Urteil des BGH vom 11.04.2013

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZB 43/12
vom
11. April 2013
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 130 Nr. 6, § 519 Abs. 4, § 233 B
a) Der Schriftzug eines Rechtsanwalts am Ende einer Berufungsschrift erfüllt die
Anforderungen an die nach § 130 Nr. 6 ZPO zu leistende Unterschrift nur, wenn
er erkennen lässt, dass der Unterzeichner seinen vollen Namen und nicht nur
eine Abkürzung hat niederschreiben wollen (st. Rspr.; beispielsweise BGH,
Beschluss vom 28. September 1998 - II ZB 19/98, NJW 1999, 60).
b) Ist der diesen Anforderungen nicht entsprechende Schriftzug so oder
geringfügig abwei-chend von den Gerichten längere Zeit ohne Beanstandung
als formgültige Unterschrift hingenommen worden, kann der Rechtsanwalt
darauf vertrauen, dass er den Anforderungen des § 130 Nr. 6 ZPO entspricht.
Wird der Schriftzug vom Berufungsgericht in einem solchen Fall nicht als
Unterschrift anerkannt, ist dem Berufungskläger in der Regel wegen
Versäumung der Berufungsfrist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren.
BGH, Beschluss vom 11. April 2013 - VII ZB 43/12 - OLG Nürnberg
LG Nürnberg-Fürth
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Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. April 2013 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kniffka, die Richterin Safari Chabestari und die
Richter Dr. Eick, Kosziol und Prof. Dr. Jurgeleit
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des
13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 17. Juli
2012 aufgehoben.
Der Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungsfrist Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Gegenstandswert: 16.165,44 €
Gründe:
I.
Das Landgericht hat die Beklagte mit Schlussurteil vom 15. März 2011
verurteilt, an die Klägerin 75.939,63
€ nebst Zinsen zu zahlen und die Klage im
Übrigen abgewiesen. Am letzten Tag der Berufungsfrist ging unter dem Brief-
kopf der damaligen Prozessbevollmächtigten der Beklagten ein Schriftsatz ein,
mit dem namens und in Vollmacht der Beklagten Berufung eingelegt wurde.
Dieser Schriftsatz schließt mit der maschinenschriftlichen Namensangabe
"K. L., Rechtsanwältin" und einem durch die Namensangabe geführten Schrift-
zug ab. Die am 23. Mai 2011 eingegangene Berufungsbegründung enthält wie-
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derum die handschriftliche Namensangabe "K. L., Rechtsanwältin" und einen
den Schriftsatz abschließenden unleserlichen Schriftzug.
Unter dem 26. Mai 2011 wies der Vorsitzende darauf hin, dass Bedenken
gegen die Zulässigkeit der Berufung im Hinblick auf das Erfordernis der Unter-
schrift bei bestimmenden Schriftsätzen bestünden. Die Berufungsschrift weise
keine Unterschrift, sondern eine "Streichung" des dort maschinenschriftlich an-
gegebenen Namens auf. Allenfalls könne es sich bei dem Schriftzug um eine
Paraphe handeln, die keine formgültige Unterschrift darstelle.
Die Beklagte beantragte daraufhin mit Schriftsatz vom 17. Juni 2011
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungs- und
vorsorglich auch der Berufungsbegründungsfrist unter nochmaliger Begründung
der Berufung. Dieser wiederum unter dem Briefkopf der Prozessbevollmächtig-
ten der Beklagten verfasste Schriftsatz endet erneut mit der maschinenschriftli-
chen Namensangabe "K. L., Rechtsanwältin" und einem unleserlichen Schrift-
zug. Die Beklagte trug vor, bei dem Schriftzug auf der Berufungsschrift handele
es sich um die Unterschrift der dort namentlich aufgeführten Rechtsanwältin.
Diese unterzeichne alle Schriftsätze ausnahmslos mit ihrem Nachnamen "L.".
Über die Jahre habe sich die Unterschrift hin zum aktuellen, bereits seit 2007
praktizierten Schriftbild immer weiter abgeschliffen. Das genaue Schriftbild vari-
iere leicht, je nach Häufigkeit der zu leistenden Unterschriften und nach Tages-
form. Die Unterschrift sei bisher von keiner Seite, auch nicht vom Berufungsge-
richt, beanstandet worden. Im Hinblick darauf sei der Beklagten jedenfalls we-
gen unverschuldeter Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren, wenn die Unterschrift nicht hingenommen werde.
Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Juli 2012 den Wieder-
einsetzungsantrag zurückgewiesen und zugleich die Berufung gemäß § 522
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Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig verworfen. Gegen beides richtet sich die
Rechtsbeschwerde der Beklagten, mit der sie in erster Linie die Aufhebung der
Entscheidung des Berufungsgerichts über die Verwerfung der Berufung er-
strebt.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522
Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerde-
gerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat der
Beklagten zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäu-
mung der Berufungsfrist verwehrt. Die auf der unzutreffenden Annahme der
Versäumung der Berufungsfrist beruhende Verwerfung der Berufung als unzu-
lässig verletzt die Beklagte in ihren Verfahrensgrundrechten auf Gewährung
rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvol-
len Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts-
staatsprinzip (vgl. BVerfG, NJW 1989, 1147; NJW-RR 2002, 1004).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Beklagte hat zwar die
Berufungsfrist versäumt. Ihr war insoweit jedoch antragsgemäß Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO).
a) Eine Berufungsschrift ist gemäß § 130 Nr. 6 ZPO i.V.m § 519 Abs. 4
ZPO von dem Prozessbevollmächtigten der Partei eigenhändig zu unterschrei-
ben. Bei der zu leistenden Unterschrift muss es sich nach dem äußeren Er-
scheinungsbild um einen Schriftzug handeln, der erkennen lässt, dass der Un-
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terzeichner seinen vollen Namen und nicht nur eine Abkürzung hat nieder-
schreiben wollen (BGH, Beschluss vom 28. September 1998 - II ZB 19/98, NJW
1999, 60). Ein Schriftzug, der seinem äußeren Erscheinungsbild nach eine be-
wusste und gewollte Namensabkürzung darstellt, genügt den an eine eigen-
händige Unterschrift zu stellenden Anforderungen nicht (BGH, Beschlüsse vom
9. Februar 2010 - VIII ZB 67/09, juris Rn. 10 und vom 21. Februar 2008
- V ZB 96/07, Grundeigentum 2008, 539). Gemessen an diesen Grundsätzen
handelt es sich bei dem Schriftzug auf der Berufungsschrift vom 26. April 2011
nicht um eine Unterschrift im Sinne des § 130 Nr. 6 ZPO. Der den Berufungs-
schriftsatz abschließende Schriftzug lässt sich nicht als lediglich flüchtig nieder-
gelegte und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnete Unter-
zeichnung mit dem vollen Nachnamen "L." werten. Er besteht lediglich aus zwei
leicht bogenförmigen Strichen, die schleifenförmig am unteren Ende spitz zu-
sammenlaufen und am oberen Ende sich kreuzend auslaufen. Der Schriftzug
lässt keinen einzigen Buchstaben des Nachnamens der Rechtsanwältin L. auch
nur ansatzweise erkennen. Auch bei großzügiger Betrachtung unter der Be-
rücksichtigung der maschinenschriftlichen Namensangabe (vgl. dazu BGH, Be-
schluss vom 8. Januar 1997 - XII ZB 199/96, NJW-RR 1997, 760) lässt sich die
"Schleife" nicht als Nachname "L." deuten. Die Berufung ist damit nicht form-
wirksam eingelegt; die Berufungsfrist ist nicht gewahrt.
b) Das Berufungsgericht hat der Beklagten jedoch rechtsfehlerhaft die
fristgerecht beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäu-
mung der Berufungsfrist versagt.
aa) Bedenken des Berufungsgerichts gegen die Formgültigkeit der Un-
terschrift der Prozessbevollmächtigten der Beklagten unter dem Wiedereinset-
zungsantrag sind nicht gerechtfertigt. Sie hält einem Vergleich mit den sonsti-
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gen aus den Akten ersichtlichen, unbeanstandet gebliebenen Unterschriften
stand.
bb) Weder der Beklagten selbst noch ihrer Prozessbevollmächtigten, de-
ren Verschulden sie sich zurechnen lassen müsste (§ 85 Abs. 2 ZPO), ist we-
gen der Versäumung der Berufungsfrist ein Schuldvorwurf zu machen. Zwar hat
sich ein Rechtsanwalt über den Stand der Rechtsprechung zu unterrichten
(BGH, Beschluss vom 28. September 1998 - II ZB 19/98, NJW 1999, 60; Be-
schluss vom 20. Dezember 1978 - IV ZB 115/78, NJW 1979, 877). Der Pro-
zessbevollmächtigten der Beklagten mussten daher auch die höchstrichterli-
chen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterzeichnung bestimmender
Schriftsätze bekannt sein. Auf der anderen Seite genießt ein Rechtanwalt je-
doch über den Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung hinaus, der eine Vor-
warnung gebietet, falls derselbe Spruchkörper die von ihm längere Zeit gebillig-
te Form einer Unterschrift nicht mehr hinnehmen will (BVerfGE 78, 123, 126),
einen verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz (BVerfG, NJW 1998,
1853). Ist daher, wie die Prozessbevollmächtigte der Beklagten glaubhaft vor-
getragen hat und sich ansatzweise auch aus den Akten ergibt, der vom Beru-
fungsgericht beanstandete Schriftzug so oder geringfügig abweichend bis dahin
allgemein von den Gerichten, wenn auch nicht vom Berufungssenat, über län-
gere Zeit als in sehr verkürzter Weise geleistete Unterschrift unbeanstandet
geblieben, durfte sie darauf vertrauen, dass sie den in der Rechtsprechung an-
erkannten Anforderungen entsprach (BGH, Beschluss vom 21. Juni 1990
- I ZB 6/90, NJW-RR 1991, 511; Beschluss vom 28. September 1998
- II ZB 19/98, aaO).
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3. Der Beklagten war daher die beantragte Wiedereinsetzung zu bewilli-
gen. Dementsprechend war der die Berufung als unzulässig verwerfende Be-
schluss aufzuheben.
Kniffka
Safari Chabestari
Eick
Kosziol
Jurgeleit
Vorinstanzen:
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 15.03.2011 - 12 O 8219/03 -
OLG Nürnberg, Entscheidung vom 17. Juli 2012 - 13 U 856/11 -
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