Urteil des BGH vom 19.08.2014

BGH: reformatio in peius, geschwindigkeit, kollision, kaserne, überzeugung, mitverschulden, beweislast, auflage, unterliegen, fahrzeug

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZR 308/13
vom
19. August 2014
in dem Rechtsstreit
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. August 2014 durch den
Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Wellner, die Richterinnen
Diederichsen, von Pentz und den Richter Offenloch
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Be-
schluss des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom
26. Juni 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten
des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 23.680,17
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Ersatz materiellen und immateriel-
len Schadens nach einem Verkehrsunfall in Anspruch. Der Kläger ist Zeitsoldat.
Seine Dienststelle befindet sich in der M-I.-Kaserne in M. Am 20. Januar 2010
gegen 7.05 Uhr bei 0 Grad Celsius und nassen Straßen überquerte der Kläger
- der eine Tarnuniform trug - zu Fuß den vor dem Kaserneneingang gelegenen
und als solchen gekennzeichneten Fußgängerüberweg. Als er etwa die Mitte
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der Straße erreicht hatte, wurde er von dem vom Beklagten zu 1 geführten und
bei der Beklagten zu 2 versicherten Kraftfahrzeug erfasst und schwer verletzt.
Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 1 habe sich der Unfallstelle mit überhöh-
ter Geschwindigkeit genähert. Die Beklagten behaupten, der Kläger sei plötzlich
und unvermittelt im Lichtkegel des Scheinwerfers des Fahrzeuges aufgetaucht.
Die sofort eingeleitete Vollbremsung habe die Kollision nicht mehr verhindern
können.
Das Landgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote
von 50 % entsprochen. Es hat die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an
den Kläger 6.235,44
€ (Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 €, Haushaltsfüh-
rungsschaden in Höhe von 1.340,16
€, Fahrtkosten in Höhe von 382,50 €,
Schadenspauschale in Höhe von 12,78
€ abzüglich geleisteter Zahlungen der
Beklagten in Höhe von 10.500
€) zu zahlen. Darüber hinaus hat es festgestellt,
dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 50 %
seiner weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen. Die weiter
gehende Klage hat es abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klä-
gers hat das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 26. Juni 2013 einstimmig
als unbegründet zurückgewiesen. Es hat dabei zugrunde gelegt, dass die Be-
klagten lediglich in Höhe von 40 % hafteten. Hiergegen wendet sich der Kläger
mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544
Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückver-
weisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat
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den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entschei-
dungserheblicher Weise verletzt.
1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG
ist das Berufungsgericht zu der Beurteilung gelangt, der Kläger habe sich durch
ein Beharren auf seinem Vorrecht offensichtlich unvernünftig der Gefahr ausge-
setzt, auf dem Fußgängerüberweg angefahren zu werden.
a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass sich die offensichtlich un-
vernünftige Selbstgefährdung des Klägers vorliegend darin gezeigt habe, dass
er entweder auf den Verkehr überhaupt nicht geachtet habe, etwa weil er in Eile
gewesen sei, oder den Beklagten zu 1 gesehen und gemeint habe, dass dieser
noch rechtzeitig werde anhalten können. Im Hinweisbeschluss, auf den das Be-
rufungsgericht in seinem Zurückweisungsbeschluss Bezug genommen hat, hat
es weiter ausgeführt, der Kläger habe selbst nicht vorgetragen, dass er vor dem
Überqueren des Fußgängerüberwegs angehalten habe, um den fließenden
Verkehr zu beobachten. Auch habe er nicht dargelegt, aus welchen Gründen er
das herannahende Fahrzeug des Beklagten zu 1 nicht habe erkennen können.
Unerheblich sei, dass es möglich sein könne, dass der Beklagte zu 1 schneller
als mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren sei. Seine
diesbezügliche Behauptung habe der Kläger nicht bewiesen.
b) Gegen diese Beurteilung wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde
mit Erfolg. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht eine vom Klä-
ger vorgetragene alternative Möglichkeit der Unfallverursachung, die ein
schuldhaftes Verhalten des Klägers ausschließen oder jedenfalls in günstige-
rem Licht erscheinen lassen könnte, unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG
nicht berücksichtigt hat. Der Kläger hatte mit Schriftsatz vom 10. Juni 2011, S. 3
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vorgetragen, der Beklagte zu 1 habe seiner Lebensgefährtin unmittelbar nach
dem Unfall erklärt, mit einer Geschwindigkeit von 60 bis 65 km/h gefahren zu
sein. Die vom Kläger zum Beweis dieser Behauptung benannte Zeugin S.
ist zu dieser Frage nicht vernommen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde
rügt darüber hinaus zu Recht, dass das Berufungsgericht die Angaben des
Sachverständigen in seinem Gutachten vom 4. Februar 2010, S. 10 sowie in
der mündlichen Verhandlung vom 4. Februar 2010 (Protokoll S. 12 unten) nicht
berücksichtigt hat, wonach die Geschwindigkeit des Fahrzeugs der Beklagten
noch rund 45 km/h betragen habe bzw. wonach von einer
Kollisionsgeschwindigkeit von 45 bis 50 km/h auszugehen sei, obwohl der Be-
klagte zu 1 vor der Kollision eine Vollbremsung eingeleitet hatte. Diese ihm
günstigen Angaben hat sich der Kläger jedenfalls konkludent zu eigen gemacht
(vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468;
Senatsbeschluss vom 30. November 2010 - VI ZR 25/09, VersR 2011, 1158
Rn. 9).
Das Berufungsgericht hat darüber hinaus - wie die Nichtzulassungsbe-
schwerde zu Recht geltend macht - den Vortrag des Klägers in der Klageschrift
und im Schriftsatz vom 10. Juni 2011 nicht berücksichtigt, wonach der Beklagte
die örtlichen Verhältnisse bestens kenne, weil er in der Nähe wohne und des-
halb gewusst habe, dass sich dort ein Fußgängerüberweg befinde, der zu der
Kaserne führe und von Soldaten in der Zeit zwischen 7.00 Uhr und 7.15 Uhr
benutzt werde.
2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berück-
sichtigung des Vorbringens des Klägers zu einer anderen Beurteilung gelangt
wäre.
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3. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit
haben, sich auch mit den weiteren Einwendungen des Klägers auseinanderzu-
setzen. Es wird dabei insbesondere zu beachten haben, dass der Ersatzan-
spruch des Klägers, den als Fußgänger im Gegensatz zu den Beklagten keine
Gefährdungshaftung trifft, gemäß § 9 StVG, § 254 BGB nur dann gekürzt wer-
den darf, wenn feststeht, dass er den Schaden durch sein Verhalten mitverur-
sacht oder mitverschuldet hat. Auf die "bloße Unterstellung der wahrscheinlichs-
ten Parameter" (vgl. Zurückweisungsbeschluss S. 3 unter 2. a) kann ein Mitver-
schulden des Klägers nicht gestützt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Über-
zeugung des Gerichts nach dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Darlegungs-
und Beweislast für ein Fehlverhalten des Klägers trifft dabei die Beklagten.
Das Berufungsgericht wird auch zu berücksichtigen haben, dass es sich
bei dem Schmerzensgeldanspruch und dem Anspruch auf Ersatz materiellen
Schadensersatzes um prozessual selbständige Streitgegenstände handelt (Se-
nat, Beschluss vom 25. April 1989 - VI ZB 13/89, VersR 1989, 818; Urteil vom
22. Mai 1984 - VI ZR 228/82, VersR 1984, 782, 783; BGH, Urteil vom 18. März
1959 - IV ZR 182/58, BGHZ 30, 7, 18; Zöller, ZPO, 30. Auflage, Einleitung
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Rn. 73). Sie unterliegen jeweils für sich genommen dem Verbot der reformatio
in peius (vgl. BGH, Urteil vom 12. September 2002 - IX ZR 66/01, VersR 2003,
509).
Galke
Richter am Bundesgerichtshof
Diederichsen
Wellner ist wegen Urlaubs
gehindert, seine Unterschrift
beizufügen
Galke
von Pentz
Offenloch
Vorinstanzen:
LG Ingolstadt, Entscheidung vom 30.01.2013 - 33 O 623/11 -
OLG München, Entscheidung vom 26.06.2013 - 10 U 750/13 -