtigkeit der
Geschädigten ausgegangen. Dies entspreche der Beurteilung des damaligen
Chefarztes der Klinik Dr. S. , der zum Gesundheitszustand der Geschädig-
ten als Zeuge und Sachverständiger vernommen worden sei. Dr. S. habe
die Patientenakte ausgewertet und angegeben, Kopfnicken bzw. Kopfschütteln
seien bei „einfach gestellten Fragen“ eindeutige und sichere Gesten der Ge-
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schädigten gewesen. Hinweise auf Verwirrtheit oder Halluzinationen habe es
nicht gegeben. Seine Einschätzung werde bestätigt durch den „abrundend hin-
zugezogenen“ Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie Prof. Dr.
G. . Dieser habe auf Grundlage der Aktenkenntnis und seiner Anwesen-
heit in der Hauptverhandlung, im Rahmen derer er die Geschädigte und ihre
behandelnden Ärzte befragen konnte, ein Gutachten zur Aussagetüchtigkeit der
Geschädigten erstattet. Dafür habe er die bei der Geschädigten am 4. Dezem-
ber 2010 durchgeführte Computertomografie (CT) des Schädels mit Angiogra-
phie ausgewertet, wonach die rechte Hirnhälfte, die für die kognitive Wahrneh-
mungsfähigkeit zuständig sei, unbeteiligt gewesen sei.
II.
Die Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Verfah-
rensrüge der Verletzung des § 261 StPO Erfolg.
1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Das angefochtene Urteil wurde am 26. Mai 2015 verkündet. Rund einen
Monat später, am 23. Juni 2015, verfügte der Vorsitzende die Übersendung der
Kopien Bl. 461-463 d.A. an den Sachverständigen Prof. Dr. G.
„unter
Bezug auf das heute geführte Telefonat“. Bei den übersandten Kopien handelte
es sich entweder um den vorläufigen Arztbrief vom 16. Dezember 2010, in dem
unter anderem die Ergebnisse der „CT-Schädel vom 4. Dezember 2010“ ge-
schildert wurden (paginiert als Bl. 461-463 d.A.) oder aber um zwei polizeiliche
Vermerke und einen Laborbefund betreffend den bei der Geschädigten ent-
nommenen Abstrich (ebenfalls paginiert als Bl. 461-463 d.A.).
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Mit einem (offensichtlich fehlerhaft) auf den 29. Juli 2015 datierten An-
schreiben, eingegangen beim Landgericht am 1. Juli 2015, übersandte der
Sachverständige daraufhin ein auf den 29. Juni 2015 datiertes Gutachten be-
treffend die „Befunde in Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit und Reali-
tätswahrnehmung“ der Geschädigten im gegenständlichen Tatzeitraum, in dem
er sich un
ter Bezugnahme auf die „CT mit Angiographie vom 4. Dezember
2010“ zur Wahrnehmungsfähigkeit der Geschädigten sachverständig äußerte.
In dem Anschreiben ließ der Sachverständige ergänzend anfragen, ob die an
ihn gerichteten Fragen „durch die Erklärungen“ abgedeckt seien. Das schriftli-
che Urteil gelangte am 14. Juli 2015 zur Geschäftsstelle. In den Urteilsgründen
wird das von Prof. Dr. G. in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten
mitgeteilt und im Rahmen dessen auch das rund eineinhalb Seiten umfassende
schriftliche Gutachten vom 29. Juni 2015 nahezu vollständig und wörtlich wie-
dergegeben.
2. Die Verurteilung des Angeklagten hält auf die von der Revision erho-
bene Verfahrensrüge nach § 261 StPO rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Das Landgericht hat seine Überzeugung nicht aus dem Inbegriff der
Hauptverhandlung geschöpft. Denn in den schriftlichen Urteilsgründen wird die
Annahme der Aussagetüchtigkeit der Geschädigten auch auf Erkenntnisse ge-
stützt, die erst nachträglich und nicht im Verfahren nach § 261 StPO gewonnen
worden sind.
a) Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfin-
dung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf
der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden
ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (BGH, Be-
schluss vom 10. Juli 2001 - 5 StR 250/01, NStZ 2001, 595, 596; Urteil vom
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5. August 2010 - 3 StR 195/10, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung
47; KK-Ott, StPO, 7. Aufl., § 261 Rn. 6). Gründet das Gericht seine Überzeu-
gung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren,
zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht
abschließend äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261
StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kom-
menden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, vgl. BGH,
Urteil vom 13. Dezember 1967 - 2 StR 544/67, BGHSt 22, 26, 28 f.).
Eine Verletzung des § 261 StPO kann vorliegend nicht bereits an der
Erwägung scheitern, das Urteil könne nicht auf einem Vorgang beruhen, der
sich erst nach Verkündung des Urteils ereignet hat, weil dieser Vorgang bei der
vorangegangen Überzeugungsbildung und Urteilsfindung keine Rolle gespielt
haben könne.
Dem steht entgegen, dass das Revisionsgericht das angefochtene Urteil
nur „in der untrennbaren Einheit“ nachprüfen kann, die der Urteilstenor und die
schriftlichen Urteilsgründe miteinander bilden (vgl. schon RG, Urteil vom
24. September 1937 - 1 D 812/36, RGSt 71, 326, 327; vgl. auch OLG Stuttgart,
NJW 1968, 2022). Andernfalls bestünde die Gefahr, dass eine nachträglich er-
kannte Lücke in der Beweiswürdigung durch Erkenntnisse, die nach Abschluss
der Hauptverhandlung gewonnen werden, noch geschlossen werden könnte
Urteilsgründe sollen indes die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des
Urteils wiedergeben, wie sie nach der Hauptverhandlung in der Beratung ge-
wonnen worden sind, und dadurch dem Revisionsgericht die Nachprüfung der
getroffenen Entscheidungen auf ihre Richtigkeit ermöglichen (KK-Kuckein,
StPO, 7. Aufl., § 267 Rn. 2 mwN). Daher darf auch das schriftliche Urteil nur auf
Erkenntnisse gestützt werden, die im Verfahren nach § 261 StPO gewonnen
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worden sind und zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (vgl. BGH,
Beschluss vom 3. November 1987 - 4 StR 496/87; Beschluss vom 20. Oktober
1999 - 5 StR 496/99; Beschluss vom 10. Juli 2001 - 5 StR 250/01, NStZ 2001,
595, 596; KK-Kuckein, StPO, 7. Aufl., § 267 Rn. 1; LR-Stuckenberg, StPO,
26. Aufl., § 267 Rn. 10). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl.
BGH, Beschluss vom 10. Juli 2001 - 5 StR 250/01, NStZ 2001, 595, 596; Be-
schluss vom 20. Oktober 1999 - 5 StR 496/99) noch solche, die erst nach der
Urteilsverkündung (vgl. BGH, Beschluss vom 3. November 2010 - 1 StR
449/10; vgl. auch OLG Karlsruhe, Justiz 1998, 601) erlangt wurden, zur schrift-
lichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen werden.
b) Hiergegen hat das Landgericht verstoßen. Die in dem schriftlichen
Gutachten gewonnenen und im Rahmen der Beweiswürdigung verwerteten Er-
kenntnisse hat das Landgericht erst nach der Urteilsverkündung gewonnen,
ohne dass die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit hatten, hierzu Stellung zu
nehmen.
aa) Das schriftliche Gutachten des Sachverständigen wurde erst am
29. Juni 2015 erstellt. Es kann daher weder durch Verlesung noch im Wege des
Vorhalts an den Sachverständigen in der Hauptverhandlung eingeführt worden
sein. Zudem enthält das in den Urteilsgründen wörtlich zitierte Gutachten um-
fangreiche, sowohl inhaltlich wie sprachlich komplex gestaltete Textpassagen,
in denen Untersuchungsergebnisse referiert werden und eine zusammenfas-
sende gutachterliche Wertung der erhobenen Befunde aus neurologisch-
psychiatrischer Sicht formuliert ist. Der Senat schließt daher aus, dass das
Landgericht den Inhalt des späteren schriftlichen Gutachtens schon aufgrund
der Angaben der Sachverständigen in der Hauptverhandlung festgestellt hat
(vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Juli 2015 - 2 StR 38/15; Urteil vom
6. September 2000 - 2 StR 190/00, NStZ-RR 2001, 18).
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bb) Die telefonisch erbetene Stellungnahme des Vorsitzenden diente er-
sichtlich auch nicht der bloßen Auffrischung seines Gedächtnisses oder als
Formulierungshilfe für die schriftlichen Urteilsgründe allein darüber, was der
Sachverständige in der Hauptverhandlung sinngemäß ausgesagt hatte. Unge-
achtet dessen, dass ein solches Vorgehen schon für sich genommen bedenk-
lich erscheint, weil der Übergang vom bloßen Auffrischen bzw. bloßen Formu-
lieren hin zum Gewinnen neuer Erkenntnisse merklich gering und schwer fest-
zustellen ist (vgl. OLG Stuttgart, NJW 1968, 2022; BeckOK-StPO/Eschelbach,
§ 261 Rn. 20; Eb. Schmidt, StPO, 1957, § 261 Rn. 4; weitergehend RG, Urteil
vom 13. Februar 1939 - 2 D 4/39, HRR 1939 Nr. 1214), ist vorliegend bereits
dem Aktenvermerk des Vorsitzenden sowie dem Antwortschreiben und Gutach-
ten des Sachverständigen zu entnehmen, dass das nachträgliche Telefonge-
spräch nicht nur der Vergewisserung des Inhalts der Hauptverhandlung diente.
Denn dafür hätte es weder der ergänzenden Übersendung von Unterlagen an
den Sachverständigen noch der Erstattung eines schriftlichen Gutachtens be-
durft.
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Ver-
fahrensfehler beruht, denn das Landgericht hat seine Überzeugung von der
Aussagetüchtigkeit der Geschädigten auch auf das nachträglich erstattete Gut-
achten des Sachverständigen Prof. Dr. G. gestützt.
Die Übernahme dieses Gutachtens in die schriftlichen Urteilsgründe
könnte zwar dann unschädlich sein, wenn zweifelsfrei feststünde, dass das in
der Beratung - rechtlich fehlerfrei - gewonnene Ergebnis lediglich durch Um-
stände bestätigt wurde, die nach Verkündung des Urteils entstanden sind (vgl.
insoweit BGH, Urteil vom 21. Dezember 1983 - 3 StR 444/83; Beschluss vom
3. November 1987 - 4 StR 496/87, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhand-
lung 8). So verhält es sich hier aber nicht. Die Strafkammer ist gerade nicht von
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einer nur späteren Bestätigung ihrer - unabhängig von dem Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. G. - gewonnenen Überzeugung ausgegan-
gen (vgl. insoweit OLG Karlsruhe, Justiz 1998, 601), sondern hat bereits ver-
schwiegen, dass es sich um ein erst nachträglich erstattetes Gutachten handelt.
Ein Beruhen kann daher nicht ausgeschlossen werden, wenngleich sich
die Strafkammer ausweislich der Urteilsgründe zunächst auf die Beurteilung
des damaligen Chefarztes Dr. S. zum Gesundheitszustand der Geschä-
digten gestützt und erst im Anschluss ausgeführt hat, dass dessen Einschät-
zung auch
durch den „abrundend hingezogenen“ Sachverständigen Prof. Dr.
G.
„bestätigt“ werde. Denn ungeachtet dieser Formulierung wird der or-
ganische Befund, der die Einschätzung des Dr. S. bestätigt, allein in dem
insoweit in Bezug genommenen Gutachten des Prof. Dr. G. näher dar-
gestellt und bewertet.
Fischer
RiBGH Dr. Appl ist
Eschelbach
wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung
gehindert.
Fischer
Ott
Bartel
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