Urteil des BFH vom 16.03.2015

Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache hinsichtlich der verfassungskonformen Gesetzesauslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG bei einem körperlich behinderten Kind

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 16.3.2015, XI B 109/14
Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache hinsichtlich
der verfassungskonformen Gesetzesauslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG bei einem
körperlich behinderten Kind
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des
Finanzgerichts Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 23. September 2014 11 K
419/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist Vater des im Dezember 1988 geborenen
Sohnes X. Aufgrund eines Unfalls, der sich nach Ende der Berufsausbildung des X zum
Straßenbauer ereignet hat, ist X schwerbehindert (Grad der Behinderung: 50). Im
Streitzeitraum (Januar bis Oktober 2012) bezog X eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung.
2 Den Antrag des Klägers, ihm Kindergeld für den Streitzeitraum zu gewähren, lehnte die
frühere Beklagte (Familienkasse) mit der Begründung ab, X sei aufgrund der erhaltenen
Rente in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Der Einspruch blieb erfolglos.
3 Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der der Kläger geltend machte, X sei (auch) ein
nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu
berücksichtigendes, ausbildungsplatzsuchendes Kind, das das 25. Lebensjahr noch nicht
vollendet habe, und außerdem sei es verfassungswidrig, nach Wegfall des Grenzbetrags
(§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. bis zum 31. Dezember 2011) den Kindergeldanspruch
behinderter Kinder von der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt abhängig zu machen, ab.
4 Mit der Beschwerde macht der Kläger geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche
Bedeutung.
Entscheidungsgründe
5 II. Die Beschwerde ist unbegründet.
6 1. a) Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu, wenn die für die Beurteilung des
Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der
einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die
Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärbar sein
(ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 11. Dezember 2013 V B 36/13,
BFH/NV 2014, 680; vom 3. Februar 2014 VI B 111/13, BFH/NV 2014, 696; vom 18. Juli
2014 XI B 37/14, BFH/NV 2014, 1779).
7 b) Für die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung muss der Beschwerdeführer eine
konkrete Rechtsfrage formulieren und substantiiert auf ihre Klärungsbedürftigkeit, ihre
über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung sowie darauf eingehen, weshalb von der
Beantwortung der Rechtsfrage die Entscheidung über die Rechtssache abhängt (ständige
Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 16. Mai 2008 VII B 118/07, BFH/NV
2008, 1440; vom 21. Mai 2013 III B 59/12, BFH/NV 2013, 1447). Hat der BFH die
Rechtsfrage noch nicht entschieden, muss der Beschwerdeführer darlegen, in welchem
Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen sie umstritten ist (vgl. z.B. BFH-
Beschlüsse in BFH/NV 2013, 1447; vom 22. Juli 2014 XI B 29/14, BFH/NV 2014, 1780).
Macht ein Beschwerdeführer mit der Nichtzulassungsbeschwerde --wie hier--
verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung geltend, so ist darüber
hinaus eine substantiierte, an den Vorgaben des Grundgesetzes und der einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des BFH orientierte
Auseinandersetzung mit der Problematik erforderlich (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom
9. April 2014 III B 143/13, BFH/NV 2014, 1083; vom 9. April 2014 XI B 128/13, BFH/NV
2014, 1224).
8 2. Die vom Kläger für grundsätzlich bedeutsam gehaltene Frage, ob § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 Buchst. c EStG auch den Fall umfasse, dass eine Berufsausbildung deshalb nicht
begonnen werden kann, weil das ausbildungswillige Kind wegen einer Behinderung, die
seine Leistungsfähigkeit erheblich einschränkt, keinen Ausbildungsplatz finden kann, ist
im Streitfall nicht klärbar.
9 a) Dabei kann sowohl offen bleiben, ob der Senat der Auffassung des FG unter 1. seiner
Gründe in vollem Umfang folgen könnte. Ebenso bedarf keiner Prüfung, ob die
tatsächlichen Feststellungen des FG, das weder festgestellt hat, welcher Art die
Behinderung des X ist, noch festgestellt hat, welche Ausbildung X anstrebt, seine
Würdigung unter 1. der Gründe tragen könnten, X finde aufgrund seiner Behinderung
keinen Ausbildungsplatz.
10 b) Die Entscheidung des Streitfalls hängt nämlich aus anderen Gründen nicht von der
Beantwortung der vom Kläger aufgeworfenen Frage ab. Jedenfalls kommt im Streitfall
eine Berücksichtigung des X als ausbildungsplatzsuchendes Kind i.S. des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG schon deshalb nicht in Betracht, weil hierfür nach ständiger
Rechtsprechung des BFH erforderlich ist, dass sich das Kind ernsthaft um einen
Ausbildungsplatz bemüht (vgl. BFH-Urteile vom 19. Juni 2008 III R 66/05, BFHE 222, 343,
BStBl II 2009, 1005, und vom 22. September 2011 III R 30/08, BFHE 235, 327, BStBl II
2012, 411). Das Bemühen um einen Ausbildungsplatz ist glaubhaft zu machen (BFH-
Urteile vom 22. September 2011 III R 35/08, BFH/NV 2012, 232; vom 26. August 2014
XI R 14/12, BFH/NV 2015, 322). Dies ist vorliegend nicht geschehen und wird vom Kläger
auch nicht behauptet, so dass schon aus diesem Grund keine Berücksichtigung des X
gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG möglich ist.
11 3. Mit dem Hinweis, es sei grundsätzlich bedeutsam, ob § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG im
Wege verfassungskonformer Auslegung so zu interpretieren sei, dass körperlich
behinderte Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und aufgrund
100%iger Erwerbsminderung nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu
verdienen, als kindergeldberechtigte Kinder zu berücksichtigen sind, ohne dass es im
Einzelfall darauf ankommt, ob Einkommen oder sonstige Bezüge die
Unterhaltsbedürftigkeit ausschließen, hat der Kläger die grundsätzliche Bedeutung nicht
hinreichend dargelegt.
12 a) Der Kläger hat sich zunächst nicht mit der zu dieser Frage ergangenen
Rechtsprechung (FG des Saarlands, Urteil vom 13. November 2013 2 K 1224/13,
Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2014, 658; FG des Landes Sachsen-Anhalt,
Urteil vom 8. April 2014 4 K 1218/12, EFG 2014, 1492), die dieselbe Auffassung wie die
Vorentscheidung vertreten, befasst.
13 b) Weiter hat sich der Kläger nicht mit der in der Vorentscheidung und dem Urteil des FG
des Saarlands in EFG 2014, 658 angeführten höchstrichterlichen Rechtsprechung
auseinander gesetzt.
14 aa) Dazu hätte schon deshalb Anlass bestanden, weil nach der Rechtsprechung des
BVerfG beim Kindergeld, soweit es als Sozialleistung zu den Maßnahmen der
darreichenden Verwaltung gehört, eine weitgehende Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers besteht; bei der Überprüfung eines Gesetzes auf Übereinstimmung mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz ist nicht zu untersuchen, ob der Gesetzgeber die
zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die
verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit eingehalten hat (vgl. BVerfG-
Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BFH/NV Beilage 2005, 33,
unter C.II.3.a, m.w.N.; s. auch BVerfG-Beschluss vom 6. April 2011 1 BvR 1765/09,
Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2011, 812, unter IV.2.a).
15 bb) Weiter bestand Anlass für eine solche Erörterung, weil es verfassungsgemäß ist, die
Gewährung des Kindergelds davon abhängig zu machen, dass das Existenzminimum des
Kindes nicht durch eigene Einkünfte und Bezüge gedeckt ist (BVerfG-Beschluss vom
27. Juli 2010 2 BvR 2122/09, HFR 2010, 1109, unter II.1.). Das Kindergeld dient dazu, die
wirtschaftliche Belastung, die Eltern durch die Sorge für ihre Kinder entsteht,
auszugleichen (vgl. BFH-Urteil vom 9. Februar 2009 III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II
2009, 928, unter II.3.a; Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. Februar 2009
B 10 Kg 2/07 R, Sozialrecht 4-5870 § 1 Nr. 2, juris, Rz 26). Der Anspruch auf Kindergeld
entfällt, wenn das behinderte Kind auf elterliche Unterstützung nicht mehr angewiesen ist
(vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79,
unter II.4.a).
16 cc) Zudem hätte der Kläger dem Umstand Beachtung schenken müssen, dass auch § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG n.F. eine (widerlegbare) Vermutung aufstellt, dass das Kind (erst)
nach Abschluss der Erstausbildung in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten (BTDrucks
17/5125, S. 41, linke Spalte, unten), und eine Änderung der Regelungen für behinderte
Kinder nicht beabsichtigt war (a.a.O., rechte Spalte, a.E.).
17 c) Angesichts dessen hätte der Kläger begründen müssen, wieso in seiner Person eine
verfassungswidrige Benachteiligung gegenüber Eltern nicht behinderter Kinder vorliegen
soll, obwohl diese in vergleichbarer Situation ebenfalls kein Kindergeld erhalten. Eltern
nicht behinderter Kinder, die das 21. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr
vollendet haben, --wie X-- keinen Ausbildungsplatz haben, sich --wie X-- nicht in einer
Übergangszeit befinden, und sich --wie X-- nicht um einen Ausbildungsplatz bemühen,
erhalten --wie der Kläger-- ebenfalls kein Kindergeld.
18 4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--).
19 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.