Urteil des BGH vom 13.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VIII ZR 64/06 Verkündet
am:
13. Dezember 2006
Kirchgeßner,
Justizhauptsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
EGZPO § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1; HessSchlG § 1 Abs. 1 Nr. 1 a.F.
Nachdem § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG a.F. gestrichen worden ist, steht auch in
einem zuvor anhängig gewordenen Rechtsstreit der Umstand, dass vor Klage-
erhebung kein Schlichtungsverfahren stattgefunden hat, der Zulässigkeit der
Klage nicht mehr entgegen.
BGH, Urteil vom 13. Dezember 2006 - VIII ZR 64/06 - LG Frankfurt am Main
AG Frankfurt am Main
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 13. Dezember 2006 durch den Richter Wiechers, die Richterinnen Her-
manns und Dr. Milger, den Richter Dr. Koch und die Richterin Dr. Hessel
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 11. Zivilkammer
des Landgerichts Frankfurt am Main vom 7. Februar 2006 aufge-
hoben.
Gerichtskosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die übrigen Kosten des Revisionsverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin hat die Beklagte auf Zahlung von Mietrückständen von
499,04 Euro verklagt. Nach Zustellung der Klage im Juli 2005 hat sie die Zah-
lung weiterer Mietrückstände von 187,14 Euro begehrt und die Feststellung be-
antragt, dass die Beklagte nicht berechtigt sei, die Miete um monatlich 62,38
Euro zu mindern. Die Zahlungsklage hat sie in Höhe von 62,38 Euro zurückge-
nommen.
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Ein Schlichtungsverfahren nach dem als Artikel 1 des Hessischen Ge-
setzes zur Ausführung des § 15a EGZPO vom 6. Februar 2001 (GVBl. I S. 98)
verkündeten Hessischen Gesetz zur Regelung der außergerichtlichen Streit-
schlichtung (nachfolgend: HessSchlG) ist nicht durchgeführt worden. Gemäß
§ 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG ist die Erhebung einer Klage vor dem Amtsgericht
in vermögensrechtlichen Streitigkeiten über Ansprüche, deren Gegenstand an
Geld oder Geldeswert die Summe von 750 Euro nicht übersteigt, erst zulässig,
nachdem von einer Gütestelle versucht worden ist, die Streitigkeit einvernehm-
lich beizulegen.
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Das Amtsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Hiergegen hat
die Klägerin Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens ist § 1
Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG durch Ziffer 2 Buchst. a des als Artikel 1 des Zweiten
Hessischen Gesetzes zur Ausführung des § 15a EGZPO vom 1. Dezember
2005 (GVPl. I S. 782) verkündeten Hessischen Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Regelung der außergerichtlichen Streitschlichtung (nachfolgend:
Änderungsgesetz zum HessSchlG) mit Wirkung vom 8. Dezember 2005 gestri-
chen worden. Das Berufungsgericht, das die mündliche Verhandlung am
17. Januar 2006 geschlossen hat, hat die Berufung zurückgewiesen. Dagegen
richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Klägerin.
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Entscheidungsgründe:
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Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
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Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht sich den
Ausführungen des Amtsgerichts angeschlossen. Dieses hat die Klage als unzu-
lässig angesehen, weil vor Erhebung der Klage entgegen § 1 Abs. 1 Nr. 1
HessSchlG kein Schlichtungsverfahren durchgeführt worden sei, obwohl der
Streitwert der Klage bei Rechtshängigkeit 499,04 Euro betragen habe. Die un-
zulässige Klage sei durch die spätere Klageerhöhung nicht nachträglich zuläs-
sig geworden. Insoweit gälten die gleichen Überlegungen, die zur Entscheidung
des Bundesgerichtshofs geführt hätten, dass das Schlichtungsverfahren nach
Klageerhebung nicht nachgeholt werden könne (BGH, Urteil vom 23. November
2004 - VI ZR 336/03, NJW 2005, 437).
II.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält der revisionsrechtlichen
Nachprüfung nicht stand.
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1. Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist revisibel. Die Revision
kann nach § 545 Abs. 1 ZPO darauf gestützt werden, dass die Entscheidung
auf der Verletzung des Bundesrechts oder einer Vorschrift beruht, deren Gel-
tungsbereich sich über den Bezirk eines Oberlandesgerichts hinaus erstreckt.
Die letztgenannte Voraussetzung ist hier erfüllt.
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Der Geltungsbereich der Vorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG, des-
sen Verletzung die Revision rügt, erstreckt sich zwar nicht über den Bezirk ei-
nes Oberlandesgerichtsbezirks hinaus, da die Bestimmung nur in Hessen ge-
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golten hat und es in Hessen lediglich ein Oberlandesgericht gibt. Mit der Rege-
lung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG stimmen jedoch die entsprechenden Re-
gelungen der Schlichtungsgesetze anderer Bundesländer inhaltlich überein (zu
den bis zum 31. Dezember 2005 geltenden Regelungen in den einzelnen Bun-
desländern vgl. die Texte und eine Synopse der Ländergesetze bei Prütting,
Außergerichtliche Streitschlichtung, 2003, S. 252 ff., 292 ff.; zur Rechtslage seit
dem 1. Januar 2006 vgl. Deckenbrock/Jordans, MDR 2006, 421). Diese haben
die Zulässigkeit der Klageerhebung bei Unterschreiten eines bestimmten Ge-
genstandswertes gleichfalls von einem vorherigen Schlichtungsversuch abhän-
gig gemacht (so das Schlichtungsgesetz des Freistaates Bayern bis zum
31. Dezember 2005) bzw. machen sie nach wie vor hiervon abhängig (so die
Schlichtungsgesetze der Länder Baden-Württemberg, Brandenburg, Nordrhein-
Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein).
Die Revisibilität des demnach im Bezirk mehrerer Oberlandesgerichte in-
haltsgleich geltenden Rechts setzt nicht notwendig voraus, dass dieses aus
derselben Rechtsquelle stammt; es genügt vielmehr, wenn die inhaltliche Über-
einstimmung nicht nur zufällig, sondern gewollt ist (BGH, Urteil vom 28. Januar
1988 - IX ZR 75/87, WM 1988, 1211, unter II 3; Urteil vom 14. Juli 1997 - II ZR
168/96, WM 1997, 1657, unter 1, m.w.Nachw.). So verhält es sich hier, da die
landesrechtlichen Bestimmungen zur Zulässigkeit der Klageerhebung bei be-
stimmten vermögensrechtlichen Streitigkeiten auf der bundesrechtlichen Vor-
gabe des § 15a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EGZPO beruhen (vgl. BGH, Urteil vom
23. November 2004, aaO, unter II 1).
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2. Das Berufungsgericht ist zutreffend und von der Revision unbeanstan-
det davon ausgegangen, dass die Klageerhebung ursprünglich unzulässig war.
Die Erhebung einer Klage vor dem Amtsgericht in vermögensrechtlichen Strei-
tigkeiten über Ansprüche, deren Gegenstand an Geld oder Geldeswert die
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Summe von 750 Euro nicht übersteigt, war nach dem zur Zeit der Klageerhe-
bung geltenden § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG erst zulässig, nachdem von einer
Gütestelle versucht worden war, die Streitigkeit einvernehmlich beizulegen. Im
Streitfall haben die Parteien vor Klageerhebung kein Schlichtungsverfahren
durchgeführt, so dass die Erhebung der Klage auf Zahlung von 499,04 Euro
unzulässig gewesen ist.
3. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die ursprünglich unzu-
lässige Klage jedoch nachträglich zulässig geworden. Insoweit kommt es aller-
dings nicht darauf an, ob das Schlichtungsverfahren nach § 1 Abs. 1 Nr. 1
HessSchlG - wie die Revision geltend macht - mit der Erhöhung der Klage auf
einen 750 Euro übersteigenden Betrag entbehrlich geworden ist. Diese Frage
stellt sich hier nicht, da § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG mit Wirkung vom
8. Dezember 2005 und damit noch vor dem Schluss der mündlichen Verhand-
lung bei dem Berufungsgericht am 17. Januar 2006 durch Ziffer 2 Buchst. a des
Änderungsgesetzes zum HessSchlG gestrichen worden ist.
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a) Ziffer 2 Buchst. a des Änderungsgesetzes zum HessSchlG ist der Ent-
scheidung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen, auch wenn der Geltungs-
bereich dieser Vorschrift sich nicht über den Bezirk eines Oberlandesgerichts
hinaus erstreckt und im Bezirk mehrerer Oberlandesgerichte - anders als im
Falle des § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG - kein auf einer bundesrechtlichen Vorga-
be beruhendes inhaltsgleiches Recht gilt. Da das Berufungsgericht diese Be-
stimmung außer Betracht gelassen hat und keine Anhaltspunkte dafür beste-
hen, dass es damit zum Ausdruck bringen wollte, die Vorschrift sei im Streitfall
nicht anwendbar, geht es hier nicht darum, dass das Revisionsgericht entgegen
§ 560 ZPO die Auslegung nicht revisiblen Rechts durch das Berufungsgericht
nachprüft (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juli 1996 - III ZR 133/95, WM 1996, 2063,
unter II 1 m.w.Nachw.).
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b) Nach der beim Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Beru-
fungsgericht geltenden Rechtslage setzte die Zulässigkeit der Klageerhebung
vor dem Amtsgericht in vermögensrechtlichen Streitigkeiten über Ansprüche,
deren Gegenstand an Geld oder Geldeswert die Summe von 750 Euro nicht
übersteigt, demnach nicht mehr die vorherige Durchführung eines Gütever-
suchs voraus. Diese neue Rechtslage hätte das Berufungsgericht seiner Ent-
scheidung zugrunde legen müssen.
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Die Anwendbarkeit neuer Prozessgesetze auf anhängige Rechtsstreitig-
keiten richtet sich in erster Linie nach den vom Gesetzgeber - regelmäßig in
Gestalt von Überleitungsvorschriften - getroffenen positiven Regelungen. So-
weit diese fehlen, erfassen Änderungen des Prozessrechts im Allgemeinen
auch schwebende Verfahren. Diese sind daher mit dem Inkrafttreten des Ände-
rungsgesetzes grundsätzlich nach neuem Recht zu beurteilen, soweit es nicht
um unter der Geltung des alten Rechts abgeschlossene Prozesshandlungen
und abschließend entstandene Prozesslagen geht oder sich aus dem Sinn und
Zweck der betreffenden Vorschrift oder aus dem Zusammenhang mit anderen
Grundsätzen des Prozessrechts etwas Abweichendes ergibt (BGH, Beschluss
vom 25. Juni 1992 - III ZR 155/91, NJW 1992, 2640, unter 2 a; BGHZ 114, 1,
3 f., m.w.Nachw.). Nach diesen Grundsätzen war der Streitfall nach der mit dem
Inkrafttreten des Änderungsgesetzes zum Schlichtungsgesetz am 8. Dezember
2005 geltenden Rechtslage zu beurteilen.
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Der hessische Gesetzgeber hat nicht geregelt, ob und gegebenenfalls
wie sich die Streichung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG durch das Änderungs-
gesetz zum HessSchlG auf beim Inkrafttreten des Änderungsgesetzes noch
nicht abgeschlossene Verfahren auswirken soll. Das Änderungsgesetz enthält
keine Überleitungsvorschrift. Den Gesetzesmaterialien lässt sich gleichfalls
nicht entnehmen, ob und inwieweit die Rechtsänderung nach dem Willen des
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Gesetzgebers Auswirkungen auf anhängige Verfahren haben soll. In der Be-
gründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung (LT-Drs. 16/4132) ist diese
Frage nicht angesprochen. Mangels einer anderweitigen Regelung bleibt es
daher bei dem Grundsatz, dass Änderungen des Prozessrechts auch schwe-
bende Verfahren erfassen. Einer Beurteilung des Streitfalls nach der neuen
Rechtslage stehen insbesondere auch nicht Sinn und Zweck der Rechtsände-
rung entgegen.
Nach der Begründung zum Gesetzentwurf der Landesregierung für das
Änderungsgesetz zum HessSchlG sollen die vermögensrechtlichen Streitigkei-
ten aus dem Katalog der Materien, die der obligatorischen vorgerichtlichen
Streitbeilegung unterliegen, herausgenommen werden, weil bei diesen Streitig-
keiten eine Umgehung der Streitschlichtung durch das Mahnverfahren möglich
sei und weil viele dieser Klageverfahren für eine Streitschlichtung ungeeignet
seien (vgl. LT-Drs. 16/4132 S. 10). Es kann nicht angenommen werden, dass
der Gesetzgeber den Klägern in zum Zeitpunkt des Außerkrafttretens des § 1
Abs. 1 Nr. 1 HessSchlG bereits anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin den
Weg zum Gericht versperren wollte, weil diese es versäumt haben, vor Klage-
erhebung ein nach Auffassung des Gesetzgebers leicht zu umgehendes und
vielfach ungeeignetes Schlichtungsverfahren durchzuführen.
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Die Sanktion der Klageabweisung wegen Nichtdurchführung des Schlich-
tungsverfahrens könnte in diesen Fällen auch nicht mehr ihren Zweck erfüllen,
darauf hinzuwirken, dass die Rechtsuchenden und die Anwaltschaft in vermö-
gensrechtlichen Streitigkeiten vor Anrufung der Gerichte auch tatsächlich den
Weg zu den Schlichtungsstellen beschreiten (vgl. BGH, Urteil vom
23. November 2004, aaO, unter II 4 c). Nachdem vermögensrechtliche Streitig-
keiten nicht mehr zu den Materien gehören, die nach dem HessSchlG der obli-
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gatorischen vorgerichtlichen Streitbeilegung unterliegen, ginge diese Sanktion
ins Leere.
III.
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Nach alledem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Der
Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif, da es noch weiterer tatsächli-
cher Feststellungen bedarf. Daher ist das Berufungsurteil aufzuheben, und die
Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Wiechers
Hermanns
Dr. Milger
Dr. Koch
Dr. Hessel
Vorinstanzen:
AG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 14.09.2005 - 33 C 2265/05 -93 -
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 07.02.2006 - 2/11 S 309/05 -