Urteil des BGH vom 04.06.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VIII ZR 289/13
Verkündet am:
4. Juni 2014
Ring,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 543 Abs. 1, § 573 Abs. 2 Nr. 1
In die Würdigung, ob der Vermieter angesichts einer Pflichtverletzung des Mieters ein be-
rechtigtes Interesse (§ 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB) an der Beendigung des Mietvertrages hat oder
die Fortsetzung des Mietverhältnisses für ihn unzumutbar ist (§ 543 Abs. 1 BGB), ist ein
vorangegangenes vertragswidriges Verhalten des Vermieters einzubeziehen, insbesondere,
wenn es das nachfolgende vertragswidrige Verhalten des Mieters provoziert hat.
BGB § 535
Eine Nebenpflicht des Mieters, dem Vermieter - nach entsprechender Vorankündigung - den
Zutritt zu seiner Wohnung zu gewähren, besteht nur dann, wenn es hierfür einen konkreten
sachlichen Grund gibt, der sich zum Beispiel aus der Bewirtschaftung des Objektes ergeben
kann.
BGB § 307 Abs. 1 Satz 1 Bb, Cl
Eine Formularbestimmung, die dem Vermieter von Wohnraum ein Recht zum Betreten der
Mietsache ganz allgemein "zur Überprüfung des Wohnungszustandes" einräumt, ist wegen
unangemessener Benachteiligung des Mieters (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) unwirksam.
BGH, Urteil vom 4. Juni 2014 - VIII ZR 289/13 - LG Koblenz
AG Bad Neuenahr-Ahrweiler
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Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 4. Juni 2014 durch die Richterin Dr. Milger als Vorsitzende, die Richterin
Dr. Hessel, den Richter Dr. Schneider, die Richterin Dr. Fetzer sowie den Rich-
ter Dr. Bünger
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil der 14. Zivilkammer
des Landgerichts Koblenz vom 19. September 2013 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Bad
Neuenahr-Ahrweiler vom 24. April 2013 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Beklagte ist seit Juli 2006 Mieter eines Hauses der Klägerin. Bereits
im Jahr 2009 war es zwischen den Parteien zu zwei gerichtlichen Auseinander-
setzungen gekommen, die ihre Ursache in einem Streit über das Besichtigungs-
recht der Klägerin hatten.
Am 16. August 2012 suchte die Klägerin den Beklagten vereinbarungs-
gemäß auf, um zwischenzeitlich installierte Rauchmelder in Augenschein zu
nehmen. Bei dieser Gelegenheit versuchte die Klägerin, das gesamte Haus zu
besichtigen und gegen den Willen des Beklagten weitere als die mit Rauchmel-
dern versehenen Zimmer zu betreten. Der daraufhin vom Beklagten unmissver-
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ständlich ausgesprochenen Aufforderung, das Haus zu verlassen, leistete sie
keine Folge, sondern verweilte in der Diele vor der Haustür. Sie öffnete dort ein
Fenster im Flur, nachdem sie zuvor Gegenstände des Beklagten von der
Fensterbank genommen hatte. Daraufhin umfasste der Beklagte mit den Armen
die Klägerin am Oberkörper und trug sie vor die Haustür. Wegen dieses Vorfalls
erklärte die Klägerin durch ihren erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten mit
Schreiben vom 29. August 2012 die fristlose und hilfsweise die ordentliche
Kündigung des Mietverhältnisses.
Die von der Klägerin erhobene Räumungsklage ist vor dem Amtsgericht
erfolglos geblieben. Auf die von dem Beklagten erhobene Widerklage auf Zah-
lung von
661,61 € (Schadensersatz wegen außergerichtlicher Rechtsanwalts-
kosten) ist die Klägerin antragsgemäß verurteilt worden. Auf die Berufung der
Klägerin hat das Landgericht das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben, dem
Räumungsantrag stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Mit der vom
Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des
amtsgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im We-
sentlichen ausgeführt:
Die Kündigung der Klägerin sei gemäß § 543 Abs. 1 BGB berechtigt, da
es ihr unzumutbar sei, das Mietverhältnis mit dem Beklagten bis zum Ablauf
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einer ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Zwar habe die Klägerin
dadurch, dass sie der unmissverständlichen Aufforderung des Beklagten, das
Haus zu verlassen, nicht Folge geleistet habe, gegen das Hausrecht des Be-
klagten verstoßen. Dieser Verstoß gebe dem Beklagten auch grundsätzlich das
Recht der Notwehr. Die Notwehrhandlung müsse jedoch verhältnismäßig sein;
das Heraustragen der Klägerin aus dem vom Beklagten angemieteten Haus sei
nicht das mildeste Mittel und somit nicht verhältnismäßig gewesen. Dem Be-
klagten sei zumutbar gewesen, die Klägerin zunächst noch einmal auf sein
Hausrecht aufmerksam zu machen und ihr mit einer Anzeige zu drohen. Wenn
dies keine Wirkung gezeigt hätte, hätte er die Klägerin aus der Haustür "her-
ausdrängen" können. Die Klägerin habe sich durch die demütigend wirkende
Behandlung des Beklagten lächerlich gemacht und nicht ernst genommen füh-
len müssen, weshalb das Verhältnis zwischen den Parteien erschüttert und der
Klägerin ein Wohnen mit dem Beklagten "Tür an Tür" nicht mehr zumutbar sei.
Aufgrund der berechtigten Kündigung bestehe kein Anspruch des Be-
klagten aus § 280 BGB auf die durch die Inanspruchnahme eines Rechtsan-
walts verursachten Kosten.
II.
Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der vom
Berufungsgericht gegebenen Begründung kann dem Räumungsbegehren der
Klägerin nicht stattgegeben und die Widerklage nicht abgewiesen werden. Das
Berufungsgericht hat verkannt, dass der Klägerin selbst eine Pflichtverletzung
zur Last fällt, mit der sie das in dem Kündigungsschreiben beanstandete Ver-
halten des Beklagten provoziert hat.
1. Entgegen der Auffassung der Revision ergeben sich die tatbestandli-
chen Grundlagen für die Entscheidung in der Berufungsinstanz sowie die
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Sachanträge der Parteien, obwohl sie nicht wörtlich wiedergegeben sind, mit
(noch) hinreichender Deutlichkeit aus den Entscheidungsgründen.
2. Zu Recht macht die Revision jedoch geltend, dass das Berufungsge-
richt den festgestellten Sachverhalt nicht umfassend gewürdigt hat (§ 286
Abs. 1 ZPO).
a) Die fristlose Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses setzt ge-
mäß § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB voraus, dass dem Kündigenden unter Berück-
sichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens
der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die
Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis
zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
Die Beantwortung der Frage, ob eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne
vorliegt, ist das Ergebnis einer wertenden Betrachtung; diese obliegt in erster
Linie dem Tatrichter und kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft
werden, ob der Tatrichter die maßgebenden Tatsachen vollständig und fehler-
frei festgestellt und gewürdigt hat und ob er die allgemein anerkannten Maßstä-
be berücksichtigt und richtig angewandt hat (Senatsurteil vom 9. März 2005
- VIII ZR 394/03, WuM 2005, 401 unter II 3). Nach diesen Kriterien ist die Auf-
fassung des Berufungsgerichts, der Klägerin sei die Fortsetzung des Mietver-
hältnisses mit dem Beklagten nicht mehr zuzumuten gewesen, als rechtsfehler-
haft zu beanstanden.
Das Berufungsgericht sieht eine die fristlose Kündigung rechtfertigende
Verletzung mietvertraglicher Pflichten durch den Beklagten darin, dass dieser
die Grenzen seines Notwehrrechtes (§ 227 BGB) überschritten habe, indem er
die Klägerin in "demütigender" Weise aus dem Haus getragen habe. Der Be-
klagte habe die Klägerin allenfalls nach einer erfolglosen Drohung mit einer An-
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zeige wegen Verletzung des Hausrechts aus dem Haus "herausdrängen" dür-
fen.
b) Ob dem Berufungsgericht in dieser Beurteilung gefolgt werden kann,
bedarf keiner Entscheidung. Denn das Urteil des Berufungsgerichts kann schon
deshalb keinen Bestand haben, weil es bei seiner Abwägung nicht berücksich-
tigt hat, dass die Klägerin ihrerseits vor dem beanstandeten Verhalten des Be-
klagten ihre mietvertragliche Rücksichtnahmepflicht verletzt und dadurch das
nachfolgende Verhalten des Beklagten herausgefordert hat.
Die Parteien hatten verabredet, dass die Klägerin (lediglich) die Räume
mit den angebrachten Rauchmeldern in Augenschein nehmen sollte. Zu einer
weiteren eigenmächtigen Besichtigung war die Klägerin nicht berechtigt. Indem
sie dies gleichwohl - gegen den Willen des Beklagten - durchzusetzen versuch-
te und seiner Aufforderung, das Haus zu verlassen, nicht nachkam, hat sie, was
auch das Berufungsgericht im Ansatz nicht verkannt hat, das Hausrecht des
Beklagten verletzt. Sie trägt deshalb zumindest eine Mitschuld an dem nachfol-
genden Geschehen, die das Berufungsgericht bei seiner Abwägung rechtsfeh-
lerhaft nicht berücksichtigt hat.
c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung steht dem Vermie-
ter weder ein periodisches, etwa alle ein bis zwei Jahre zu gewährendes Recht,
ohne besonderen Anlass den Zustand der Wohnung zu kontrollieren, zu (so
auch LG München II, ZMR 2009, 371; aA LG Tübingen, GE 2008, 1055;
Lützenkirchen, NJW 2007, 2152 f.) noch ergibt sich ein solches Recht aus der
von der Revisionserwiderung angeführten Formularklausel im Mietvertrag der
Parteien, wonach die Klägerin berechtigt sei, das vom Beklagten gemietete
Haus nach vorheriger Ankündigung zur "Überprüfung des Wohnungszustands"
zu besichtigen.
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Diese ein anlassloses Betretungsrecht regelnde Klausel benachteiligt
den Mieter unangemessen und ist daher unwirksam (§ 307 Abs. 1 BGB).
Während der Dauer des Mietvertrags ist das alleinige und uneinge-
schränkte Gebrauchsrecht an der Wohnung dem Mieter zugewiesen. Zudem
steht die Wohnung des Mieters als die räumliche Sphäre, in der sich das Privat-
leben entfaltet, unter dem Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG, der das Recht gewähr-
leistet, in diesen Räumen "in Ruhe gelassen zu werden" (BVerfG, Beschlüsse
vom 26. Mai 1993 - 1 BvR 208/93, BVerfGE 89, 1, 23, sowie vom 16. Januar
2004 - 1 BvR 2285/03, NZM 2004, 186, 187).
Vor diesem Hintergrund kann dem Vermieter von Wohnraum entgegen
einer Auffassung, die teilweise in der Instanzrechtsprechung (LG Stuttgart, ZMR
1985, 273, LG Frankfurt a.M., Urteil vom 17. Dezember 2012 - 2-11 S 146/12,
BeckRS 2013, 06643; AG Münster WuM 2009, 288; AG Saarbrücken, ZMR
2005, 372; AG Rheine, WuM 2003, 315; vgl. auch LG Tübingen, GE 2008, 1055
zur Gewerberaummiete) und der Literatur (Palandt/Weidenkaff, BGB, 73. Aufl.
§ 535 Rn. 82; Erman/Lützenkirchen, BGB, 13. Aufl., § 535 Rn. 76; Krämer/
Schüller in: Bub/Treier, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Aufl.,
III. A Rn. 2720; Hannemann/Wiegener/Kühn, Münchener Anwaltshandbuch
Mietrecht, 3. Aufl., § 15 Rn. 132) vertreten wird, nicht das Recht zugebilligt wer-
den, die Mietsache auch ohne besonderen Anlass in einem regelmäßigen zeitli-
chen Abstand von ein bis zwei Jahren zu besichtigen.
Vielmehr besteht eine vertragliche, aus § 242 BGB herzuleitende Ne-
benpflicht des Mieters, dem Vermieter - nach entsprechender Vorankündigung -
den Zutritt zu seiner Wohnung zu gewähren, nur dann, wenn es hierfür einen
konkreten sachlichen Grund gibt, der sich zum Beispiel aus der ordnungsge-
mäßen Bewirtschaftung des Objektes ergeben kann (LG München II, ZMR
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2009, 371; LG Hamburg, WuM 1994, 425; AG Bonn, NZM 2006, 698; Münch-
KommBGB/Häublein, BGB, 6. Aufl., § 535 Rn. 134 ff.; Staudinger/Emmerich,
BGB, Neubearb. 2011, § 535 Rn. 98; Soergel/Heintzmann, BGB, 13. Aufl.,
§ 535 Rn. 43; Schmidt-Futterer/Eisenschmid, Mietrecht, 11. Aufl., § 535 BGB
Rn. 206; BeckOK/Ehlert, Stand Mai 2014, § 535 Rn. 218b).
3. Für den mit der Widerklage geltend gemachten Anspruch auf Erstat-
tung vorgerichtlicher Anwaltskosten, die dem Beklagten im Anschluss an die
von der Klägerin ausgesprochene Kündigung entstanden sind, gilt nichts ande-
res. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Anspruch
des Beklagten auf Erstattung der ihm wegen der fristlosen Kündigung entstan-
denen Rechtsberatungskosten nicht verneint werden.
III.
Das Berufungsurteil kann daher keinen Bestand haben; es ist aufzuhe-
ben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da weitere Feststellungen nicht zu erwarten sind, ent-
scheidet der Senat in der Sache selbst (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dies führt zur Zu-
rückweisung der Berufung der Klägerin und zur Wiederherstellung des erstin-
stanzlichen Urteils.
1. Die von der Klägerin erklärte Kündigung vom 29. August 2012 ist we-
der als fristlose Kündigung (§ 543 Abs. 1 BGB) noch als ordentliche Kündigung
(§ 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB) begründet. Angesichts der Gesamtumstände, insbe-
sondere des vorangegangenen pflichtwidrigen Verhaltens der Klägerin, stellt
das mit der Kündigung beanstandete Verhalten des Beklagten - selbst wenn er
damit, wie das Berufungsgericht angenommen hat, die Grenzen erlaubter Not-
wehr (geringfügig) überschritten haben sollte - jedenfalls keine derart gravie-
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rende Pflichtverletzung dar, dass der Klägerin deshalb die weitere Fortsetzung
des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden könnte (§ 543 Abs. 1 Satz 2
BGB). Auch von einer Vertragsverletzung von einem Gewicht, das ein berech-
tigtes Interesse der Klägerin an der Beendigung des Mietvertrags rechtfertigt
(§ 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB), kann unter diesen Umständen nicht ausgegangen
werden.
2. Der mit der Widerklage geltend gemachte, auf Ersatz vorgerichtlicher
Rechtsanwaltskosten gerichtete Schadensersatzanspruch des Beklagten ist
aus § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB begründet. Der Vermieter, der schuldhaft eine
materiell unbegründete Kündigung ausspricht und dem Mieter auf diese Weise
sein Besitzrecht grundlos streitig macht, verletzt vertragliche Nebenpflichten
aus dem Mietvertrag (BGH, Urteile vom 11. Januar 1984 - VIII ZR 255/82,
BGHZ 89, 296, 302; vom 14. Januar 1988 - IX ZR 265/86, NJW 1988, 1268
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unter III 2 b; vom 8. Juli 1998 - XII ZR 64/96, NZM 1998, 718 unter 2 a). So ver-
hält es sich im Streitfall.
Dr. Milger
Dr. Hessel
Dr. Schneider
Dr. Fetzer
Dr. Bünger
Vorinstanzen:
AG Bad Neuenahr-Ahrweiler, Entscheidung vom 24.04.2013 - 32 C 666/12 -
LG Koblenz, Entscheidung vom 19.09.2013 - 14 S 116/13 -