Urteil des BGH vom 22.10.2009

BGH (aufrechnung, umsatzsteuer, höhe, eröffnung, entstehen, kirchhof, verwalter, sicherheit, begriff, wirkung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 147/06 Verkündet
am:
22. Oktober 2009
Hauck,
Justizsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
- 2 -
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. Oktober 2009 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ganter, die Richter
Prof. Dr. Gehrlein und Vill, die Richterin Lohmann und den Richter Dr. Fischer
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil des 17. Zivil-
senats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. Juni
2006 und das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt
am Main vom 28. Dezember 2005 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 167.834,66 € nebst
5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 31. Dezember 2004 zu
zahlen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 15. Juli 2004 am
1. Oktober 2004 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuld-
nerin. Das Finanzamt des beklagten Landes wurde im Rahmen einer laufenden
Betriebsprüfung sofort nach Antragstellung über diesen Antrag informiert. Zu
diesem Zeitpunkt hatte die Schuldnerin einen in Grund und Höhe unstreitigen
Steuererstattungsanspruch von 167.834,66 € gegen das Finanzamt.
1
- 3 -
Zwischen Antragstellung und Eröffnung entstanden Umsatzsteuerforde-
rungen gegen die Schuldnerin in Höhe von 19.200 € für August 2004 und in
Höhe von 148.634,66 € für September 2004. Hiermit rechnete das Finanzamt
nach Verfahrenseröffnung mit Schreiben vom 8. November 2004 und erneut mit
Schreiben vom 27. Dezember 2004 auf, wobei die Fälligkeiten dieser Forderun-
gen zunächst mit 15. November 2004, später mit 31. August und 30. September
2004 angegeben wurden.
2
Mit der Klage begehrt der Verwalter Auszahlung des Steuererstattungs-
anspruchs. Die Aufrechnungen hält er für unwirksam.
3
Das Landgericht hat die Aufrechnung für wirksam erachtet und die Klage
abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung ist ohne Erfolg geblieben. Mit
der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Anspruch in vol-
lem Umfang weiter.
4
Entscheidungsgründe:
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Instanzurteile
und zur antragsgemäßen Verurteilung des Beklagten.
5
- 4 -
I.
Das Berufungsgericht hat angenommen, dass die durch das Finanzamt
erklärte Aufrechnung nicht gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig sei. Die
Aufrechnungsmöglichkeit sei nicht in anfechtbarer Weise erlangt worden. Die
Umsatzsteuerforderungen für August und September 2004 seien zwar erst
nach dem Insolvenzantrag vom 15. Juli 2004 entstanden, von dem das Finanz-
amt noch im Juli 2004 erfahren habe. Die Aufrechnungslage sei jedoch nicht
durch eine Rechtshandlung erlangt worden, weil die Umsatzsteuer, wie jede
Steuer, kraft Gesetzes durch Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsvorausset-
zungen entstanden sei.
6
Der Begriff der Rechtshandlung sei zwar weit auszulegen, und es müss-
ten auch keine Rechtshandlungen gerade des Schuldners vorliegen. Hier aber
fehle es an dem erforderlichen finalen Aspekt einer vermögensbezogenen
Handlung, weil die Umsatzsteuerforderungen für August und September 2004
unmittelbar kraft Gesetzes entstanden seien, ohne dass möglicherweise an-
fechtbare Rechtshandlungen hinzugetreten seien.
7
II.
Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand. Die vom Fi-
nanzamt erklärte Aufrechnung war gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unwirksam.
Die Klage ist deshalb begründet.
8
1. Für die Klage wären an sich die Finanzgerichte zuständig gewesen,
weil sie auf Auszahlung eines Steuerguthabens gerichtet ist. Die Frage der
9
- 5 -
Wirksamkeit der Aufrechnung ist nicht rechtswegbestimmend (vgl. BGHZ 169,
158, 167 Rn. 26 m.w.N.). Das Berufungsgericht war jedoch gemäß § 17a Abs. 5
GVG an den vom Landgericht ohne gesonderten Beschluss nach § 17a Abs. 3
GVG bejahten Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gebunden.
2. Die Klage ist begründet, weil die vom Finanzamt erklärte Aufrechnung
gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig und damit unwirksam ist.
10
a) Zu § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist anerkannt, dass die gläubigerbenachtei-
ligende Wirkung, die mit der Herstellung einer Aufrechnungslage eintritt, selb-
ständig angefochten werden kann (BGH, Urt. v. 9. Oktober 2003 - IX ZR 28/03,
ZIP 2003, 2370, 2371; v. 2. Juni 2005 - IX ZR 263/03, ZIP 2005, 1521, 1523; v.
11. Dezember 2008 - IX ZR 195/07, NJW 2009, 363, 364 Rn. 12, z.V.b. in
BGHZ 179, 137). Der Verwalter kann die Wirkungen der Anfechtung auf die
Herstellung der Aufrechnungslage beschränken (BGH, Urt. v. 2. Juni 2005
aaO).
11
In § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO kommt die Wertung zum Ausdruck, dass das
Vertrauen des Gläubigers auf den Bestand einer durch eine anfechtbare
Rechtshandlung geschaffenen Aufrechnungslage nicht schutzwürdig ist (BT-
Drucks. 12/2443, S. 141; BGH, Urt. v. 11. Dezember 2008 aaO).
12
b) Die Möglichkeit der Aufrechnung ist vom Finanzamt in anfechtbarer
Weise erlangt worden.
13
aa) Der Begriff der Rechtshandlung ist im Anfechtungsrecht weit auszu-
legen. Rechtshandlung ist jedes von einem Willen getragene Handeln, das
rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil
14
- 6 -
der Insolvenzgläubiger verändern kann (BGHZ 170, 196, 199 f Rn. 10; BGH,
Urt. v. 12. Februar 2004 - IX ZR 98/03, WM 2004, 666, 667; v. 9. Juli 2009
- IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674, 1675 Rn. 21; MünchKomm-InsO/Kirchhof,
2. Aufl. § 129 Rn. 7; HK-InsO/Kreft, 5. Aufl. § 129 Rn. 11). Zu den Rechtshand-
lungen zählen daher nicht nur Willenserklärungen als Bestandteil von Rechts-
geschäften aller Art und rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, sondern auch
Realakte, denen das Gesetz Rechtswirkungen beimisst, wie das Einbringen
einer Sache, das zu einem Vermieterpfandrecht führt (BGHZ 170, 196, 200
Rn. 10), oder das Brauen von Bier, das die Biersteuer und die Sachhaftung des
Bieres entstehen lässt (BGH, Urt. v. 9. Juli 2009 - IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674,
1675 Rn. 21 ff).
Als Rechtshandlung kommt danach jede Handlung in Betracht, die zum
(anfechtbaren) Erwerb einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt (BGH, Urt.
v. 11. Dezember 2008 aaO S. 364 Rn. 12; v. 9. Juli 2009 aaO Rn. 22; HK-InsO/
Kayser, aaO § 96 Rn. 32; MünchKomm-InsO/Kirchhof, aaO § 129 Rn. 7).
15
Deshalb stellen auch Handlungen des Schuldners oder Dritter, die zum
Entstehen einer Umsatzsteuerschuld führen, eine solche Rechtshandlung dar,
wodurch das Schuldnervermögen belastet wird.
16
bb) Das Berufungsgericht hat im Grundsatz eine weite Definition der
Rechtshandlung zugrunde gelegt, aber gemeint, es fehle an dem finalen Aspekt
einer vermögensbezogenen Handlung. Was es hiermit gemeint hat, hat es nicht
näher erläutert. Eine zielgerichtete Herbeiführung der (anfechtbaren) Wirkung
der Rechtshandlung ist jedenfalls nicht erforderlich (BGH, Urt. v. 12. Februar
2004 -
IX
ZR 98/03, NJW 2004, 1660, 1661; MünchKomm-InsO/
17
- 7 -
Kirchhof, aaO § 129 Rn. 7, 22; Ehricke in Kübler/Prütting/Bork, InsO § 129
Rn. 36).
cc) Das Berufungsgericht hat sich hinsichtlich seiner Auffassung, dass
keine Rechtshandlung vorliegt, weil die Umsatzsteuer unmittelbar kraft Geset-
zes entstehe, auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs berufen. Dieser
hatte in einer Entscheidung vom 16. November 2004 (ZIP 2005, 628, 630 =
BFHE 208, 296, 299 f) in einer nicht tragenden Hilfserwägung angenommen,
dass die Umsatzsteuer nicht durch eine Rechtshandlung, sondern - wie jede
Steuer - kraft Gesetzes durch Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsvoraus-
setzungen entstehe (ähnlich LSG Essen ZIP 2007, 1025; diese Entscheidung
wurde aufgehoben durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. Juni 2008
- B 3 P 1/07 R, das auf diese Frage allerdings nicht eingeht).
18
Diese Auffassung verkennt den Umstand, dass Steuertatbestände - wie
bei der Umsatzsteuer - in der Regel ihrerseits an Rechtshandlungen des Steu-
erpflichtigen oder Dritter anknüpfen und hieraus die Steuerpflicht ableiten. Ge-
rade die Geschäfte des Schuldners und Steuerpflichtigen - hier die umsatzsteu-
erpflichtigen Leistungen an Kunden - führen zum Entstehen der Steuerforde-
rung des Finanzamts. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
und der ganz herrschenden Meinung kann deshalb kein Zweifel daran beste-
hen, dass in diesen Fällen eine Rechtshandlung vorliegt (Onusseit EWiR 2005,
477 f; ders. Festschrift für Gerhardt S. 725, 740; Jaeger/Windel, InsO § 96
Rn. 48 Fn. 263; vgl. auch Schultze EWiR 2007, 211 f; Bork ZInsO 2003, 686,
688).
19
Dieser Wertung ist vergleichbar der Fall, dass der Schuldner, der seine
Forderungen im Rahmen einer Globalzession an die Bank abgetreten hat, nun-
20
- 8 -
mehr Leistungen an seine Gläubiger erbringt (vgl. dazu zuletzt etwa BGH, Urt.
v. 26. Juni 2008 - IX ZR 47/05, ZIP 2008, 1437, 1439 Rn. 23). Auch hier ist ein
finaler Aspekt im Handeln des Schuldners gerade im Hinblick auf das Werthal-
tigmachen der Sicherheit nicht erforderlich. Durch das Erbringen der dem Gläu-
biger vertraglich geschuldeten Leistung wird als gleichsam automatisch eintre-
tende Doppelwirkung auch die Sicherheit der Bank erhöht.
dd) Eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshö-
fe des Bundes ist nicht erforderlich. In der genannten Entscheidung des Bun-
desfinanzhofs führte die Verletzung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO zur Aufhebung
und Zurückverweisung. Das - vermeintliche - Fehlen einer Rechtshandlung im
Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO war nicht entscheidungserheblich. Es bedarf
deshalb auch keiner Beurteilung, ob es in der damals dem Bundesfinanzhof
vorliegenden Konstellation an einer Rechtshandlung fehlte.
21
Das Berufungsgericht hat sich auch auf die Entscheidung des Bundesfi-
nanzhofs vom 5. Oktober 2004 bezogen (BFH ZIP 2005, 266), jedoch befasst
sich diese Entscheidung nicht mit der hier aufgeworfenen Rechtsfrage. Die Ent-
scheidung des Bundesfinanzhofs vom 16. Oktober 2008 (ZInsO 2009, 159) be-
urteilt lediglich, ob der Eintritt der Uneinbringlichkeit eines vereinbarten Entgelts
eine Rechtshandlung darstellt. Die Entscheidung vom 26. Januar 2005 (VII R
22/04) betrifft - entgegen dem in juris veröffentlichten Leitsatz - nicht § 96
Abs. 1 Nr. 3 InsO. Die Entscheidung vom 14. Januar 2009 (BFH NV 2009, 885)
behandelt die Aufrechnung mit Vorsteuervergütungsansprüchen, wobei die
Ausführungen zu §§ 129 ff InsO nicht tragend sind, sondern lediglich Hilfserwä-
gungen darstellen. Auch die Entscheidung vom 27. Februar 2009 (ZInsO 2009,
1068) befasst sich inhaltlich nicht mit § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO.
22
- 9 -
c) Das Finanzamt war Insolvenzgläubiger, weil die Umsatzsteueransprü-
che, mit denen es aufgerechnet hat, nach den Feststellungen des Berufungsge-
richts und dem übereinstimmenden Vortrag der Revisionsparteien nach dem
Antrag auf Eröffnung, aber vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, nämlich
im August und September 2004 entstanden sind.
23
d) Ob das Erlangen der Aufrechnungslage eine kongruente oder inkon-
gruente Deckung darstellte, kann dahinstehen. Denn es liegen ohne weiteres
bereits die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor. Der Insol-
venzantrag war am 15. Juli 2004 gestellt worden, was dem Finanzamt noch im
Juli 2004 bekannt wurde. Die Umsatzsteueransprüche für August und Septem-
ber 2004 entstanden danach, also zu einem Zeitpunkt, in dem dem Finanzamt
der Eröffnungsantrag bekannt war.
24
e) Die objektive Gläubigerbenachteiligung gemäß § 129 InsO liegt darin,
dass sich das Finanzamt durch Aufrechnung befriedigen konnte, während es
andernfalls nur eine Insolvenzforderung hätte geltend machen können und al-
lenfalls eine Quote erhalten hätte (vgl. BGH, Urt. v. 9. Oktober 2003 aaO
S. 2371). Durch eine wirksame Aufrechnung hätten sich die Befriedigungsmög-
25
- 10 -
lichkeiten der übrigen Insolvenzgläubiger verschlechtert (BGHZ 124, 76, 78 f;
170, 276, 280; BGH, Urt. v. 9. Juli 2009 aaO S. 1675 Rn. 25).
Ganter
Gehrlein
Vill
Lohmann
Fischer
Vorinstanzen:
LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 28.12.2005 - 2-04 O 109/05 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 28.06.2006 - 17 U 27/06 -