Urteil des BGH vom 24.01.2013

Digibet Nachträglicher Leitsatz

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZR 171/10
Verkündet am:
24. Januar 2013
Bürk
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. November 2012 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und
die Richter Prof. Dr. Büscher, Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff und Dr. Löffler
beschlossen:
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Ausle-
gung des Art. 56 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
1. Stellt es eine inkohärente Beschränkung des Glücks-
spielsektors dar,
- wenn einerseits in einem als Bundesstaat verfassten
Mitgliedstaat die Veranstaltung und die Vermittlung öf-
fentlicher Glücksspiele im Internet nach dem in der
überwiegenden Mehrheit der Bundesländer geltenden
Recht grundsätzlich verboten ist und - ohne Rechts-
anspruch - nur für Lotterien und Sportwetten aus-
nahmsweise erlaubt werden kann, um eine geeignete
Alternative zum illegalen Glücksspielangebot bereitzu-
stellen sowie dessen Entwicklung und Ausbreitung
entgegenzuwirken,
- wenn anderseits in einem Bundesland dieses Mit-
gliedstaats nach dem dort geltenden Recht unter nä-
her bestimmten objektiven Voraussetzungen jedem
Unionsbürger und jeder diesem gleichgestellten juris-
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tischen Person eine Genehmigung für den Vertrieb
von Sportwetten im Internet erteilt werden muss und
dadurch die Eignung der im übrigen Bundesgebiet gel-
tenden Beschränkung des Glücksspielvertriebs im In-
ternet zur Erreichung der mit ihr verfolgten legitimen
Ziele des Allgemeinwohls beeinträchtigt werden kann?
2. Kommt es für die Antwort auf die erste Frage darauf an,
ob die abweichende Rechtslage in einem Bundesland
die Eignung der in den anderen Bundesländern gelten-
den Beschränkungen des Glücksspiels zur Erreichung
der mit ihnen verfolgten legitimen Ziele des Allgemein-
wohls aufhebt oder erheblich beeinträchtigt?
Falls die erste Frage bejaht wird:
3. Wird die Inkohärenz dadurch beseitigt, dass das Bundes-
land mit der abweichenden Regelung die in den übrigen
Bundesländern geltenden Beschränkungen des Glücks-
spiels übernimmt, auch wenn die bisherigen, großzügige-
ren Regelungen des Internetglücksspiels in diesem Bun-
desland hinsichtlich der dort bereits erteilten Konzessio-
nen noch für eine mehrjährige Übergangszeit fortgelten,
weil diese Genehmigungen nicht oder nur gegen für das
Bundesland schwer tragbare Entschädigungszahlungen
widerrufen werden könnten?
4. Kommt es für die Antwort auf die dritte Frage darauf an,
ob während der mehrjährigen Übergangszeit die Eignung
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der in den übrigen Bundesländern geltenden Beschrän-
kungen des Glücksspiels aufgehoben oder erheblich be-
einträchtigt wird?
Gründe:
I. Die Klägerin ist die staatliche Lottogesellschaft des Landes Nordrhein-
Westfalen. Die Beklagte zu 1 mit Sitz in Gibraltar bietet auf der Internetseite
" .com" in deutscher Sprache Glücksspiele und Sportwetten gegen Geld-
einsatz an. Sie ist Inhaberin einer in Gibraltar erteilten Glücks- und Spiellizenz.
Der Beklagte zu 2 ist Geschäftsführer der Beklagten zu 1.
Die Klägerin hält das Angebot der Beklagten zu 1 wegen Verstoßes ge-
gen glücksspiel- und strafrechtliche Bestimmungen für wettbewerbswidrig.
Soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, hat das Landgericht die
Beklagten unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel verurteilt,
es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs
über das Internet in Deutschland befindlichen Personen die Möglichkeit anzu-
bieten und/oder zu verschaffen, Glücksspiele, insbesondere Sportwetten zu fes-
ten Gewinnquoten sowie Kasinospiele, insbesondere Poker, Videopoker, Black
Jack, Roulette, Baccara, Keno, Bingo und virtuelle Slot Machines sowie Karten-
spiele und Brettspiele gegen Entgelt einzugehen und/oder abzuschließen und/
oder diese Möglichkeit zu bewerben, wie nachstehend beispielhaft wiedergege-
ben (es folgt die Wiedergabe von 102 Bildschirmausdrucken aus dem Inter-
netangebot der Beklagten zu 1 vom September 2009).
Außerdem hat das Landgericht die Beklagten zur Auskunft verurteilt und
ihre Pflicht zum Schadensersatz festgestellt.
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Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen
und den Unterlassungstenor nach Maßgabe des von der Klägerin in der Beru-
fungsinstanz gestellten Antrags unter Beschränkung auf konkret bezeichnete
Spiele so gefasst, dass sich die Unterlassungspflicht der Beklagten darauf be-
zieht,
über das Internet in Deutschland befindlichen Personen die Möglichkeit anzu-
bieten und/oder zu verschaffen, Sportwetten zu festen Gewinnquoten sowie
Poker, Videopoker, Black Jack, Roulette, Baccara, Keno, Bingo und Spiele an
virtuellen Slot Machines sowie Knobelduell und Black Jack-Duell gegen Entgelt
einzugehen und/oder abzuschließen und/oder diese Möglichkeit zu bewerben,
wie nachstehend wiedergegebe
n. …
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurück-
weisung die Klägerin beantragt, erstreben die Beklagten weiterhin die vollstän-
dige Abweisung der Klage.
II. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung des Art. 56 AEUV
ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel ist deshalb das Verfahren
auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 AEUV eine Vor-
abentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
1. Weil die Klägerin einen auf die Abwehr künftiger Rechtsverstöße ge-
richteten Unterlassungsanspruch verfolgt, kommt es im Streitfall auch auf das
im Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht an. Der Glücksspielstaatsvertrag
2008 ist mit Ablauf des 31. Dezember 2011 außer Kraft getreten (§ 28 Abs. 1
GlüStV 2008). Zum 1. Januar 2012 erfolgte in Schleswig-Holstein eine Liberali-
sierung des Glücksspielrechts. Anders als § 5 Abs. 3 GlüStV 2008 lässt § 26
des schleswig-holsteinischen Gesetzes zur Neuordnung des Glückspiels vom
20. Oktober 2011 (GVOBl. Schl.-H. S. 280 - GlSpielG SH) Werbung für öffentli-
ches Glücksspiel im Fernsehen oder im Internet grundsätzlich zu. Auch ein
Verbot des Veranstaltens und Vermittelns öffentlicher Glücksspiele im Internet
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(§ 4 Abs. 4 GlüStV 2008) ist dem Glücksspielgesetz Schleswig-Holstein fremd.
Veranstaltung und Vertrieb öffentlicher Glücksspiele und Wetten bedürfen zwar
weiterhin der Genehmigung der zuständigen Landesbehörde (vgl. §§ 4, 5, 22
und 23 GlSpielG SH); die Genehmigung für den Vertrieb öffentlicher Wetten ist
aber bei Vorliegen bestimmter objektiver Zulassungsvoraussetzungen jedem
Bürger und jeder juristischen Person aus der Europäischen Union zu erteilen
(§ 23 Abs. 2 GlSpielG SH).
Im gesamten übrigen Bundesgebiet gilt dagegen inzwischen der Glücks-
spielstaatsvertrag 2012 (1. Glücksspieländerungsstaatsvertrag - GlüStV 2012).
Nach § 4 Abs. 4 und § 5 Abs. 3 Satz 1 GlüStV 2012 sind das Veranstalten und
Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet sowie die Werbung für öffentli-
ches Glücksspiel im Fernsehen, im Internet sowie über Telekommunikationsan-
lagen grundsätzlich weiterhin verboten. Gemäß § 4 Abs. 5 und § 5 Abs. 3
Satz 2 und 3 GlüStV 2012 kann die Verwendung des Internets zu diesen Zwe-
cken nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen für Lotterien und
Sportwetten erlaubt werden, um eine geeignete Alternative zum illegalen
Glücksspielangebot bereitzustellen sowie dessen Entwicklung und Ausbreitung
entgegenzuwirken. Auf die Erteilung der Erlaubnis besteht kein Rechtsan-
spruch.
2. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Beklagte
zu 1 mit ihrem Internetangebot gegen die §§ 3, 4 Nr. 11 UWG in Verbindung mit
§ 4 Abs. 4, § 5 Abs. 3 GlüStV 2008 verstoßen hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Bestimmun-
gen des § 4 Abs. 4 und des § 5 Abs. 3 GlüStV 2008 Marktverhaltensregelun-
gen, deren Anwendbarkeit keine unions- oder verfassungsrechtlichen Beden-
ken entgegenstehen (vgl. nur BGH, Urteil vom 28. September 2011
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- I ZR 92/09, GRUR 2012, 193 Rn. 21, 30 ff. = WRP 2012, 201 - Sportwetten im
Internet II, zu § 4 Abs. 4 GlüStV; Urteil vom 28. September 2011 - I ZR 43/10,
juris Rn. 78 f., zu § 5 Abs. 3 GlüStV).
Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision geben
dem Senat keinen Anlass zu einer Änderung seiner Rechtsprechung. Auch die
übrigen Erwägungen der Revision lassen im Hinblick auf die Beurteilung der bis
zum 1. Januar 2012 geltenden Rechtslage durch das Berufungsgericht keinen
Rechtsfehler erkennen.
3. Aufgrund der seit dem 1. Januar 2012 eingetretenen Rechtsänderun-
gen kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Revision hinsicht-
lich des in die Zukunft gerichteten Unterlassungsantrags und der für die Zeit
nach dem 31. Dezember 2011 zugesprochenen Auskunfts- und Schadenser-
satzansprüche im Hinblick auf einen Verstoß gegen die unionsrechtliche Dienst-
leistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) Erfolg haben könnte. Nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofs der Europäischen Union sind Ausnahmen und Einschränkun-
gen zu einer die Glücksspieltätigkeit beschränkenden Regelung dahingehend
einer Kohärenzprüfung zu unterziehen, ob sie deren Eignung zur Verfolgung
legitimer Allgemeininteressen beseitigen (vgl. EuGH, Urteil vom 8. September
2010 - C-46/08, Slg. 2010, I-8149 = NvWZ 2010, 1422 Rn. 106 ff. - Carmen
Media Group). Vor diesem Hintergrund könnte eine gegenüber dem übrigen
Bundesgebiet unterschiedliche Rechtslage in einem einzelnen Bundesland da-
zu führen, dass die Vertriebs- und Werbebeschränkungen im Internet für
Glücksspiele in den anderen Bundesländern wegen Verstoßes gegen das Uni-
onsrecht unanwendbar sind, so dass für ein Verbot der Online-Vermittlung und
-Veranstaltung von Glücksspielen keine Grundlage mehr bestünde.
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a) Nach geltendem Recht bestehen wesentliche Unterschiede in der
rechtlichen Behandlung des Internetglücksspiels zwischen Schleswig-Holstein
und dem übrigen Bundesgebiet.
Die Bestimmungen der § 4 Abs. 4 und § 5 Abs. 3 Satz 1 GlüStV 2012
enthalten weiterhin Verbote des Veranstaltens und Vermittelns öffentlicher
Glücksspiele im Internet sowie der Werbung für öffentliches Glücksspiel im
Fernsehen, im Internet sowie über Telekommunikationsanlagen. Zwar kann
nach § 4 Abs. 5 und § 5 Abs. 3 Satz 2 und 3 GlüStV 2012 die Verwendung des
Internets zu diesen Zwecken unter bestimmten Voraussetzungen nunmehr er-
laubt werden, um eine geeignete Alternative zum illegalen Glücksspielangebot
bereitzustellen sowie dessen Entwicklung und Ausbreitung entgegenzuwirken.
Auf die Erlaubniserteilung besteht aber kein Rechtsanspruch. Demgegenüber
gibt es in Schleswig-Holstein gemäß § 23 Abs. 2 GlSpielG SH grundsätzlich
einen Anspruch auf Erteilung einer Vertriebsgenehmigung für öffentliche Wet-
ten, der sich aufgrund des Zusammenhangs mit § 23 Abs. 1 GlSpielG SH zwei-
felsfrei auch auf den Fernvertrieb und damit den Absatz im Internet erstreckt.
Für die Glücksspielwerbung im Internet ist gemäß § 26 GlSpielG SH keine Er-
laubnis erforderlich.
b) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Liberalisierung von
Internetvertrieb und -werbung für Glücksspiele in Schleswig-Holstein die Eig-
nung der entsprechenden Verbote in den anderen Bundesländern zur Errei-
chung der mit dem Glücksspielstaatsvertrag 2012 verfolgten legitimen Allge-
meininteressen mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.
So ist fraglich, ob sich die Teilnahmemöglichkeit an Glücksspielen über
das Internet wirksam auf das Bundesland Schleswig-Holstein beschränken
lässt. Auch die nunmehr in Schleswig-Holstein unbeschränkt mögliche Werbung
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für Glücksspiele in Fernsehen, Rundfunk und Internet kann aufgrund der Natur
dieser Medien nicht wirksam auf dieses Bundesland begrenzt werden.
4. Die unionsrechtliche Bewertung der seit 1. Januar 2012 in Deutsch-
land bestehenden unterschiedlichen Regelungen für Online-Glücksspiel ist um-
stritten. Teilweise wird angenommen, dass der schleswig-holsteinische Son-
derweg zu einer fehlenden Kohärenz des Internetverbots für Glücksspiele im
übrigen Bundesgebiet führt (Dörr/Janich, K&R Beihefter 1/2012, 1, 9 ff.; Brock,
CR 2011, 517, 524). Insbesondere wird ein Verstoß gegen das aus dem Kohä-
renzgebot resultierende Konterkarierungsverbot im Sinne einer wesentlichen
Effektivitätseinbuße hinsichtlich der von den anderen Ländern verfolgten Ziele
für sehr wahrscheinlich gehalten. Demgegenüber haben die mit der Frage be-
fassten Verwaltungsgerichte eine Inkohärenz des deutschen Glücksspielrechts
ungeachtet der in Schleswig-Holstein geltenden abweichenden Regelungen
bisher verneint (vgl. VG Saarlouis, Urteil vom 19. Januar 2012 - 6 K 521/10,
juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 26. April 2012 - 3 K 330/10, juris; Urteil vom
27. August 2012 - 3 K 882/12, juris).
5. Es ist fraglich, ob eine unionsrechtliche Kohärenzprüfung der unter-
schiedlichen Ausgestaltung des Glücksspielrechts innerhalb der Bundesrepublik
Deutschland schon deshalb ausscheidet, weil sie Ausfluss der bundesstaatli-
chen Ordnung ist (so Pagenkopf, NJW 2012, 2918, 2924). Der Rechtsprechung
des Gerichtshofs ist dazu - soweit ersichtlich - keine eindeutige Antwort zu ent-
nehmen.
a) Der Gerichtshof hat in der Sache Carmen Media Group (NvWZ 2010,
1422) ausgeführt:
69 Was den Umstand betrifft, dass die verschiedenen Glücksspiele zum Teil
in die Zuständigkeit der Länder und zum Teil in die des Bundes fallen, ist
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darauf hinzuweisen, dass sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtspre-
chung nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen
Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung seiner aus dem Uni-
onsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen. Die interne Zustän-
digkeitsverteilung innerhalb eines Mitgliedstaats, namentlich zwischen
zentralen, regionalen und lokalen Behörden, kann ihn unter anderem nicht
davon entbinden, den genannten Verpflichtungen nachzukommen …
70 Dementsprechend müssen, auch wenn das Unionsrecht einer internen Zu-
ständigkeitsverteilung, nach der für bestimmte Glücksspiele die Länder zu-
ständig sind und für andere der Bund, nicht entgegensteht, in einem sol-
chen Fall die Behörden des betreffenden Bundeslandes und die Bundes-
behörden gleichwohl gemeinsam die Verpflichtung der Bundesrepublik
Deutschland erfüllen, nicht gegen Art. 49 EG zu verstoßen. Soweit die Be-
achtung dieser Bestimmung es erfordert, müssen diese verschiedenen
Behörden dabei folglich die Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeit koor-
dinieren.
Diese Ausführungen legen die Annahme nahe, dass ebenso wie Bund
und Bundesländer gegebenenfalls auch die Bundesländer untereinander ihre
Politik im Glücksspielbereich in der Weise abzustimmen haben, dass die Ver-
pflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Beachtung der unionsrechtli-
chen Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV, zuvor Art. 49 EG) eingehalten wird.
Danach bleiben zwar unterschiedliche Regelungen in den Bundeslän-
dern auch im Bereich des Glücksspielrechts grundsätzlich möglich. Jedoch
könnte es geboten sein, jede in einem Bundesland bestehende Beschränkung
der Dienstleistungsfreiheit für sich genommen darauf zu überprüfen, ob ihre
Eignung zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels dadurch entfällt, dass ein
anderes Bundesland eine abweichende Regelung trifft (vgl. Dörr/Janich aaO
S. 7).
b) Andererseits hat der Gerichtshof der Europäischen Union in der
Rechtssache "Markus Stoß" klargestellt, dass Schwierigkeiten bei der Durch-
setzung des Lotterie- und Wettmonopols gegenüber im Ausland ansässigen
Veranstaltern die Vereinbarkeit eines solchen Monopols mit dem Unionsrecht
nicht beeinträchtigen (EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - C-316/07, Slg.
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2010, I-8069 = NVwZ 2010, 1409 Rn. 84 ff.). Es fragt sich, ob dieser Grundsatz
auf die Nutzung von Internetangeboten aus Schleswig-Holstein durch dazu
nicht befugte Spieler anderer Bundesländer übertragbar ist.
c) Nach Auffassung des Senats sollte diese Frage bejaht und die erste
Vorlagefrage verneint werden. Dagegen spricht insbesondere nicht schon die
Erwägung, anders als bei Auswirkungen aus dem Ausland habe es der Mit-
gliedstaat grundsätzlich selbst in der Hand, regional unterschiedliche Bestim-
mungen innerhalb seines Staatsgebiets zu verhindern, die die Wirksamkeit ei-
nes Internetverbots beeinträchtigen (vgl. Dörr/Janich aaO S. 10 f.).
Die Europäische Union bildet eine Rechtsgemeinschaft, in der für das
Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3
EUV (bislang Art. 5 EG) der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gilt. Dieser
Grundsatz verpflichtet nicht nur die Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnah-
men zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewähr-
leisten, sondern legt auch der Union entsprechende Pflichten zur loyalen Zu-
sammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf (EuGH, Beschluss vom 13. Juni
1990 - C-2/88, Slg. 1990, I-3367 = NJW 1991, 2409 Rn. 17 - Zwartveld; vgl.
Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union,
1996, S. 157 f.; Zuleeg in von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-
/EG-Vertrag, 6. Aufl., Art. 10 EG Rn. 11; Wölker in von der Groeben/Schwarze
aaO Protokoll Nr. 24 Rn. 41). Daraus folgt für die Union ein Gebot der Rück-
sichtnahme auf verfassungsrechtliche Schwierigkeiten und - im Einklang mit
dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV - auf bundesstaatliche
Strukturen in den Mitgliedstaaten. Zudem gilt für die Auslegung und Anwendung
des Unionsrechts der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der nunmehr eben-
falls in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV ausdrücklich verankert ist. Danach dürfen die
den Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht auferlegten Pflichten nicht außer
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Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. EuGH, Urteil vom
17. Dezember 1970 - 25/70, Slg. 1970, 1162 Rn. 31 f. - Köster und Berodt &
Co.; Langguth in Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl., Art. 5 EUV Rn. 36).
Es erschiene aus der Sicht des Senats wenig angemessen und mit dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum vereinbar, wenn die Mehrzahl der
Bundesländer - im Streitfall 15 Länder - ihr vom Unionsrecht anerkanntes
Recht, selbst zu beurteilen, ob es erforderlich ist, bestimmte Glücksspieltätigkei-
ten vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es genügt, sie zu beschrän-
ken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge Kontrollen vorzusehen
(vgl. EuGH, NVwZ 2010, 1422 Rn. 58 - Carmen Media Group), schon deshalb
nicht ausüben könnte, weil ein einzelnes Bundesland eine abweichende Rege-
lung einführen will (zum Kriterium der Angemessenheit im Zusammenhang mit
der Berücksichtigung föderaler Strukturen im Unionsrecht vgl. Epiney, EuR
1994, 301, 319 ff.). Dabei ist zu beachten, dass in einer bundesstaatlichen Ver-
fassung ein Bundesland weder vom Bund noch von den anderen Bundeslän-
dern gezwungen werden kann, eine bestimmte Regelung in einem der Kompe-
tenz der Länder unterliegenden Bereich zu treffen.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich in nicht harmonisierten Sek-
toren wie dem Glücksspielwesen die praktische Auswirkung einer durch Unter-
schiede zwischen den Ländern eines Bundesstaats bewirkten Inkohärenz für
den Binnenmarkt nicht von abweichenden Regelungen unterscheiden dürfte,
die zwischen kleineren und größeren Mitgliedstaaten bestehen und unions-
rechtlich hinzunehmen sind.
6. Für den Fall, dass der Gerichtshof die erste Frage bejaht, sollte nach
Auffassung des Senats die zweite Frage in der Weise beantwortet werden,
dass es nicht zu einer Inkohärenz der im übrigen Bundesgebiet für das Inter-
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netglücksspiel geltenden Beschränkungen führt, wenn ihre Eignung durch eine
liberalere Regelung in einem einzelnen, kleineren Bundesland nur unerheblich
beeinträchtigt wird. Jedenfalls die Anerkennung einer Erheblichkeitsschwelle
bei der Kohärenzprüfung erscheint unter dem unionsrechtlichen Gesichtspunkt
der Verhältnismäßigkeit geboten, wenn die uneinheitliche Regelung auf die
bundesstaatliche Ordnung eines Mitgliedstaats zurückzuführen ist und einen
unionsrechtlich nicht harmonisierten Dienstleistungsbereich betrifft.
7. Die dritte Frage stellt der Senat für den Fall, dass sich die Rechtslage
in Schleswig-Holstein bis zur Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens
erneut ändern sollte.
a) Die neue Landesregierung in Schleswig-Holstein hat einen Gesetz-
entwurf eingebracht (Entwurf zur Änderung glücksspielrechtlicher Gesetze,
Schleswig-Holsteinischer Landtag Drucks. 18/104). Danach ist beabsichtigt,
den Sonderweg des Landes im Glücksspielbereich zu beenden und dem
Glücksspielstaatsvertrag 2012 beizutreten. Allerdings sollen die Genehmigun-
gen, die privaten Anbietern bisher erteilt worden sind, in Kraft bleiben (vgl. Art. 4
des Entwurfs). Nach § 4 Abs. 3 GlSpielG SH sind diese Genehmigungen, die
den Internetvertrieb umfassen, für die Dauer von sechs Jahren erteilt worden.
Für die Erlaubnisinhaber soll das jetzige Glücksspielgesetz Schleswig-Holstein
so lange fortgelten. Das gilt auch für § 26 GlSpielG SH, der Internetwerbung für
erlaubte Glücksspiele zulässt.
b) Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit einer Regelung des Pen-
sionsalters für Beamte ausgeführt, das Gesetz eines Mitgliedstaats oder eines
Landes sei nicht schon deshalb inkohärent, weil es im Hinblick auf die Anhe-
bung der Regelaltersgrenze zu einem anderen Zeitpunkt geändert werde als
das entsprechende Gesetz eines anderen Mitgliedstaats oder Landes. Der
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Rhythmus der Änderung kann also von Bundesland zu Bundesland unter-
schiedlich sein, um regionale Besonderheiten zu berücksichtigen und es den
zuständigen Behörden zu ermöglichen, die erforderlichen Anpassungen vorzu-
nehmen (EuGH, Urteile vom 21. Juli 2011 - C-159/10 und C-160/10, NVwZ
2011, 1249 Rn. 96 f. - Fuchs und Köhler). Wie sich aus Randnummer 94 dieses
Urteils ergibt, hatte das Land Hessen dort eine den Beamtengesetzen des Bun-
des und mehrerer Länder ähnliche Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf
67 Jahre beabsichtigt, aber noch nicht eingeführt.
c) Nach Auffassung des Senats lassen sich diese Grundsätze auch im
Zusammenhang mit legitimen Zielen dienenden Beschränkungen des Glücks-
spiels in Mitgliedstaaten mit bundesstaatlicher Verfassung anwenden.
aa) Sind sich die Länder eines Bundesstaats darüber einig, in Verfolgung
legitimer Ziele des Allgemeinwohls Glücksspieltätigkeiten in systematischer und
kohärenter Weise zu begrenzen, sollte es in Anwendung der Grundsätze der
loyalen Zusammenarbeit und der Verhältnismäßigkeit nicht zu einer unions-
rechtlichen Inkohärenz führen, wenn ein Bundesland die entsprechenden Rege-
lungen aufgrund einer abweichenden Ausgangslage zwar so rasch wie zumut-
bar, aber erst nach einer mehrjährigen Übergangszeit in Kraft setzen kann.
Dieses Ergebnis erscheint gerade in einem Bereich wie dem Glücks-
spielsektor geboten, in dem es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Sa-
che jedes Mitgliedstaats ist zu beurteilen, ob es erforderlich ist, bestimmte
Glücksspieltätigkeiten vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es ge-
nügt, sie zu beschränken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge
Kontrollen vorzusehen (EuGH, NVwZ 2010, 1422 Rn. 58 - Carmen Media
Group). Es handelt sich also nicht etwa um die Umsetzung einer Richtlinie der
Union, bei der ein bestimmtes Regelungsziel den Mitgliedstaaten durch die
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Union verbindlich vorgegeben wird (vgl. Art. 288 AEUV) und deshalb insoweit
von vornherein kein Koordinierungsbedarf zwischen den Bundesländern eines
Mitgliedstaats besteht. Demgegenüber erfordert die Erfüllung der sich aus
Randnummer 70 der Entscheidung "Carmen Media Group" ergebenden Pflicht
der Bundesländer, ihre Zuständigkeiten zur Schaffung einer kohärenten Rege-
lung des Glücksspielwesens zu koordinieren, von vornherein eine gewisse Zeit.
Der Senat gibt zu bedenken, ob es nicht Sache der nationalen Gerichte sein
sollte, im Einzelfall zu beurteilen, ob die bis zur Herstellung einer kohärenten
Regelung des Glücksspielsektors in einem Mitgliedstaat in Anspruch genom-
mene Zeitspanne den Grundsätzen der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit ent-
spricht. Der Senat hielte es jedenfalls für geboten, aus dem Umstand einer
Übergangszeit für einen Teil des Gebiets eines Mitgliedstaats auch dann keine
Inkohärenz der Regelung des Glücksspielsektors abzuleiten, wenn die im
überwiegenden Teil dieses Mitgliedstaats geltenden Beschränkungen des
Glücksspiels dadurch vorübergehend in ihrer Wirksamkeit nicht unerheblich
beeinträchtigt werden könnten.
bb) Der Senat gibt weiter zu bedenken, ob es dem Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit entspräche, wenn die Mehrzahl der Bundesländer ihr unions-
rechtlich anerkanntes Recht zur Regelung des Glücksspielsektors schon des-
halb nicht mehr ausüben könnte, weil aufgrund besonderer Umstände ein ein-
zelnes Bundesland entsprechende Regelungen erst nach einer Übergangszeit
einführen kann.
cc) Die unionsrechtliche Zulässigkeit einer auch mehrjährigen Über-
gangszeit ist nach Ansicht des Senats insbesondere dann anzuerkennen, wenn
aufgrund der besonderen Rechtslage in einem Bundesland die sofortige Her-
stellung der Kohärenz im Glücksspielsektor nicht möglich ist, weil von diesem
Bundesland erteilte Genehmigungen während ihrer Geltungsdauer aus Grün-
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den des Vertrauensschutzes auch bei einer Änderung der Rechtslage nicht
oder nur gegen für die öffentliche Hand schwer tragbare Entschädigungszah-
lungen zurückgenommen werden können. So stellt sich die Rechtslage in
Schleswig-Holstein dar (vgl. § 117 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 6 VwG Schleswig-
Holstein), falls es zu der dort in Aussicht genommenen Gesetzesänderung
kommt.
8. Nach Auffassung des Senats sollte die vierte Frage gegebenenfalls in
der Weise beantwortet werden, dass jedenfalls eine unerhebliche Beeinträchti-
gung der Eignung von Beschränkungen des Internetglücksspiels, die im übrigen
Bundesgebiet gelten, während der Übergangszeit nicht als unionsrechtlich rele-
vante Inkohärenz anzusehen ist.
Bornkamm
Büscher
Schaffert
Kirchhoff
Löffler
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 22.10.2009 - 31 O 552/08 -
OLG Köln, Entscheidung vom 03.09.2010 - 6 U 196/09 -
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