Urteil des BGH vom 25.07.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 137/14
vom
25. Juli 2014
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
AufenthG § 62a
a) Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der
Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ableh-
nen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unions-
rechts untergebracht werden wird.
b) In Deutschland darf Ab- und Zurückschiebungshaft nach Art. 16 Abs. 1 der Richtli-
nie 2008/115/EG nur in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen werden.
c) Die Unterbringung der von Ab- oder Zurückschiebung Betroffenen in einem be-
sonderen Gebäude auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt ist keine Un-
terbringung in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1
der Richtlinie 2008/115/EG.
Umsetzung von EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - C 473/13 und C 514/13 - Bero
und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.
BGH, Beschluss vom 25. Juli 2014 - V ZB 137/14 - LG Köln
AG Köln
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Juli 2014 durch die
Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Dr. Roth, die Richterinnen
Dr. Brückner und Weinland und den Richter Dr. Kazele
beschlossen:
Die Vollziehung der mit Beschluss des Amtsgerichts Köln vom
8. Mai 2014 gegen den Betroffenen angeordneten und durch Be-
schluss der 39. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom
27. Juni 2014 aufrecht erhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen
ausgesetzt.
Gründe:
I.
Der Betroffene ist türkischer Staatsbürger und reiste am 27. April 2014
ohne Ausweis- oder Aufenthaltspapiere mit Hilfe eines Schleppers nach
Deutschland ein. Am 7. Mai 2014 wurde er in Köln bei dem Versuch festge-
nommen, sich unter Vorlage einer gefälschten bulgarischen Identitätskarte an-
zumelden. Mit Verfügung vom gleichen Tag drohte ihm die beteiligte Behörde
die Abschiebung an. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht am 8. Mai 2014 ge-
gen den Betroffenen Haft bis zum 6. August 2014 angeordnet. Die Haft wird in
einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Büren
vollzogen. Am 6. Juni 2014 hat der Betroffene aus der Haft heraus einen Asyl-
antrag gestellt. Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat
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das Landgericht mit Beschluss vom 27. Juni 2014 die Rechtswidrigkeit der Haft
für den Zeitraum vom 8. Mai 2014 bis zum 27. Juni 2014 festgestellt und die
weitergehende Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen hat der Betroffene
Rechtsbeschwerde eingelegt.
Einen ersten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angeordneten
Haft hat der Senat mit Beschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Mit dem
vorliegenden zweiten Aussetzungsantrag macht der Betroffene geltend, der
Vollzug der Haft in der Justizvollzugsanstalt Büren widerspreche dem Urteil des
Gerichtshofs der Europäischen Union vom 17. Juli 2014 (Rs. 473/13 und
514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095).
II.
Der Aussetzungsantrag hat Erfolg.
1. Er ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft
(Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97 Rn. 3).
Seiner Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass der Senat den ersten Ausset-
zungsantrag des Betroffenen abgelehnt hat. Der Zurückweisungsbeschluss er-
wächst nicht in Rechtskraft. Deshalb kann eine Aussetzung bei Vorliegen der
tatsächlichen Voraussetzungen auch angeordnet werden, wenn ein vorausge-
gangener Aussetzungsantrag zurückgewiesen worden ist (vgl. auch BGH, Be-
schluss vom 4. März 2009 - AnwZ (B) 78/08, juris Rn. 3). Ein Rechtsschutzbe-
dürfnis für den erneuten Antrag besteht jedenfalls deshalb, weil der Betroffene
unter Hinweis auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der
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Europäischen Union nunmehr erstmals die rechtswidrige Unterbringung in der
Justizvollzugsanstalt Büren rügt.
2. Der Antrag ist auch begründet, weil die Rechtsbeschwerde des Be-
troffenen nach der gebotenen summarischen Prüfung erfolgreich sein wird. Im
Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der
Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ab-
lehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des
Unionsrechts untergebracht werden wird (Senat, Vorlagebeschluss vom
11. Juli 2013 - V ZB 40/11, NVwZ 2014, 166, Rn. 20). Diese Voraussetzungen
liegen hier vor.
a) Die Unterbringung des Betroffenen in der Justizvollzugsanstalt Büren
widerspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
aa) Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG erfolgt die In-
haftierung von Betroffenen zur Sicherung der Ab- oder Zurückschiebung grund-
sätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Zwar dürfen Betroffene nach Art. 16
Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie in
„gewöhnlichen Haftanstalten“ untergebracht wer-
den, wenn in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vor-
handen sind. Diese Ausnahme trifft aber nach der Rechtsprechung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union für Deutschland nicht zu, weil in mehreren
deutschen Bundesländern spezielle Einrichtungen vorhanden sind (EuGH, Ur-
teil vom 17. Juli 2014 - C 473/13 und C 514/13 - Bero und Bouzalmate,
ECLI:EU:C:2014: 2095 Rn. 30 f.).
§ 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist in diesem Sinne richtlinienkonform ein-
schränkend auszulegen. Dem steht nicht entgegen, dass die Vorschrift nach
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ihrem Wortlaut auf die Verhältnisse in dem betroffenen Bundesland und nicht
auf die Verhältnisse in Deutschland insgesamt abstellt. Der Gesetzgeber hat mit
der Vorschrift ausweislich der Entwurfsbegründung Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie
ohne Abstriche umsetzen wollen (BT-Drucks. 17/5470 S. 25). Er hat dabei ein
- wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergibt - fehlerhaftes Verständnis der
Richtlinie zugrunde gelegt, was aber an dem Willen zur richtlinienkonformen
Anpassung des nationalen deutschen Rechts nichts ändert. Einem solchen
Versehen ist mit einer richtlinienkonformen - hier einschränkenden - Auslegung
Rechnung zu tragen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - VIII ZR 70/08,
BGHZ 192, 148 Rn. 26; Senat, Beschluss vom 8. Januar 2014 - V ZB 137/12,
InfAuslR 2014, 148 Rn. 9-11).
bb) Nach dem erwähnten Urteil des Gerichtshofs kann die Unterbringung
eines Betroffenen in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände einer Jus-
tizvollzugsanstalt, anders als die beteiligte Behörde meint, auch nicht als Unter-
bringung in einer speziellen Hafteinrichtung angesehen werden, wie sie von Art.
16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verlangt wird. Wenn Betroffene in einem Mit-
gliedstaat überhaupt in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden dür-
fen, dürfte dies nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG nur
„ge-
sondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen“ geschehen. In einem weiteren
Urteil vom 17. Juli 2014 hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausdrück-
lich darauf hingewiesen, dass sich aus dem Wortlaut dieser Norm die unbeding-
te Verpflichtung ergibt, die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen von den
gewöhnlichen Strafgefangenen zu trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in
speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann (Rs. C-474/13 - Pham,
ECLI:EU:C:2014:2096 Rn. 17, 21). Daraus folgt, dass eine solche gesonderte
Unterbringung von Betroffenen auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftan-
stalt keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung sein kann. Sie ist
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- unabhängig von ihrer Ausgestaltung im Einzelnen - eine Unterbringung in ei-
ner gewöhnlichen Haftanstalt, die in Deutschland, wie ausgeführt, generell nicht
zulässig ist.
cc) Die Justizvollzugsanstalt Büren dient nach Teil 4 des geltenden Voll-
streckungsplans für das Land Nordrhein-Westfalen (Allgemeinverfügung des
Justizministeriums vom 16. September 2003 - 4431 - IV B. 28) dem Vollzug der
Abschiebungshaft, der Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten und der Ersatz-
freiheitsstrafe. Es handelt sich deshalb um eine gewöhnliche Haftanstalt, in der
auch von einer Ab- oder Zurückschiebung Betroffene untergebracht sind. Diese
Art der Unterbringung widerspricht dem Unionsrecht.
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b) Daran gemessen ist jedenfalls der weitere Vollzug der Haft rechtswid-
rig, weil der Betroffene derzeit unter Verstoß gegen die Vorgaben des Unions-
rechts untergebracht ist und die Behörde eine Änderung der Unterbringung ab-
gelehnt hat.
Schmidt-Räntsch
Roth
Brückner
Weinland
Kazele
Vorinstanzen:
AG Köln, Entscheidung vom 08.05.2014 - 507a XIV (B) 39/14 -
LG Köln, Entscheidung vom 27.06.2014 - 39 T 119/14 -
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