Urteil des BGH vom 03.07.2014

BGH: stand der technik, schwere des grundrechtseingriffs, adresse, nummer, verhütung, internet, nachrichten, verarbeitung, zugang, spams

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 391/13
Verkündet am:
3. Juli 2014
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 3. Juli 2014 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter Dr. Herr-
mann, Wöstmann, Seiters und Reiter
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 13. Zivilsenats in
Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
28. August 2013 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsrechtszugs hat der Kläger zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Beklagte bietet Telekommunikationsleistungen an. Der Kläger ist In-
haber eines von ihr bereitgestellten DSL-Anschlusses. Hierfür haben er und die
Rechtsvorgängerin der Beklagten ein zeit- und volumenunabhängiges Pau-
schalentgelt vereinbart.
Die Beklagte weist dem Rechner, den der Kunde zur Einwahl in das In-
ternet nutzt, für die Dauer der einzelnen Verbindung eine IP-Adresse zu, die sie
einem ihr zugeteilten Großkontingent entnimmt. Diese Adresse besteht aus ei-
ner mit einer Telefonnummer vergleichbaren, aus vier Blöcken gebildeten Zif-
fernfolge, die die Kommunikation vernetzter Geräte (z.B. Web-Server, E-Mail-
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Server oder Privatrechner) ermöglicht. Nach Beendigung der Verbindung wird
die jeweilige IP-Adresse wieder freigegeben und steht den Kunden der Beklag-
ten zur Einwahl in das Internet erneut zur Verfügung. Aufgrund dieses Verfah-
rens erhält der einzelne Nutzer für jede Einwahl in das Internet in aller Regel
eine unterschiedliche IP-Nummer (dynamische IP-Adresse).
Die Beklagte speichert nach Beendigung der jeweiligen Verbindung unter
anderem die hierfür verwendete IP-Adresse für sieben Tage. Zuvor hatte sie für
die Speicherung eine längere Zeitspanne in Anspruch genommen. Der Kläger
meint, die Beklagte sei verpflichtet, die IP-Adressen sofort nach dem Ende der
einzelnen Internetsitzungen zu löschen. Die Beklagte ist demgegenüber der
Auffassung, sie sei zur Abwehr von Störungen und Fehlern an Telekommunika-
tionsanlagen (§ 96 Abs. 1 Satz 2 i.V. m. § 100 Abs. 1 TKG) zu einer vorüberge-
henden Speicherung der IP-Adressen berechtigt. Aufgrund einer Änderung der
technischen Voraussetzungen beruft sich die Beklagte inzwischen nicht mehr
darauf, sie sei auch zum Zweck der Entgeltermittlung und -abrechnung (§ 97
Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 TKG) für die Inanspruchnahme von Diensten, die unge-
achtet des Pauschaltarifs kostenpflichtig seien, zur Speicherung befugt.
Neben Löschungs- und Unterlassungsansprüchen hinsichtlich weiterer
Daten hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur sofortigen Löschung
der seinem Rechner zugeteilten IP-Adressen nach dem jeweiligen Ende der
Internetverbindungen verfolgt. Das Landgericht hat den Anträgen teilweise
stattgegeben, hinsichtlich der IP-Adressen die Beklagte jedoch nur verurteilt,
diese sieben Tage nach dem jeweiligen Ende der Internetverbindungen zu lö-
schen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Oberlandesge-
richt in einem ersten Urteil zurückgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat
der Senat diese Entscheidung mit Urteil vom 13. Januar 2011 (III ZR 146/10,
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NJW 2011, 1509), auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, auf-
gehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das Oberlandes-
gericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme die Berufung des Klägers
wiederum zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht
zugelassene erneute Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat in der Sache keinen Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, unter Berücksichtigung der rechtli-
chen Vorgaben des ersten Revisionsurteils und der Ergebnisse der im zweiten
Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme sei die Beklagte zur
Speicherung der dem jeweiligen Nutzer zugeteilten dynamischen IP-Adressen
für einen Zeitraum von sieben Tagen nach dem Ende der jeweiligen Internet-
verbindungen gemäß § 100 Abs. 1 TKG befugt. Die in Rede stehende Datener-
hebung und
–verwendung sei geeignet, erforderlich und im engeren Sinne ver-
hältnismäßig, um Gefahren für die Funktionsfähigkeit des Telekommunikations-
betriebs entgegenzuwirken. Die Identität des jeweiligen Internetbenutzers sei
aus der IP-Nummer selbst nicht zu entnehmen. Sie sei erst durch die Zusam-
menführung mit weiteren Angaben zu ermitteln. Dies finde nach dem wechsel-
seitigen Sachvortrag der Parteien nur bei dem konkreten Verdacht einer Stö-
rung oder eines Fehlers an den Telekommunikationsanlagen statt. Die Speiche-
rung sei zudem auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt. Die Interessen, de-
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nen die Datenspeicherung diene, seien von erheblichem Gewicht. Soweit die
IP-Nummern zum Erkennen, Eingrenzen oder Beseitigen von Störungen oder
Fehlern notwendig seien, würde der Verzicht auf die von der Beklagten prakti-
zierte Speicherung angesichts der gerichtsbekannten Häufigkeit von "Denial-of-
Service-Attacken" und der Versendung von Spam-Mails, Schad- und Spionage-
programmen zu einer schwerwiegenden und nachhaltigen Beeinträchtigung der
Kommunikationsinfrastruktur führen, und zwar zum Schaden der Beklagten und
aller ihrer Kunden.
Nach den überzeugenden Angaben des vom Gericht beauftragten Sach-
verständigen gebe es jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Technik keine
anderen Möglichkeiten als die von der Beklagten praktizierte Speicherung, um
Störungen der Telekommunikationsanlagen zu erkennen, einzugrenzen und
notfalls zu beseitigen. Der Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt,
dass bei der Beklagten monatlich mehr als 500.000 Missbrauchs-(Abuse-)Mel-
dungen eingingen, von denen 162.000 im Zusammenhang mit Spams stünden.
164.000 hätten einen potentiell direkten Einfluss auf die Infrastruktur und die
Dienste der Beklagten. Daneben gebe es Abusemeldungen zu anderen Arten
von Missbräuchen (Schadcodes auf Webseiten, Hacking und dergleichen). Der
Sachverständige habe in sich stimmig und nachvollziehbar erläutert, dass das
von der Beklagten entwickelte System zur Abwehr dieser Beeinträchtigungen
erforderlich sei und beibehalten werden müsse. Es habe auch dazu geführt,
dass es kaum Fälle gegeben habe, in denen ein anderes Telekommunikations-
unternehmen einen bestimmten Adressraum der Beklagten wegen von dort
massenhaft ausgehender Spams mit der Folge gesperrt habe, dass aus dem
Adressbereich kommende Nachrichten überhaupt nicht mehr angenommen
worden seien.
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Der gerichtlich bestellte Sachverständige habe neben der grundsätzli-
chen Sinnhaftigkeit der Verfahrensweise der Beklagten auch geprüft, ob Verän-
derungen denkbar seien, mit Hilfe derer die Speicherung der IP-Adressen für
sieben Tage überflüssig werden könnte und ob entgegen der vom Bundesbe-
auftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit geteilten Auffassung der
Beklagten zumindest der Speicherzeitraum verkürzt werden könnte. Danach
scheide aber insbesondere die vom Sachverständigen angesprochene und the-
oretisch bestehende Möglichkeit der sogenannten Pseudonymisierung, bei der
die IP-Adresse nicht gespeichert würde, aus. Zwar wäre es bei diesem Verfah-
ren möglich, die Kundenkennung nicht mit der IP-Adresse, sondern einer zu-
sätzlichen Zeichenkette zu verknüpfen, die nicht automatisch einem bestimmten
Kunden zuzuordnen wäre. Die Pseudonymisierung müsste aber in jedem ein-
zelnen Fall des § 100 Abs. 1 TKG wieder aufgehoben werden, wozu eine ver-
trauenswürdige Stelle angerufen werden müsste. Der Sachverständige habe
nachvollziehbar und unwidersprochen dargelegt, dass der damit verbundene
Mehraufwand angesichts der Vielzahl der Fälle, die monatlich abzuwickeln sei-
en, in der Praxis nicht vertretbar sei.
II.
Dies hält den Angriffen der Revision stand.
1.
Gegen die auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen
getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erhebt die Re-
vision weder zum Verfahren noch in der Sache Rügen. Hierfür hätte auch keine
Veranlassung bestanden.
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2.
Unbehelflich für den geltend gemachten Anspruch, die jeweils dem Klä-
ger zugeteilte IP-Nummer nach Beendigung der einzelnen Verbindung in das
Internet zu löschen, ist der Hinweis der Revision auf die vom Sachverständigen
kursorisch angesprochene Möglichkeit der "Pseudonymisierung", die die Be-
klagte entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht generell, sondern
allein für den Kläger vornehmen könne.
Bei diesem Verfahren soll die Kundenkennung nicht mit der für die Inter-
netverbindung genutzten IP-Adresse verknüpft werden, sondern mit einer ande-
ren anonymen Zeichenfolge. Im Fall des Verdachts eines Missbrauchs würde
die Zuordnung dieser Kennung zu den Daten des Nutzers - im Gegensatz zur
Praxis der Beklagten - nicht automatisch, sondern durch eine neutrale Stelle
erfolgen. Allerdings ist auch die - zudem dynamisch, das heißt ständig wech-
selnden Anschlüssen zugeteilte - IP-Nummer für sich genommen anonym, wie
das Berufungsgericht vom Kläger unbeanstandet festgestellt hat. Ihre Zuord-
nung zu einem Kunden wird erst durch die Verknüpfung mit den Sessionsdaten
des Nutzers ermöglicht. Insoweit unterscheidet sich das derzeitige Verfahren
der Beklagten letztlich nicht von der vom Sachverständigen angeschnittenen
"Pseudonymisierung". Der mit dieser bewirkte Gewinn an Datenschutz würde
dementsprechend maßgeblich nicht infolge der Ersetzung der IP-Adresse durch
eine andere Zeichenfolge bewirkt, sondern wäre darauf zurückzuführen, dass
eine automatische Verknüpfung der anonymen Zeichenfolge (gleichgültig, ob
IP-Adresse oder andere Kennung) durch die Beklagte selbst unterbleibt und
stattdessen eine dritte Stelle zwischengeschaltet würde, die die Rückgängig-
machung der Pseudonymisierung vornähme. Dies ist jedoch, wie das Beru-
fungsgericht auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen von
der Revision unbeanstandet festgestellt hat, angesichts der hohen Zahl der Vor-
fälle der Beklagten nicht zuzumuten. Der Kläger kann dem auch nicht mit Erfolg
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entgegenhalten, die Einschaltung der dritten Stelle könne auf seine Person oder
seinen Anschluss beschränkt werden. Die Beklagte wäre rechtlich allen ande-
ren Kunden gegenüber verpflichtet, ebenso zu verfahren wie gegenüber dem
Kläger.
3.
Im Übrigen tritt die Revision der Rechtsauffassung des Senats in seinem
ersten Revisionsurteil in dieser Sache vom 13. Januar 2011 (aaO) entgegen.
Auch unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten Angriffe hält der
Senat nach Überprüfung jedoch an seinem Rechtsstandpunkt fest.
a) Zu Unrecht meint die Revision unter Bezugnahme auf Randnummer
24 des Urteils vom 13. Januar 2011, der Begriff der "Störung" an Telekommuni-
kationsanlagen im Sinne des § 100 Abs. 1 TKG umfasse entgegen der Ansicht
des Senats nicht die Sperrung einzelner IP-Adresskontingente der Beklagten
durch andere Internetanbieter, wenn von diesen Bereichen aus Schadpro-
gramme, sogenannte Spam-Mails oder "Denial-of-Service"-Attacken ausgingen.
Sie meint, "System" im Sinne der Definition des Begriffs der Telekommunikati-
onsanlagen in § 3 Nr. 23 TKG sei nur ein technisches System. Werde ein be-
stimmter IP-Adressbereich gesperrt, werde die Telekommunikationsanlage der
Beklagten selbst nicht gestört. Das System laufe in diesem Fall unbeeinträchtigt
weiter. Die betroffenen Adressenkontingente könnten an dem System weiter
teilnehmen, nur nicht im Verhältnis zu dem sperrenden anderen Internetdienst-
leister, der sie infolge seiner geschäftspolitischen Entscheidung nicht mehr be-
dienen wolle.
Dies kann nicht überzeugen. Daraus, dass sich das Adjektiv "technische"
in § 3 Nr. 23 TKG auch auf den Begriff des "Systems" bezieht, ist für die
Rechtsposition des Klägers nichts herzuleiten. Wie die Revision selbst nicht
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verkennt, kommt eine Störung des "technischen Systems" nach § 100 Abs. 1
TKG nicht nur in Betracht, wenn die physikalische Beschaffenheit der für die
Telekommunikation verwendeten Gerätschaften verändert wird. Vielmehr liegt
nach dem Zweck der Vorschrift eine Störung des Systems auch vor, wenn die
eingesetzte Technik die ihr zugedachten Funktionen nicht mehr richtig oder
vollständig erfüllen kann (Gramlich in Manssen, Telekommunikations- und Mul-
timediarecht, C § 100 Rn. 16 [Stand: 8/08]; Kannenberg in Scheurle/Mayen,
TKG, 2. Aufl., § 100 Rn. 6 f; Mozek in Säcker, TKG, 3. Aufl., § 100 Rn. 7). Ent-
gegen der Ansicht der Revision tritt eine Funktionseinschränkung des techni-
schen Systems der Beklagten auch dann ein, wenn einzelne ihrer IP-Nummern-
bereiche von anderen Internetdiensten gesperrt werden. In diesem Fall sind die
von diesen Anbietern unterhaltenen Web- und Mailserver für die Kunden der
Beklagten nicht mehr erreichbar. Damit können deren technischen Einrichtun-
gen und Systeme nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen, den Nutzern den uneinge-
schränkten Zugang zu sämtlichen öffentlichen Angeboten im Internet zu ver-
schaffen, wozu sich die Beklagte gegenüber ihren Kunden verpflichtet. Unmaß-
geblich ist, dass die bei der Versendung von Schadprogrammen, Spams und
dergleichen aus dem Netz der Beklagten drohende Sperrung ihrer IP-Kontin-
gente durch andere Anbieter auf deren autonomer Entscheidung beruht. Die
Blockierung der Nummernbereiche wird in diesen Fällen durch die aus der
technischen Sphäre der Beklagten stammenden Missbräuche des Internets
herausgefordert und stellt in der Regel eine verständliche und angemessene
Reaktion der anderen Dienstanbieter zum Schutz ihrer Anlagen und Nutzer dar.
b) Nicht zu folgen vermag der Senat der Revision auch, soweit sie sich
die an dem Senatsurteil vom 13. Januar 2011 (aaO) geäußerte Kritik von Braun
(
Beck‘ scher TKG-Kommentar, 4. Aufl., § 100 Rn. 10 f mwN; siehe aber dem-
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gegenüber z.B. auch Eckhardt, DSB 2011, 22, 23 f; Karg, MMR 2011, 345, 346)
zu eigen macht.
In methodischer Hinsicht beanstandet er, die vom Senat in Randnummer
24 des Urteils zum Beleg für sein weites Verständnis des Störungsbegriffs des
§ 100 Abs. 1 TKG angeführte Begründung der Bundesregierung zur Ergänzung
von § 15 TMG (BT-Drs. 16/11967, S. 17) sei nicht aussagekräftig, weil die vor-
gesehene Gesetzesänderung nicht erfolgt sei. Dies hat der Senat indessen be-
rücksichtigt, wie in seiner Formulierung "durch den eine mit § 100 Abs. 1 TKG
fast wortgleiche Bestimmung an § 15 des Telemediengesetzes angefügt wer-
den sollte" zum Ausdruck kommt. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, dass die
Begründung der von der Bundesregierung vorgeschlagenen, aber letztlich nicht
zustande gekommenen Änderung des Telemediengesetzes keine Aussagekraft
für die Auslegung von § 100 Abs. 1 TKG haben kann. Diese Bestimmung und
der von der Bundesregierung vorgeschlagene Absatz 9 von § 15 TMG haben
fast denselben Wortlaut. Zudem sind die Störungsszenarien, die beiden Vor-
schriften zugrunde liegen, vergleichbar. Auch wenn die Anbieter von Tele-
medien in stärkerem Maße von Spams, Denial-of-Service-Attacken, Schadpro-
grammen und dergleichen unmittelbar betroffen sein mögen als ein Teilneh-
mernetzbetreiber, können solche Missbräuche aus den im Senatsurteil vom
13. Januar 2011 (aaO) und oben unter Buchstabe a ausgeführten Gründen
auch zu Störungen der Anlagen der Beklagten führen. Überdies haben nach
den von der Revision hingenommenen tatrichterlichen Feststellungen monatlich
etwa 164.000 bei der Beklagten auflaufende Missbrauchsmeldungen Angriffe
zum Gegenstand, die sich potentiell unmittelbar schädlich auf die Infrastruktur
und die Dienste der Beklagten auswirken.
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Weiter wird geltend gemacht (Braun aaO), der Erwägungsgrund 29 der
Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz
der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (ABl. L 201 S. 37; nach-
folgend: RL) spreche gegen die vom Senat für richtig gehaltene weite Ausle-
gung des Begriffs der "Störung" im Sinne von § 100 Abs. 1 TKG. Zudem sehe
der Erwägungsgrund 29 die Verarbeitung von Verkehrs- und Bestandsdaten nur
in Einzelfällen, nicht aber anlasslos, vor. Daher müsse § 100 Abs. 1 TKG über
eine unionsrechtskonforme Auslegung entsprechend verstanden werden (aaO
Rn. 12).
Diese Kritik ist bereits deshalb unbegründet, weil der im vorliegenden
Fall zu entscheidende Sachverhalt von demjenigen, der in Erwägungsgrund 29
der genannten Richtlinie behandelt wird, nicht erfasst ist. Der Erwägungsgrund
befasst sich allein mit der Verarbeitung von Verkehrsdaten, die (nur) in Einzel-
fällen erfolgen soll, um technische Versehen oder Fehler bei der Übertragung
von Nachrichten zu ermitteln. Vorliegend steht jedoch die Berechtigung der Be-
klagten im Streit, auch ohne konkreten Anlass die von ihren Kunden genutzten
IP-Adressen zu speichern. Die Speicherung und die Verarbeitung von perso-
nenbezogenen Daten sind Vorgänge, die in der Richtlinie unterschieden wer-
den. Dies gilt insbesondere für Art. 6 Abs. 1 RL, der - vorbehaltlich der hier ein-
schlägigen Maßgaben des Art. 15 Abs. 1 RL - die grundsätzliche Pflicht zur
Löschung oder Anonymisierung der Verkehrsdaten nach der Übertragung von
Nachrichten vorschreibt (siehe auch Erwägungsgrund 7 und Art. 4 Abs. 1a,
zweiter Spiegelstrich RL).
Aber auch dessen ungeachtet geht die Beanstandung von Braun (aaO)
fehl. Wie der Senat in seinem Urteil vom 13. Januar 2011 (aaO Rn. 33) ausge-
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führt hat, wird § 100 Abs. 1 TKG von Art. 15 Abs. 1 RL gedeckt. Danach können
die Mitgliedstaaten Vorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß
Art. 6 RL beschränken, wenn dies unter anderem zur Verhütung, Ermittlung,
Feststellung und Verfolgung des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen
Kommunikationssystemen notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist.
Technische Versehen oder Fehler bei der Übertragung von Nachrichten (Erwä-
gungsgrund 29 RL) können zwar zwei von mehreren denkbaren Folgen eines
solchen Missbrauchs sein, können aber auch eine Fülle anderer Ursachen ha-
ben. Die dem Erwägungsgrund 29 und Art. 15 Abs. 1 RL jeweils zugrunde lie-
genden Sachverhalte überlappen sich damit nur teilweise. Die Anwendungsbe-
reiche unterscheiden sich aber im Übrigen weitgehend, wie sich deutlich aus
dem Wortlaut des Erwägungsgrunds und der Vorschrift ergibt. Für die von der
Revision der Sache nach befürwortete einschränkende Auslegung von Art. 15
Abs. 1 RL und damit des Störungsbegriffs von § 100 Abs. 1 TKG im Lichte des
Erwägungsgrunds 29 RL ist deshalb kein Raum.
4.
Unbehelflich ist weiter der Hinweis des Klägers in seinem die Revisions-
begründung ergänzenden Schriftsatz vom 31. März 2014, eine Störung gemäß
§ 100 Abs. 1 TKG sei nicht deckungsgleich mit der in Art. 15 Abs. 1 RL enthal-
tenen Voraussetzung für die Beschränkungen von Art. 6 Abs. 1 RL, dass diese
notwendig sind für die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung des
unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen. Dies ist
zwar rein begrifflich betrachtet richtig. Hieraus kann der Kläger jedoch inhaltlich
nichts für seine Rechtsposition herleiten. Wie der Senat in seinem ersten Urteil
ausgeführt hat, stellen die Missbräuche des Internets, die in der Versendung
von Spam-Mails, Schad- und Spionageprogrammen sowie in "Denial-of-Ser-
vice-Attacken" und dergleichen bestehen, einen unzulässigen Gebrauch elekt-
ronischer Kommunikationssysteme gemäß Art. 15 Abs. 1 RL dar (aaO Rn. 33)
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dar. Derartige Missbräuche haben aus den in Randnummer 24 seines Urteils
vom 13. Januar 2011 und oben unter Nummer 3 ausgeführten Gründen vielfach
Störungen der Telekommunikationsanlagen des Netzbetreibers gemäß § 100
Abs. 1 TKG zur Folge. Ist die Ausnahme von der Löschungspflicht nach Art. 6
Abs. 1 RL bereits zur Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von
Missbräuchen der Kommunikationssysteme zulässig, muss dies erst Recht zum
Erkennen, Eingrenzen oder Beseitigen von hieraus resultierenden Störungen
der Telekommunikationsanlagen des Netzbetreibers im Sinne des § 100 Abs. 1
TKG gelten, zumal beides in der Praxis kaum zu unterscheiden ist. Der von der
Revision geltend gemachte inhaltliche Widerspruch zwischen Art. 15 Abs. 1 RL
und § 100 Abs. 1 TKG besteht damit nicht.
5.
Schließlich gibt auch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union
vom 8. April 2014 (C-293/12 u.a. - Digital Rights Ireland Ltd. u.a., BeckRS 2014,
80686), mit dem die Ungültigkeit der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von
Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommu-
nikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbei-
tet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. Nr. L 105 S. 54)
ausgesprochen wurde, dem Senat keinen Anlass, seinen im ersten Revisions-
urteil vom 13. Januar 2011 (aaO) eingenommenen Rechtsstandpunkt zu revi-
dieren. Maßgeblich für die Ungültigkeit dieser Richtlinie, die eine anlasslose
Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Bestandsdaten für mindestens sechs
Monate vorsah, war nach der Entscheidung des Gerichtshofs das Fehlen eines
objektiven Kriteriums, das es ermöglichte, den Zugang der zuständigen nationa-
len Behörden zu den Daten und deren spätere Nutzung zwecks Verhütung und
Verfolgung von Straftaten auf solche Delikte zu beschränken, die unter Berück-
sichtigung des Ausmaßes und der Schwere des Grundrechtseingriffs als hinrei-
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chend schwer angesehen werden konnten, um den Eingriff zu rechtfertigen
(aaO Rn. 60). Weiterhin monierte der Gerichtshof, dass die Richtlinie keine ma-
teriell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Zugang der zustän-
digen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten und deren spätere
Nutzung enthielt. Es fehle eine ausdrückliche Bestimmung, dass sich der Zu-
gang zu den und die spätere Nutzung der Daten strikt auf die Zwecke der Ver-
hütung und der Verfolgung genau abgegrenzter schwerer Straftaten beschrän-
ke (aaO Rn. 61). Vor allem unterliege der Zugriff der nationalen Behörden zu
den auf Vorrat gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle eines Gerichts
oder einer anderen unabhängigen Stelle, deren Entscheidung die Wahrung der
Verhältnismäßigkeit gewährleiste (aaO Rn. 62). Schließlich beanstandete der
Gerichtshof, dass die Mindestspeicherfrist für sämtliche Datenkategorien sechs
Monate betragen sollte, ohne dass die Festlegung auf objektiven Kriterien be-
ruhte, die gewährleisteten, dass sie auf das absolut Notwendige beschränkt
wurde (aaO Rn. 63 f).
Diese Erwägungen sind auf die hier im Streit befindliche siebentägige
Speicherung von IP-Adressen zu den in § 100 Abs. 1 TKG bestimmten
Zwecken nicht übertragbar. Die Speicherung erfolgt nicht für die Zwecke der
Strafverfolgungsbehörden, sondern im Interesse des Netzbetreibers. Ein Zugriff
von Polizei oder Staatsanwaltschaft auf die gespeicherten Daten ist in dieser
Rechtsgrundlage nicht vorgesehen. Überdies ist die Speicherfrist von sieben
Tagen nach den aufgrund sachverständiger Beratung getroffenen, nicht ange-
griffenen tatrichterlichen Feststellungen auf das zur Erreichung der legitimen
Zwecke des § 100 Abs. 1 TKG notwendige Maß begrenzt. Sie ist auch ihrer
absoluten Dauer nach nicht mit der in der genannten Richtlinie bestimmten
Mindestfrist von sechs Monaten vergleichbar.
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6.
Eine Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Union
gemäß Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV ist auch weiterhin entbehrlich. Insoweit nimmt
der Senat auf sein erstes Revisionsurteil in dieser Sache (aaO Rn. 35) Bezug.
Die in der vorliegenden Entscheidung ergänzend angestellten Erwägungen zum
europäischen Recht ergeben sich ebenfalls ohne weiteres mit der zur Anwen-
dung der acte clair-Doktrin (siehe dazu Senatsurteil vom 13. Januar 2011 aaO
mwN) erforderlichen Eindeutigkeit aus dem Wortlaut des Art. 15 Abs. 1 RL und
des Erwägungsgrunds 29 RL sowie aus dem Urteil des Gerichtshofs vom
8. April 2014 (aaO).
Schlick
Herrmann
Wöstmann
Seiters
Reiter
Vorinstanzen:
LG Darmstadt, Entscheidung vom 06.06.2007 - 10 O 562/03 -
OLG Frankfurt in Darmstadt, Entscheidung vom 28.08.2013 - 13 U 105/07 -
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