Urteil des BGH vom 11.08.2010

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BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 171/10
vom
11. August 2010
In der Betreuungssache
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. August 2010 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Hahne, den Richter Prof. Dr. Wagenitz, die Richterin
Dr. Vézina und die Richter Dose und Schilling
beschlossen:
1. Der Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung
und zur Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den
Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Olden-
burg vom 6. April 2010 gewährt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Be-
schluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg
vom 6. April 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur weiteren Behandlung und Entschei-
dung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdever-
fahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Für die Betroffene ist seit 1997 ein Betreuer bestellt. Mit Beschluss vom
25. Februar 2010 hat das Amtsgericht den Aufgabenbereich des Betreuers auf
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die Vermögenssorge (mit Einwilligungsvorbehalt), ausgenommen die Verwal-
tung der laufenden Sozialhilfebeträge, auf Wohnungsangelegenheiten sowie
auf Prozess-, Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten (mit Einwilli-
gungsvorbehalt) beschränkt. Zugleich hat es die Betreuung bis zum 25. Februar
2017 verlängert. Von einer Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht ab-
gesehen, da die Betroffene eine "erneute Anhörung" abgelehnt habe und eine
Vorführung der Betroffenen angesichts deren früherer Anhörungen unverhält-
nismäßig sei. Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde der Betroffe-
nen hat das Landgericht zurückgewiesen. Von einer Anhörung der Betroffenen
hat auch das Landgericht abgesehen: Die Betroffene sei im Rahmen der
Betreuung bereits mehrfach angehört worden. Auf eine Anhörung durch das
Amtsgericht im Zusammenhang mit der Verlängerung habe sie verzichtet. Von
einer erneuten Vornahme der Verfahrenshandlung seien keine zusätzlichen
Erkenntnisse zu erwarten. Diese Annahme rechtfertige sich insbesondere dar-
aus, dass die Betroffene in ihrer umfangreichen Beschwerdebegründung keine
neuen Tatsachen vorgetragen habe.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Zulässigkeit bestimmt sich
nach § 70 Abs. 3 Nr. 1 FamFG, da das erstinstanzliche Verfahren auf Verlänge-
rung der Betreuung nach dem 31. August 2009 eingeleitet worden ist (Art. 111
Abs. 1 Satz 1 FGG-RG). Die danach ohne Zulassung statthafte Rechtsbe-
schwerde ist auch zulässig, der der Betroffenen aufgrund ihres rechtzeitig ge-
stellten Antrags auf Verfahrenskostenhilfe antragsgemäß Wiedereinsetzung in
die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Rechtsbeschwerde zu ge-
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währen ist und diese Prozesshandlungen - ebenfalls rechtzeitig - nachgeholt
worden sind.
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Landgericht durfte
- wie schon zuvor das Amtsgericht - über die Verlängerung der Betreuung und
der Anordnung des Einwilligungsvorbehalts nicht ohne persönliche Anhörung
der Betroffenen entscheiden.
Nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor
der (erstmaligen) Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwil-
ligungsvorbehaltes persönlich anzuhören. Diese Regelung gilt gemäß § 295
FamFG für die Verlängerung der Bestellung eines Betreuers oder der Anord-
nung eines Einwilligungsvorbehalts entsprechend. Die Pflicht zur persönlichen
Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätz-
lich auch im Beschwerdeverfahren.
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Zwar kann nach § 34 Abs. 2 FamFG die persönliche Anhörung unterblei-
ben, wenn hiervon erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen zu
besorgen sind (zum Erfordernis eines ärztlichen Gutachtens vgl. § 278 Abs. 4
FamFG) oder wenn der Betroffene offensichtlich nicht in der Lage ist, seinen
Willen kundzutun. Diese Voraussetzungen sind jedoch weder festgestellt noch
sonst ersichtlich.
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Ferner kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG
zwar von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten
Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine
neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Auch diese - kumulativ erforderlichen -
Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Denn das Amtsgericht hat die
Betroffene nicht persönlich angehört.
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Aufgrund des Umstandes, dass die Betroffene - auf eine in den ange-
fochtenen Beschlüssen nicht näher bezeichnete Weise - auf eine Anhörung
durch die Amtsrichterin verzichtet hat, wird eine Anhörung durch das Be-
schwerdegericht nicht entbehrlich. Dies gilt umso mehr, als schon das Amtsge-
richt nicht im Hinblick auf den bloßen "Verzicht" der Betroffenen von deren per-
sönlicher Anhörung absehen durfte. Es musste vielmehr gemäß § 34 Abs. 1
FamFG einen Anhörungstermin bestimmen und durfte erst bei einem - trotz
Hinweises nach § 34 Abs. 3 Satz 2 FamFG - unentschuldigtem Ausbleiben der
Betroffenen das Verfahren ohne deren persönliche Anhörung beenden (§ 34
Abs. 3 Satz 1 FamFG). Auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Vor-
führung der Betroffenen kommt es deshalb hier nicht an.
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3. Die Zurückverweisung ermöglicht es, die Anhörung der Betroffenen
nachzuholen. Sie gibt dem Beschwerdegericht zugleich Gelegenheit, den Be-
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denken nachzugehen, die in der Rechtsbeschwerdegründung hinsichtlich einer
fortdauernden Notwendigkeit eines Einwilligungsvorbehalts aufgezeigt werden.
Hahne Wagenitz
Vézina
Dose Schilling
Vorinstanzen:
AG Oldenburg, Entscheidung vom 25.02.2010 - 52 XVII (K) 622 -
LG Oldenburg, Entscheidung vom 06.04.2010 - 8 T 260/10 -