Urteil des BGH vom 14.02.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZR 115/12
vom
14. Februar 2013
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
InsO § 133 Abs. 1; AO § 252
Beauftragt eine Behörde oder ein Sozialversicherungsträger eine andere zuständige
Behörde mit der Vollstreckung fälliger Forderungen mit der Folge, dass diese für das
Vollstreckungsverfahren als Gläubigerin der Forderung fingiert wird, muss sich die
ersuchende Behörde das Wissen des Sachbearbeiters der ersuchten Behörde zu-
rechnen lassen.
BGH, Beschluss vom 14. Februar 2013 - IX ZR 115/12 - OLG Hamburg
LG Hamburg
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Kayser, den Richter Raebel, die Richterin Lohmann, den Richter
Dr. Pape und die Richterin Möhring
am 14. Februar 2013
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des 1. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts
Hamburg vom 17. April 2012 wird auf Kosten der Beklagten zu-
rückgewiesen.
Wert
des
Verfahrens
der
Nichtzulassungsbeschwerde:
65.673,97
€.
Gründe:
I.
Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen
der B. GmbH (fortan: Schuldnerin), deren Arbeitneh-
mer unter anderem bei der Beklagten sozialversichert waren. Ab Mai 2007 ge-
riet die Schuldnerin in Rückstand mit der Abführung der Sozialversicherungs-
beiträge an die Beklagte, so dass diese sich zur Vollstreckung ihrer Forderun-
gen des hierfür zuständigen Hauptzollamts bedienen musste. Im Dezember
2007 übergab die Schuldnerin dem Vollziehungsbeamten des Hauptzollamts
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zunächst einen vordatierten Scheck über 33.810,55
€ zum Ausgleich der Sozi-
alversicherungsbeiträge für den Monat September 2007. Dieser Scheck wurde
bei Fälligkeit nicht eingelöst. Die Schuldnerin überwies den Betrag sodann in
zwei Teilzahlungen von jeweils 16.905,28
€ am 11. Januar und 18. Januar
2008. Zur Begleichung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den Monat
Oktober 2007 übergab die Schuldnerin dem Vollstreckungsbeamten am
28. Januar 2008 einen auf den 11. Februar 2008 vordatierten Scheck über
31.863,41
€, für den zunächst keine Deckung bestand. Am 19. Februar 2008
wurde der Scheck eingelöst. Die Beiträge für November 2007 beglich die
Schuldnerin ebenfalls mittels eines vordatierten Schecks am 27. März 2008. Am
27. Mai 2008 beantragte die Schuldnerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens
über ihr Vermögen. Die Verfahrenseröffnung erfolgte am 1. Juli 2008.
Das Landgericht hat den vom Insolvenzverwalter nach Anfechtung gel-
tend gemachten Anspruch auf Rückgewähr der von Januar bis März nachträg-
lich abgeführten Gesamtsozialversicherungsbeiträge für die Monate September
und Oktober 2007 abgewiesen und ihr für den Monat November stattgegeben.
Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht die Beklagte zur Zah-
lung von weiteren 65.673,97
€ nebst Zinsen verurteilt. Die Revision hat es nicht
zugelassen. Hiergegen wendet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Be-
klagten.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist statthaft (§ 544 Abs. 1 Satz 1 ZPO)
und zulässig (§ 544 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO). Sie hat jedoch keinen Erfolg.
Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fort-
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bildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
1. Die Frage, ob der Einzugsstelle bei der Beurteilung der subjektiven
Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO Kenntnisse des Sachbearbeiters des
Hauptzollamts, dessen sich die Stelle bei der Vollstreckung ihrer Bescheide
nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 4 Buchst. b VwVG, § 249 Abs. 1 Satz 3 AO,
§ 1 Nr. 4 FVG bedient hat, entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen sind,
ist ohne weiteres zu bejahen und bedarf keiner grundsätzlichen Klärung (vgl.
OLG München, ZIP 1992, 787, 788 f; Bornheimer in Pape/Uhländer, InsO,
§ 130 Rn. 52; FK-InsO/Dauernheim, 7. Aufl., § 130 Rn. 54; HmbKomm-InsO/
Rogge/Leptien, 4. Aufl., § 130 Rn. 38; MünchKomm-InsO/Kirchhof, 2. Aufl.,
§ 130 Rn. 51; Schoppmeyer in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2008, § 130 Rn. 148;
Uhlenbruck/Hirte, InsO, 13. Aufl., § 130 Rn. 63). Die Beschwerde benennt keine
Gegenstimmen, welche die Zurechenbarkeit des Wissens des Sachbearbeiters
der zuständigen Vollstreckungsstelle in Zweifel ziehen.
a) Soweit die Beschwerde meint, das Wissen des Sachbearbeiters könne
der Einzugsstelle nicht zugerechnet werden, weil entsprechend dem Wissen
des Gerichtsvollziehers auch das des Vollziehungsbeamten des ersuchten
Hauptzollamts dem Gläubiger nicht zuzurechnen sei (vgl. BGH, Beschluss vom
29. März 2012 - IX ZR 26/10, NZS 2012, 581 Rn. 4), kann dies mit der hier in
Rede stehenden Zurechnung der Kenntnis des Sachbearbeiters nicht gleichge-
setzt werden. Aus dem hier gemäß § 5 Abs. 1 VwVG anzuwendenden § 252
AO folgt eine gesetzliche Fiktion, nach der Gläubiger des zu vollstreckenden
Anspruchs die Vollstreckungsbehörde wird, die mit der Vollstreckung beauftragt
ist. Dies gilt auch dann, wenn die Vollstreckungsbehörde Ansprüche anderer
Körperschaften vollstreckt. Die als Gläubigerin fingierte Körperschaft erwirbt
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danach die Pfändungspfandrechte an beweglichen und unbeweglich Sachen
sowie die Pfändungspfandrechte an Forderungen (einhellige Meinung, vgl.
Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, 2007, § 252 Rn. 6 ff; Klein/
Brockmeyer, AO, 11. Aufl., § 252 Rn. 1 f; Loose in Tipke/Kruse, AO, 2012,
§ 252 Rn. 2). Materiell geht damit die Forderung zwar nicht auf die Vollstre-
ckungsbehörde über. Der Gläubiger muss aber als befriedigt angesehen wer-
den, wenn die zuständige Behörde die Forderung vollstreckt hat.
b) Aufgrund dieser Gesetzeslage kann die ersuchte Vollstreckungsbe-
hörde nicht mit dem Gerichtsvollzieher gleichgesetzt werden, der nicht Vertreter
des Gläubigers bei der Pfändung ist, sondern allen Beteiligten des Zwangsvoll-
streckungsverfahrens als Beamter gegenübersteht (vgl. OLG München, aaO).
Soweit es um die Vollstreckung geht, tritt die ersuchte Vollstreckungsbehörde
nicht neutral gegenüber allen Beteiligten auf, sondern rückt in die Gläubigerstel-
lung der Behörde ein, in deren Auftrag sie vollstreckt. Kenntnisse, die sie hin-
sichtlich einer eventuellen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners aufgrund dieser
Stellung erlangt, sind gegebenenfalls für die ersuchende Behörde zu sammeln
und an diese weiterzuleiten. Diese von einem für Gerichtsvollzieher abweichen-
de Aufgabe der ersuchten Vollstreckungsbehörde rechtfertigt es, die von ihr
erlangten Kenntnisse der ersuchenden Behörde zuzurechnen. Dies entspricht
dem allgemeinen Grundsatz, nach der jede am Rechtsverkehr teilnehmende
Organisation sicherstellen muss, dass die ihr zugehenden rechtserheblichen
Informationen von ihren Entscheidungsträgern zur Kenntnis genommen werden
können, und es deshalb so einrichten, dass ihre Repräsentanten, die dazu be-
rufen sind, im Rechtsverkehr bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung
wahrzunehmen, die erkennbar erheblichen Informationen tatsächlich an die
entscheidenden Personen weiterleiten (vgl. BGH, Urteil vom 12. November
1998 - IX ZR 145/98, BGHZ 140, 54, 62; vom 15. Dezember 2005 - IX ZR
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227/04, WM 2006, 194, 195 f; vom 16. Juli 2009 - IX ZR 118/08, BGHZ 182, 85
Rn. 16; vom 15. April 2010 - IX ZR 62/09, ZInsO 2010, 912 Rn. 11; so auch
BSGE 100, 215 Rn. 19). Dies gilt auch für Behörden (BGH, Urteil vom 30. Juni
2011 - IX ZR 155/08, BGHZ 190, 201 Rn. 17 f). Um eine Wissensaufspaltung
zu vermeiden, wenn eine Behörde oder Sozialversicherung sich einer anderen
Behörde als Vollstreckungsorgan bedient, darf sie sich nicht gegen die Er-
kenntnisse abschotten, welche die ersuchte Behörde bei der für sie durchge-
führten Vollstreckung gewinnt. Dass es in diesem Zusammenhang auf die Er-
kenntnis des Sachbearbeiters der vollstreckenden Behörde ankommt, ist eben-
falls geklärt (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2011, aaO Rn. 16 mwN).
2. Die von der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Gehörs-
verletzung liegt nicht vor. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhand-
lung vom 13. März 2012 hat das Berufungsgericht die Beklagte darauf hinge-
wiesen, es werde davon ausgehen, dass der bei dem Hauptzollamt zuständige
Sachbearbeiter bei der Überweisung des Betrages für September tätig gewor-
den sei und sich die Beklagte dessen Kenntnisse zurechnen lassen müsse.
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3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2
Halbs. 2 ZPO abgesehen.
Kayser
Raebel
Lohmann
Pape
Möhring
Vorinstanzen:
LG Hamburg, Entscheidung vom 10.08.2010 - 303 O 35/10 -
OLG Hamburg, Entscheidung vom 17.04.2012 - 1 U 136/10 -
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