Urteil des BGH vom 12.11.2015

Ausschluss der Öffentlichkeit, Vernehmung Von Zeugen, Rüge, Überprüfung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 311/15
vom
12. November 2015
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes u.a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 12. November 2015
gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Gießen vom 27. März 2015 im Strafausspruch mit den zu-
gehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an
eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückver-
wiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen
wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes und Besitzes kinderpornographi-
scher Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Mo-
naten verurteilt. Die dagegen gerichtete und auf die Rüge der Verletzung for-
mellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer
Verfahrensrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übri-
gen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
Die Rüge einer Verletzung von § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG hat zum Straf-
ausspruch Erfolg.
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1. In der Hauptverhandlung, die am 4. Dezember 2014 begann, wurde
die Öffentlichkeit während der Dauer der Vernehmung von Zeugen und des An-
geklagten mehrfach durch Gerichtsbeschluss gemäß § 171b Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 2 GVG ausgeschlossen. Bei den Schlussanträgen war die Öffentlichkeit
hergestellt. Es befanden sich auch Zuhörer im Sitzungssaal.
Da Teile der Hauptverhandlung zuvor unter Ausschluss der Öffentlichkeit
stattgefunden haben, wäre indes nach der zwingenden Vorschrift des § 171b
Abs. 3 Satz 2 GVG
– auch ohne entsprechenden Antrag – die Öffentlichkeit
während der Schlussanträge auszuschließen gewesen. Es liegt daher ein Ver-
stoß gegen § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG vor, der mit Wirkung vom 1. September
2013 durch Art. 2 StORMG (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexu-
ellen Missbrauchs) vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1805) eingeführt wurde und
der zurzeit der Hauptverhandlung galt.
2. Der Angeklagte ist insoweit auch anfechtungsbefugt. Die Regelung
des § 171b Abs. 5 GVG i.V.m. § 336 Satz 2 StPO steht der erhobenen Rüge
nicht entgegen.
Gemäß § 171b Abs. 5 GVG sind zwar Entscheidungen nach den Absät-
zen 1 bis 4 unanfechtbar und damit der revisionsgerichtlichen Überprüfung ent-
zogen. Dies betrifft aber nur die inhaltliche Überprüfung der gerichtlichen Aus-
schließungsanordnung darauf, ob die in § 171b Abs. 1 und 2 GVG normierten
tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im
Einzelfall vorliegen (vgl. zu § 171b Abs. 3 GVG a.F., BGH, Urteil vom
21. Februar 1989
– 1 StR 786/88, BGHR GVG § 171b Abs. 1 Dauer 1; Urteil
vom 21. Juni 2012
– 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 275). Damit ist es dem Re-
visionsgericht zwar verwehrt, die Begründung einer nach § 171b GVG ergan-
genen Entscheidung inhaltlich zu überprüfen (vgl. Wickern in: Löwe-Rosenberg,
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StPO, 26. Aufl., § 171b GVG, Rn. 25), nicht gehindert ist es dagegen, die gene-
relle Befugnis für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des
Anklagesatzes zu prüfen (BGH, Urteil vom 21. Juni 2012
– 4 StR 623/11;
BGHSt 57, 273, 275).
Nichts anderes kann gelten, wenn nur der Vorsitzende in einem Verfah-
rensabschnitt vor Anbringung der Schlussanträge (zu diesem Zeitpunkt rechts-
fehlerfrei, weshalb eine Beanstandung nach § 238 StPO nicht in Betracht
kommt) die Wiederherstellung der Öffentlichkeit angeordnet hat und das Gericht
– wie vorliegend – weiterverhandelt und überhaupt keine Entscheidung über die
Öffentlichkeit des Verfahrens getroffen hat (so schon zutreffend BGH, Be-
schluss vom 17. September 2014
– 1 StR 212/14, Beck RS 2014, 19859 – nicht
tragend). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das erkennende Gericht nach
dem Gesetzeswortlaut ("ist die Öffentlichkeit auszuschließen") keinen Beurtei-
lungsspielraum hatte. Einer Anfechtbarkeit durch den Angeklagten steht auch
nicht entgegen, dass die Vorschrift in erster Linie dem Opferschutz geschuldet
ist. Denn § 171b GVG dient insgesamt dem Schutz der Privatsphäre, auch des
Angeklagten als Subjekt des Verfahrens (vgl. BGH, aaO). Dies zeigt gerade der
vorliegende Fall, in dem u.a. mehrmals die Öffentlichkeit auch auf Antrag des
Angeklagten ausgeschlossen wurde, weil Umstände aus seinem persönlichen
Lebensbereich zur Sprache kommen sollten.
3. Wie die Revision und der Generalbundesanwalt zutreffend ausführen,
ist zwar der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO nicht gegeben, weil
diese Vorschrift bei einer unzulässigen Erweiterung der Öffentlichkeit nicht an-
wendbar ist (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 2014
– 1 StR 212/14,
Beck RS 2014, 19859 mwN). Durchgreifend ist aber der relative Revisionsgrund
(§ 337 StPO).
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a) Auf dem dargelegten Verfahrensfehler kann jedoch der Schuldspruch
nicht beruhen. Der Senat kann angesichts der insoweit geständigen Einlassung
des Angeklagten und der ansonsten gegebenen klaren Beweislage ausschlie-
ßen, dass der Verteidiger oder der Angeklagte in nicht-öffentlichen Schlussvor-
trägen insoweit noch Erhebliches hätten bekunden können. Soweit die Straf-
kammer dem Angeklagten unter Berücksichtigung der übrigen Beweisergebnis-
se hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung nicht gefolgt ist, bleibt der Schuld-
spruch davon unberührt.
b) Dagegen kann der Ausspruch über die Einzelstrafen und die Gesamt-
strafe sowie die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung auf dem Ver-
fahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass jedenfalls der Ange-
klagte, wäre ihm das letzte Wort unter Ausschluss der Öffentlichkeit erteilt wor-
den, Ausführungen gemacht hätte, die die Strafzumessung zu seinen Gunsten
beeinflusst hätten.
Die Öffentlichkeit wurde in der Hauptverhandlung mehrfach auf Antrag
des Angeklagten nach § 171b Abs. 1 GVG ausgeschlossen, weil im Rahmen
seiner geständigen Einlassung Umstände aus seiner Intimsphäre, namentlich
seiner Sexualsphäre zur Sprache kamen. Bereits aus diesem Grund besteht die
begründete Annahme, dass der Angeklagte über seine Einlassung hinaus in
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seinem letzten Wort weitere sich zu seinen Gunsten auswirkende Umstände
angesprochen hätte, wenn er nicht der besonderen Belastung der öffentlichen
Hauptverhandlung ausgesetzt gewesen wäre.
Krehl Eschelbach Ott
Zeng Bartel