Urteil des BGH vom 06.03.2014

BGH: wiedereinsetzung in den vorigen stand, vertretung, verschulden, rechtsstaatsprinzip, zugang, benachrichtigung, vorsorge, unterlassen, zivilprozessordnung, krankheit

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 215/12
vom
6. März 2014
in dem Rechtsstreit
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. März 2014 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Czub, die Richterinnen
Dr. Brückner und Weinland und den Richter Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Kläger wird der Beschluss des
9. Zivilsenats
des
Oberlandesgerichts
Dresden
vom
26. November 2012 aufgehoben.
Den Klägern wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungs-
gericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren
be
trägt 10.407,40 €.
Gründe:
I.
Mit den Klägern am 1. August 2012 zugestelltem Urteil hat das Land-
gericht ihre Schadensersatzklage abgewiesen. Hiergegen hat der Prozess-
bevollmächtigte der Kläger bei dem Oberlandesgericht fristgerecht Berufung
eingelegt. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2012 hat der Senatsvorsitzende da-
rauf hingewiesen, dass eine Berufungsbegründung nicht vorliege.
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Am 9. Oktober 2012 haben die Kläger die Berufung begründet und Wie-
dereinsetzung in die versäumte Frist beantragt. Hierzu haben sie ausgeführt, ihr
Prozessbevollmächtigter sei an der Wahrung der Berufungsbegründungsfrist
ohne Verschulden gehindert gewesen. Dieser habe am 1. Oktober 2012, nach-
dem es ihm am Vortag noch gut gegangen sei, nach dem Erwachen festge-
stellt, dass er mehr als 39,5 Grad Fieber, schlimme Halsschmerzen und erheb-
liche Schluckbeschwerden habe. Die von ihm sogleich konsultierte Hausärztin
habe eine schwere eitrige Angina und seine Arbeitsunfähigkeit festgestellt, wo-
rauf er das Bett gehütet habe. Zuvor habe er allerdings seine sorgfältig ausge-
wählte, ordnungsgemäß überwachte und ansonsten fehlerfrei arbeitende Kanz-
leifachkraft, Frau R., telefonisch angewiesen, es möge nach dem sog. Notfall-
plan verfahren werden. Die zur Vertretung bereite Anwaltskanzlei F. & H. solle
über eventuell anstehende Fristen informiert und - sofern nötig - Verlänge-
rungsanträge stellen. Dies sei jedoch aufgrund einer Unachtsamkeit von Frau
R. unterblieben. Der Notfallplan, über den der Prozessbevollmächtigte die An-
gestellte stets einmal jährlich zur Auffrischung belehre, habe ein der telefoni-
schen Anweisung entsprechendes Verfahren vorgesehen. Zur Glaubhaftma-
chung haben sich die Kläger auf eine anwaltliche Erklärung ihres Prozessbe-
vollmächtigten, eine eidesstattliche Versicherung von Frau R. und ein ärztliches
Attest der Hausärztin bezogen.
Das Oberlandesgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch als unbegrün-
det zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wen-
den sich die Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Kläger hätten nicht darge-
tan, dass ihr Prozessbevollmächtigter durch ein unabwendbares Ereignis an der
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Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei. Auch dann
wenn eine Krankheit plötzlich und unvorhergesehen auftrete, müsse ein Anwalt
noch das ihm Mögliche und Zumutbare unternehmen. Daran fehle es hier, weil
es der Prozessbevollmächtigte unterlassen habe, die zur Vertretung bestimmte
Kanzlei von seiner Erkrankung selbst in Kenntnis zu setzen, um auf diese Wei-
se sicherzustellen, dass Fristsachen nicht in Vergessenheit gerieten. Zumindest
aber hätte Frau R. aufgefordert werden müssen, eigenständig den Fristenka-
lender zu kontrollieren und dabei festzustellende Fristabläufe den Vertretungs-
anwälten mitzuteilen.
III.
Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO
statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere liegt die besondere
Zulässigkeitsvoraussetzung des § 574 Abs. 2 ZPO vor, weil die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdege-
richts erfordert. Das Berufungsgericht hat nicht nur gegen den Anspruch der
Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen (Art. 103 Abs. 1 GG),
sondern unter Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip
(vgl. BVerfGE 77, 275, 284; BVerfG, NJW 2013, 592 f. mwN) zudem den Zu-
gang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in un-
zumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert.
Das eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl.
Senat, Beschluss vom 6. Oktober 2011 - V ZB 72/11, NJW-RR 2012, 82 Rn. 8;
Beschluss vom 10. Mai 2012 - V ZB 242/11, ZWE 2012, 334, 335; Beschluss
vom 19. Juni 2013 - V ZB 226/12, juris Rn. 5; jeweils mwN).
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IV.
Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der angefochtene Beschluss unterliegt der Aufhebung.
a) Das Berufungsgericht verkennt bereits, dass das Tatbestandsmerkmal
der Unabwendbarkeit seit Inkrafttreten der ZPO-Vereinfachungsnovelle vom
3. Dezember 1976 (BGBl. I, 3281) keine Rolle mehr spielt (zu der damit einher-
gehenden Abmilderung der Wiedereinsetzungsanforderung und zur Rechtsent-
wicklung Wieczorek/Schütze/Gerken, ZPO, 4. Aufl., § 233 Rn. 3 f. mwN); das
seither geltende Recht knüpft nur noch daran an, dass die Partei ohne ihr Ver-
schulden verhindert war, eine der in § 233 ZPO genannten Fristen einzuhalten.
b) Zutreffend geht es sodann zwar davon aus, dass ein Rechtsanwalt
auch bei unvorhersehbarer Erkrankung gehalten ist, die ihm noch möglichen
und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen (Senat, Beschluss vom
18. September 2008 - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rn. 9 mwN; BGH, Be-
schluss vom 19. März 2009 - IX ZB 198/08, juris Rn. 5). Die Annahme, der Pro-
zessbevollmächtigte der Kläger habe diesen Anforderungen nicht genügt, hält
einer rechtlichen Prüfung aber nicht stand.
aa) Soweit das Berufungsgericht die Aufforderung an Frau R. vermisst,
eigenständig den Fristenkalender zu kontrollieren und dabei festzustellende
Fristabläufe den Vertretungsanwälten mitzuteilen, lässt sich diese Erwägung
nur so erklären, dass es unter Verstoß gegen das Prozessgrundrecht aus
Art. 103 Abs. 1 GG das Vorbringen der Kläger entweder nicht zur Kenntnis oder
jedenfalls nicht erwogen hat (zu diesen Voraussetzungen etwa BVerfGE 22,
267, 274; 65, 293, 295; 88, 366, 375 f.; Senat, Beschluss vom 27. März 2003
- V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 300 f.), Frau R. sei telefonisch angewiesen
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worden, es möge nach dem sog. Notfallplan verfahren und die zur Vertretung
bereite Anwaltskanzlei F. & H. über eventuell anstehende Fristen informiert
werden. Denn nichts anders besagt dieses Vorbringen.
bb) Im Übrigen überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen, die
nach § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO an die Darlegung der die Wiedereinsetzung be-
gründenden Tatsachen zu stellen sind. Eine direkte Benachrichtigung der Ver-
tretungskanzlei durch den Prozessbevollmächtigten der Kläger war nicht gebo-
ten. Zwar hätte das Ergreifen dieser Möglichkeit ein Verschulden des
Prozessbevollmächtigten ausgeräumt (vgl. auch Senat, Beschluss vom
18. September 2003 - V ZB 23/03, FamRZ 2004, 182). Das ändert aber nichts
daran, dass auch der beschrittene Weg sachgerecht war, die Kanzleiangestellte
dazu anzuhalten, zunächst die ablaufenden Fristen zu ermitteln und sodann mit
diesem Kenntnisstand die Vertretungskanzlei über die einschlägigen Verfahren
zu informieren. Da die direkte Information des Vertretungsanwalts notwendig zu
Rückfragen bei Frau R. dazu geführt hätte, in welchen Verfahren Fristen ablau-
fen würden, wäre damit ein Sicherheitsgewinn nicht verbunden gewesen. Etwas
anderes hätte nur dann gegolten, wenn ein Rechtsanwalt - und damit auch der
der Vertretungskanzlei - gehalten wäre, den Fristenkalender selbst durchzuse-
hen. So verhält es sich jedoch nicht. Ein Rechtsanwalt darf sich in aller Regel
darauf verlassen, dass die Einhaltung der in dem Kalender notierten Fristen von
dem Büropersonal sorgfältig überwacht wird (vgl. nur Zöller/Greger, ZPO,
30.
Aufl., § 233 Rn. 33 „Fristenbehandlung“ mwN).
2. Der Senat kann nach § 577 Abs. 5 ZPO in der Sache selbst entschei-
den. Aufgrund der dargelegten und glaubhaft gemachten Umstände liegt kein
den Klägern nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Anwaltsverschulden vor.
Insbesondere hat der Prozessbevollmächtigte mit dem Notfallplan und dessen
jäh
rlicher „Auffrischung“ ausreichend organisatorische Vorsorge für den Fall der
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Erkrankung (dazu Senat, Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 94/13,
NJW 2014, 228; Beschluss vom 18. September 2003 - V ZB 23/03, FamRZ
2004, 182) getroffen. Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die be-
antragte Wiedereinsetzung vor.
Stresemann
Czub
Brückner
Weinland
Kazele
Vorinstanzen:
LG Bautzen, Entscheidung vom 24.07.2012 - 3 O 589/11 -
OLG Dresden, Entscheidung vom 26.11.2012 - 9 U 1398/12 -