Urteil des BFH vom 22.03.2016

Urteilsberichtigung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 22.3.2016, VIII B 130/14, VIII B 17/15
Urteilsberichtigung
Tenor
1. Die Verfahren VIII B 130/14 und VIII B 17/15 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Finanzgerichts München, Außensenate Augsburg, vom 1.
September 2014 15 K 2982/11 und vom 3. Dezember 2014 15 K 2982/11 aufgehoben.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Gründe
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1. Die Verfahren VIII B 130/14 und VIII B 17/15 werden gemäß §§ 121, 73 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung
(FGO) zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Das Finanzgericht (FG) hat in beiden Beschlüssen über dieselbe
vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) begehrte Berichtigung der Gründe und des
Urteilsausspruchs für das Streitjahr 2008 entschieden und beiden hiergegen erhobenen Beschwerden der Kläger
und Beschwerdeführer (Kläger) nicht abgeholfen. Aus diesem Grund erscheint eine einheitliche Behandlung der
Beschwerden sachgerecht.
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2. Die Beschwerde ist begründet.
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Die Berichtigungsbeschlüsse des FG vom 1. September 2014 und vom 3. Dezember 2014 hinsichtlich des Tenors
und der Entscheidungsgründe des Urteils vom 10. Juli 2014 im Verfahren 15 K 2982/11 für das Streitjahr 2008
waren aufzuheben.
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a) Der Berichtigungsbeschluss des FG vom 1. September 2014 ist unter fehlerhafter Anwendung des § 107 FGO
ergangen.
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aa) Entgegen der Auffassung der Kläger ist der Beschluss nicht wegen sachlicher Unzuständigkeit des FG
verfahrensfehlerhaft ergangen. Das FG war trotz der im Verfahren VIII B 108/14 gleichzeitig anhängigen
Nichtzulassungsbeschwerde für die Entscheidung über den Berichtigungsantrag des FA gemäß § 107 FGO und
gemäß § 130 Abs. 1 FGO über die Nichtabhilfe der Beschwerde sachlich zuständig.
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Zuständig für eine Urteilsberichtigung ist gemäß § 107 Abs. 1 FGO das Gericht, das das zu berichtigende Urteil
erlassen hat. Ist ein Rechtsmittel eingelegt, ist (daneben) auch das Rechtsmittelgericht für die Berichtigung der
Entscheidung der Vorinstanz zuständig.
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Dies entspricht sowohl der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 319 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO; s.
Beschluss des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 9. Februar 1989 V ZB 25/88, BGHZ 106, 370) als auch zu § 118
Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO; s. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom
16. Juli 1968 VI C 1.66, BVerwGE 30, 146) und findet auch im Rahmen des § 107 Abs. 1 FGO Anwendung.
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In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) wird eine Zuständigkeit des BFH für die Entscheidung über einen
Berichtigungsantrag gemäß § 107 FGO bejaht, wenn ein Beschwerdeverfahren über die Nichtzulassung der Revision
anhängig ist (BFH-Beschlüsse vom 18. August 1992 VII B 227/91, BFH/NV 1993, 312; vom 25. November 1999
III B 5/99, BFH/NV 2000, 844; vom 12. März 2004 VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114; vom 2. Oktober 2014
VI B 52/14, BFH/NV 2015, 217). Die Anhängigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde beginnt mit Einlegung der
Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH gemäß § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom
30. September 2013 XI B 57/13, BFH/NV 2014, 61; vom 17. September 2014 IX B 13/14, BFH/NV 2015, 225;
gleiche Auffassung Steinhauff in Hübschmann/Hepp/ Spitaler --HHSp--, § 36 FGO Rz 4). Dies ist hier der
1. September 2014, an dem die auch für das Streitjahr 2008 erhobene Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH
eingegangen ist, die die Kläger später wieder zurück genommen haben.
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Die mit Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde begründete Zuständigkeit des BFH auch für eine Entscheidung in
der Urteilsberichtigung gemäß § 107 FGO verdrängt aber die daneben fortbestehende Zuständigkeit des FG für die
Entscheidung über den Berichtigungsantrag des FA nicht.
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Der BFH geht im Beschluss in BFH/NV 1993, 312 ebenfalls von einer parallelen Zuständigkeit des FG und des BFH
für eine Tatbestandsberichtigung aus. Zwar wird vom BFH zum Teil auch von einer "übergehenden Zuständigkeit"
gesprochen (BFH-Urteile vom 10. Dezember 2003 IX R 44/98, BFH/NV 2004, 1265; vom 9. Mai 2012 I R 91/10,
BFH/NV 2012, 2004, Rz 13). Die Entscheidung in BFH/NV 2012, 2004 zitiert allerdings die Entscheidung in BFH/NV
2004, 1265, die auf das BFH-Urteil vom 23. Januar 1969 IV R 36/68 (BFHE 95, 97, BStBl II 1969, 340) Bezug
nimmt. In den Gründen der Entscheidung in BFHE 95, 97, BStBl II 1969, 340 verweist der BFH auf die oben
angeführte Rechtsprechung des BGH zu § 319 ZPO, nach der eine parallele Zuständigkeit des Ausgangs- und des
Rechtsmittelgerichts für eine Tatbestandsberichtigung nach Anhängigkeit des Rechtsmittelverfahrens besteht. Die
Gefahr, dass in zwei Instanzen gleichzeitig einander widersprechende Entscheidungen über dieselbe
Berichtigungsfrage ergehen, wiegt zudem geringer als das auch für das Rechtsmittelgericht zu bejahende
praktische Bedürfnis einer Berichtigungsmöglichkeit (s. überzeugend zu § 319 ZPO Stein/Jonas/Leipold, ZPO,
23. Aufl., § 319 Rz 22 f.; zustimmend Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., § 319 Rz 22; Wieczorek/Schütze/Rensen,
4. Aufl., § 319 ZPO Rz 20; MünchKommZPO/Musielak, § 319 Rz 14; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann,
Zivilprozessordnung, 74. Aufl., § 319 Rz 27; Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 118 Rz 6).
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Das FG hatte als angerufenes Gericht daher den bei ihm erhobenen Berichtigungsantrag nicht gemäß § 70 Satz 1
FGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes an den BFH abzugeben, zumal es von der
anhängig gewordenen Nichtzulassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung wohl keine Kenntnis hatte (vgl.
Schallmoser in HHSp, § 70 FGO Rz 5; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 70 Rz 4; Schoenfeld in
Beermann/Gosch, FGO § 70 Rz 5; zur (umgekehrten) Abgabe des BFH an das FG wegen instanzieller
Unzuständigkeit s. BFH-Beschlüsse vom 16. Dezember 1994 VIII S 4/94, BFH/NV 1995, 800; vom 10. Dezember
2012 VIII S 23/12, BFH/NV 2013, 570).
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bb) Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Korrektur der Entscheidungsgründe und des Tenors nach
§ 107 FGO waren jedoch nicht erfüllt.
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(1) Der in § 107 FGO verwendete Begriff der "offenbaren Unrichtigkeit" umfasst nach ständiger Rechtsprechung des
BFH, ähnlich wie derjenige in § 129 der Abgabenordnung, alle bei der Abfassung des FG-Urteils unterlaufenen
"mechanischen" Fehler. Ein solcher liegt vor, wenn eine in dem Urteil enthaltene Aussage die vom FG getroffenen
Feststellungen oder die von ihm angestellten Überlegungen nicht zutreffend zum Ausdruck bringt und dies aus dem
Urteil selbst heraus erkennbar wird. § 107 FGO greift dagegen nicht ein, wenn die ernstliche Möglichkeit besteht,
dass die in Rede stehende Wendung auf einer unvollständigen Ermittlung oder einer unrichtigen Würdigung des
Sachverhalts oder auf einem Rechtsirrtum des FG beruht. Die Berichtigung scheidet auch dann aus, wenn die
Möglichkeit zu einer "mechanischen" Korrektur fehlt, weil eine zusätzliche oder erneute richterliche Würdigung des
Sachverhalts erforderlich ist (s. zu dieser ständigen Rechtsprechung BFH-Beschlüsse vom 29. Juli 2010 I B 121/10,
BFH/NV 2010, 2098; vom 25. Oktober 2011 IV B 59/10, BFH/NV 2012, 251).
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(2) Die Steuerberechnung des FG für das Streitjahr 2008 in den Gründen und der Tenor für das Streitjahr 2008
waren im Streitfall nicht in diesem Sinne "offenbar" unrichtig. Es bestand für einen objektiven Dritten nicht die
Möglichkeit, eine offenbare Unrichtigkeit der Entscheidungsgründe und des Tenors in der vom FA beanstandeten
Weise zu erkennen.
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Das FG hat auf Seite 5 im Tatbestand des Urteils ausgeführt, im Streitjahr 2008 seien den Klägern Zinserträge in
Höhe von 251.769,97 EUR im Rahmen einer Schätzung des FA zugerechnet worden. In dem vom FG im Urteil
wiedergegebenen Antrag (Seite 6 des Urteils) beantragten die Kläger ebenfalls die Minderung ihrer Kapitalerträge
um 251.769,97 EUR.
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Das FG hat der Klage für 2008 stattgegeben. Auf Seite 14 im Rahmen der Ermittlung der steuerpflichtigen
Einkünfte aus Kapitalvermögen für 2008 hat es die laut Einkommensteuerbescheid 2008 vom 4. Februar 2011
angesetzten Einkünfte (455.292 EUR) um die im Antrag der Kläger genannten Einkünfte aus Kapitalvermögen in
Höhe von 251.769 EUR gemindert und ist zu "Einkünften aus Kapitalvermögen laut Urteil" in Höhe von
203.523 EUR gelangt. Im Tenor der Entscheidung hat es den angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2008 in
Gestalt der Einspruchsentscheidung mit der Maßgabe geändert, dass Einnahmen aus Kapitalvermögen in 2008 in
Höhe von 203.523 EUR der Besteuerung zugrunde zu legen seien.
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Die Steuerberechnung des FG in den Entscheidungsgründen entsprach damit sowohl dem Antrag der Kläger als
auch der im Tatbestand wiedergegebenen Höhe hinzugeschätzter Kapitalerträge. Da die Entscheidung des FG vom
Klageantrag gedeckt ist, liegt eine "offenbare" Unrichtigkeit des Urteils, die ein objektiver Dritter erkennen kann,
nicht vor (s. dazu BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 2098, Rz 15). Die Berichtigung der Entscheidungsgründe i.S. des
FA war vielmehr nur aufgrund einer (neuen) Würdigung des FG anhand der Akten in Form eines Vergleichs der
veranlagten Kapitalerträge im angefochtenen Änderungsbescheid zur Einkommensteuer 2008 vom 4. Februar
2011 mit der Festsetzung der Einkünfte im vorher bestehenden Einkommensteuerbescheid 2008 vom 18. Januar
2010 möglich.
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Auch eine Berichtigung des Urteilsausspruchs gemäß § 107 FGO für das Streitjahr 2008, die nur anknüpfend an
eine Berichtigung der Einkünfteermittlung in den Gründen möglich wäre, kann nicht erfolgen. Eine "mechanische
Korrektur" des Tenors gemäß § 107 Abs. 1 FGO ist regelmäßig nur dann möglich, wenn die in den
Entscheidungsgründen enthaltene, ins einzelne gehende und begründete Berechnung der Steuer zu einem anderen
Ergebnis gekommen ist, als die im Tenor des Urteils festgesetzte Steuer (BFH-Beschluss vom 9. Juli 1997 V B 6/97,
BFH/NV 1998, 46). Wie dargelegt, kommt die Berichtigung der Steuerberechnung für 2008 in den
Entscheidungsgründen nicht in Betracht. Da diese nicht möglich ist, kann auch der Tenor nicht hieran anknüpfend
berichtigt werden.
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b) Die Beschwerde ist auch hinsichtlich des Berichtigungsbeschlusses des FG vom 3. Dezember 2014 wegen eines
Verfahrensfehlers begründet. Dieser Berichtigungsbeschluss des FG verletzt § 130 Abs. 1 FGO. Das FG war nach
der Entscheidung, der Beschwerde der Kläger gegen den ersten Berichtigungsbeschluss vom 1. September 2014
nicht abzuhelfen, nicht mehr befugt, während des noch anhängigen Beschwerdeverfahrens beim BFH einen
inhaltsgleichen Berichtigungsbeschluss zu erlassen.
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§ 130 Abs. 1 FGO sieht vor, dass das FG einer Beschwerde abzuhelfen hat, wenn es sie für begründet hält, und
verlangt andernfalls die unverzügliche Vorlage der Beschwerde beim BFH. Bei Nichtabhilfe ist der BFH ab Vorlage
des Streitfalls als Beschwerdegericht für die Entscheidung in der Sache bis zum Abschluss des
Beschwerdeverfahrens allein zuständig (s. z.B. BFH-Beschluss vom 17. September 2002 III B 84/02, juris). Mit der
Vorlage der Sache an den BFH entfiel somit die Befugnis des FG, während des anhängigen Beschwerdeverfahrens
einen erneuten Berichtigungsbeschluss gleichen Inhalts zu erlassen (s. hierzu den insoweit übertragbaren BFH-
Beschluss vom 18. Februar 1986 VII B 113/85, BFHE 145, 574, BStBl II 1986, 413 zur "Abhilfe" durch Erlass einer
inhaltsgleichen Entscheidung mit anderer Begründung).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.