Urteil des BGH vom 30.04.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
III ZB 86/13
vom
30. April 2014
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 234 Abs. 1 Satz 2 A, § 236 Abs. 2 Satz 2 D
Die Monatsfrist für die Berufungsbegründung nach § 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs.
2 Satz 2 ZPO beginnt für eine mittellose, um Prozesskostenhilfe nachsuchende
Partei bei versäumter Berufungsfrist erst mit der Mitteilung der Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist (Anschluss an BGH,
Beschlüsse vom 19. Juni 2007 - XI ZB 40/06, BGHZ 173, 14; vom 26. Mai 2008 - II
ZB 19/07, NJW-RR 2008, 1306 und vom 29. Mai 2008 - IX ZB 197/07, BGHZ 176,
379).
BGH, Beschluss vom 30. April 2014 - III ZB 86/13 - LG Berlin
AG Tempelhof-Kreuzberg
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. April 2014 durch den
Vizepräsidenten Schlick und die Richter Wöstmann, Tombrink, Dr. Remmert
und Reiter
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der Zi-
vilkammer 83 des Landgerichts Berlin vom 9. August 2013 - 83 S
67/12 - aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert des
Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 4.495 €
festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Beratertätigkeit auf Zahlung von
4.495 € nebst Zinsen in Anspruch.
Das Amtsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. Juni 2012, das den da-
maligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 8. Juni 2012 zugestellt wor-
den ist, abgewiesen. Mit am 8. Oktober 2012 eingegangenen Schriftsatz vom
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selben Tage hat der Kläger bei dem Berufungsgericht für eine beabsichtigte
Berufung Prozesskostenhilfe sowie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einreichung des Prozesskostenhilfe-
gesuchs beantragt. Er hat hierzu vorgetragen, dass sein Prozessbevollmächtig-
ter bereits am 6. Juli 2012 einen Prozesskostenhilfeantrag in den Nacht-
briefkasten des Berufungsgerichts eingeworfen habe. Durch Beschluss vom
22. Februar 2013, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am
26. Februar 2013, hat das Berufungsgericht den Prozesskostenhilfeantrag des
Klägers mangels hinreichender Erfolgsaussicht der beabsichtigten Berufung
zurückgewiesen. Am 15. März 2013 hat der Kläger gegen das amtsgerichtliche
Urteil Berufung eingelegt und zugleich beantragt, ihm wegen der Versäumung
der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren. Mit Eingang vom 2. April 2013 (Dienstag nach
Ostern) hat der Kläger seine Berufung begründet.
Durch den von der Rechtsbeschwerde angefochtenen Beschluss hat das
Berufungsgericht den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand hinsichtlich der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückge-
wiesen und seine Berufung als unzulässig verworfen.
II.
1.
Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 522 Abs. 1
Satz 4, § 238 Abs. 2 ZPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und
begründete Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, da die Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerde-
gerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).
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2.
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Zurückweisung des An-
trags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung
der Berufungsbegründungsfrist und die damit einhergehende Verwerfung der
Berufung als unzulässig verletzen den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht
auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip).
a) Das Berufungsgericht hat ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben,
ob der Prozesskostenhilfeantrag des Klägers innerhalb der Monatsfrist nach
§ 517 ZPO eingegangen sei und ihm daher Wiedereinsetzung in die Versäu-
mung der Berufungsfrist zu gewähren wäre. Die Berufung des Klägers sei je-
denfalls deshalb unzulässig, weil die Berufungsbegründung nicht innerhalb der
der hierfür gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 geltenden Monats-
frist eingegangen sei. Diese Frist habe mit der Zustellung des Ablehnungsbe-
schlusses vom 22. Februar 2013 am 26. Februar 2013 zu laufen begonnen und
sei am 26. März 2013 abgelaufen, mithin vor Eingang der Berufungsbegrün-
dung am 2. April 2013. Anders als für den Lauf der Berufungsfrist sei dem Beru-
fungsführer, dessen Prozesskostenhilfegesuch zurückgewiesen worden sei, für
die Berufungsbegründung keine zusätzliche Überlegungsfrist von 3 bis 4 Tagen
einzuräumen. Auch beginne - in Übereinstimmung mit der überwiegenden
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und entgegen der Auffassung des
XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19. Juni 2007 - XI ZB
40/06, NJW 2007, 3354) - die Monatsfrist nicht erst mit der Bekanntgabe der
Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wegen der Versäumung der
Berufungsfrist. Die Versäumung der Monatsfrist nach § 234 Abs. 1 Satz 2,
§ 236 Abs. 2 Satz 2 sei verschuldet worden, so dass insoweit keine Wiederein-
setzung von Amts wegen zu gewähren sei. Der Prozessbevollmächtigte des
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Klägers, dessen Verschulden sich der Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurech-
nen lassen müsse, habe nicht von einer zusätzlichen Überlegungsfrist von 3 bis
4 Tagen ausgehen dürfen. Darauf, dass die Monatsfrist erst mit der Bekanntga-
be der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wegen der Versäu-
mung der Berufungsfrist zu laufen beginne, habe der Prozessbevollmächtigte
des Klägers, wie aus seinem Schriftsatz vom 24. Mai 2013 hervorgehe, über-
haupt kein Vertrauen gesetzt.
b) Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ent-
gegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger die Monatsfrist
nach § 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht versäumt.
aa) Nach der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichts-
hofs, der sich der erkennende Senat anschließt, beginnt die Monatsfrist für die
Berufungsbegründung nach § 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO für
eine mittellose, um Prozesskostenhilfe nachsuchende Partei bei versäumter
Berufungsfrist erst mit der Mitteilung der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Die mittellose Partei soll näm-
lich erst dann zur Berufungsbegründung gehalten sein, wenn sie weiß, dass ihr
hinsichtlich der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung gewährt wor-
den ist (Beschluss vom 19. Juni 2007 - XI ZB 40/06, BGHZ 173, 14, 17 Rn. 9,
S. 19 ff Rn. 13 ff, insbesondere Rn. 23).
bb) Auf entgegenstehende Rechtsprechung anderer Zivilsenate des
Bundesgerichtshofs kann sich das Berufungsgericht nicht berufen. Der vom
Berufungsgericht zitierte Senatsbeschluss vom 29. Juni 2006 (III ZA 7/06, NJW
2006, 2857) betraf die - hier nicht vorliegende - Fallkonstellation, dass der Beru-
fungskläger erst nach erfolgter (unbedingter) Berufungseinlegung Antrag auf
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Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt hatte (vgl. auch Beschluss vom
19. Juni 2007 aaO S. 18 Rn. 10). Der weiter vom Berufungsgericht angeführte
Beschluss des IX. Zivilsenats vom 29. Mai 2008 (IX ZB 197/07, BGHZ 176, 379
= NJW 2008, 3500) behandelt die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Einlegungs- und Begründungsfrist für eine
Rechtsbeschwerde. Hier beginnt nach Meinung des IX. Zivilsenats die Frist
(auch) zur Begründung der Rechtsbeschwerde deshalb (schon) ab der Be-
kanntgabe der Gewährung von Prozesskostenhilfe und nicht (erst) ab Bekannt-
gabe der Bewilligung von Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einle-
gungsfrist, weil bei der Rechtsbeschwerde - im Unterschied zur Berufung und
zur Revision (oder Nichtzulassungsbeschwerde) - nicht zwischen zeitlich vonei-
nander abweichenden Einlegungs- und Begründungsfristen zu differenzieren,
sondern das Rechtsmittel innerhalb eines Monats sowohl einzulegen (§ 575
Abs. 1 Satz 1 ZPO) als auch zu begründen ist (§ 575 Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO;
vgl. Beschluss vom 29. Mai 2008 aaO S. 381 f Rn. 8). Für den Fall der Fristver-
säumung bei einer Berufung hat sich der IX. Zivilsenat in dieser Entscheidung
ausdrücklich der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats angeschlossen (aaO
S. 381 Rn. 6; siehe auch Beschluss vom 14. November 2012 - IX ZR 268/12,
BeckRS 2012, 23762 Rn. 2). Auch der II. Zivilsenat folgt der Rechtsprechung
des XI. Zivilsenats (s. Beschlüsse vom 26. Mai 2008 - II ZB 19/07, NJW-RR
2008, 1306, 1307 f Rn. 16 und vom 17. Mai 2010 - II ZB 12/09, NJOZ 2011,
647, 648 Rn. 13).
Allerdings trifft es zu, dass der XII. Zivilsenat (in einem obiter dictum) Be-
denken gegen die Rechtsprechung des XI. Zivilsenats geäußert hat (Beschluss
vom 11. Juni 2008 - XII ZB 184/05, NJW-RR 2008, 1313, 1314 f Rn. 16 ff); in
einer neueren Entscheidung hat er freilich offengelassen, ob trotz dieser Be-
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denken der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats zu folgen ist (Beschluss vom
19. Dezember 2012 - XII ZB 169/12, NJW 2013, 471, 472 Rn. 12 ff, 19).
cc) Über den Antrag des Klägers auf Gewährung von Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Berufungsfrist ist bislang
nicht entschieden worden, so dass die Monatsfrist für die Berufungsbegründung
(§ 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) noch nicht zu laufen begonnen
hat und mithin auch nicht abgelaufen ist.
c) Hiernach kommt es auf die vom Berufungsgericht und von der
Rechtsbeschwerde aufgeworfenen weiteren Fragen nicht an.
aa) Für eine zusätzliche Überlegungsfrist von 3 bis 4 Tagen, wie sie die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für den Beginn der Frist für den An-
trag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung
der Berufungsfrist unter gleichzeitiger Nachholung der Berufungseinlegung
nach Versagung von Prozesskostenhilfe angenommen hat (s. etwa BGH, Be-
schlüsse vom 19. Juli 2007 - IX ZB 86/07, BeckRS 2007, 12692 Rn. 10 mwN;
vom 20. Januar 2009 - VIII ZA 21/08, NJW-RR 2009, 789 Rn. 6 f mwN und vom
23. April 2013 - II ZB 21/11, NJW 2013, 2822, 2823 Rn. 16), ist in Bezug auf die
Berufungsbegründungsfrist weder Raum noch Bedarf, wenn die Monatsfrist
nach § 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO erst mit der Mitteilung der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungs-
frist zu laufen beginnt.
bb) Die Frage eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten des
Klägers bedarf keiner Erörterung, weil eine Versäumung der Monatsfrist für die
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Berufungsbegründung (§ 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO), wie
ausgeführt, nicht vorliegt.
3.
Nach alledem durfte das Berufungsgericht die Berufung nicht wegen der
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen. Der an-
gefochtene Beschluss ist daher aufzuheben und die Sache an das Berufungs-
gericht zurückzuverweisen, damit es (zunächst) über den Antrag des Klägers
auf Bewilligung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der
Versäumung der Berufungsfrist entscheidet; von dieser Entscheidung hat das
Berufungsgericht ausdrücklich abgesehen und insoweit auch keine Feststellun-
gen getroffen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
Schlick
Wöstmann
Tombrink
Remmert
Reiter
Vorinstanzen:
AG Berlin-Tempelhof-Kreuzberg, Entscheidung vom 04.06.2012 - 20 C 22/11 -
LG Berlin, Entscheidung vom 09.08.2013 - 83 S 67/12 -
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