Urteil des BFH vom 01.03.2016

Kein Finanzrechtsweg bei Verweigerung der Einsichtnahme in die Akten eines abgeschlossenen finanzgerichtlichen Verfahrens - Sachlicher Anwendungsbereich von § 23 GVGEG - Keine Übertragbarkeit der Regelung des § 21 GKG auf außergerichtliche Kosten

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 1.3.2016, VI B 89/15
Kein Finanzrechtsweg bei Verweigerung der Einsichtnahme in die Akten eines
abgeschlossenen finanzgerichtlichen Verfahrens - Sachlicher Anwendungsbereich von § 23
GVGEG - Keine Übertragbarkeit der Regelung des § 21 GKG auf außergerichtliche Kosten
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Finanzgerichts München vom 13.
August 2015 1 K 3633/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Beschwerde der Kläger gegen die Verfügung des Vorsitzenden des 1. Senats des
Finanzgerichts München vom 13. August 2015 wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen. Von der Erhebung der
Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen.
Tatbestand
1 I. Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) führten gegen den
Beklagten, Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) vor dem
Finanzgericht (FG) ein Klageverfahren, für das sie auch die Gewährung von
Prozesskostenhilfe (PKH) beantragten.
2 Das FA erließ während des Klageverfahrens einen Änderungsbescheid, mit dem es
dem Klagebegehren der Kläger teilweise entsprach. Die Beteiligten erklärten das
Klageverfahren daraufhin übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt.
3 Das FG legte mit Beschluss vom 26. Mai 2015 die Kosten des Verfahrens den Klägern
auf. Den Antrag auf PKH lehnte das FG mit Beschluss vom selben Tag ab.
4 Die Kläger beantragten nach Abschluss des Klageverfahrens am 7. August 2015,
ihrem Prozessbevollmächtigten Akteneinsicht zu gewähren. Die Akteneinsicht sei
erforderlich, um die Kläger hinsichtlich ihres weiteren Vorgehens sachgerecht beraten
zu können.
5 Der Vorsitzende des FG-Senats, bei dem das Klageverfahren anhängig gewesen war,
lehnte den Antrag ab. Ein Anspruch auf Akteneinsicht bestehe nicht. § 78 Abs. 1 der
Finanzgerichtsordnung (FGO) gewähre den Beteiligten ein Akteneinsichtsrecht nur im
Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Streitverfahrens. Akteneinsicht sei auch
nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 299 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) zu
gewähren, da ein berechtigtes Interesse an der begehrten Akteneinsicht nicht
erkennbar sei.
6 Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Kläger, der das FG nicht abgeholfen hat.
Entscheidungsgründe
7 II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Soweit sich die Kläger gegen den Beschluss
des FG wenden, ihnen gemäß § 78 Abs. 1 FGO keine Akteneinsicht zu gewähren, ist
die Beschwerde zulässig (§ 128 Abs. 1 und 2 FGO), aber unbegründet. Soweit sich
die Kläger --die für ihr Begehren auf Gewährung von Akteneinsicht keine
Rechtsgrundlage angegeben haben-- auch gegen die Verfügung des Vorsitzenden
des FG-Senats wenden, mit der die Gewährung von Akteneinsicht entsprechend
§ 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO abgelehnt wurde, ist die Beschwerde unzulässig.
8 1. § 78 Abs. 1 FGO gewährt den Beteiligten ein Recht auf Einsicht in die
Gerichtsakten und in die dem Gericht vorgelegten (Behörden-)Akten. Die
Entscheidung über ein diesbezügliches Begehren kann, sofern nicht die Übersendung
der Akten verlangt wird, in der Regel der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle treffen;
anderenfalls entscheidet über einen solchen Antrag der Spruchkörper oder sein
Vorsitzender (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 20. Oktober 2005
VII B 207/05, BFHE 211, 15, BStBl II 2006, 41; Gräber/Stapperfend,
Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 78 Rz 26 und 27). Dementsprechend ist das FG
verfahren. Es hat ein Akteneinsichtsrecht nach § 78 FGO auch zutreffend verneint.
Denn § 78 Abs. 1 FGO gewährt den Beteiligten ein Recht auf Akteneinsicht nur im
Rahmen eines anhängigen, noch nicht abgeschlossenen Streitverfahrens, um ihnen
die Möglichkeit zu geben, sich von den dem Gericht vorliegenden
Entscheidungsgrundlagen Kenntnis zu verschaffen und aufgrund dieser Kenntnis zu
ihnen in Wahrnehmung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör Stellung zu nehmen
(BFH-Beschluss in BFHE 211, 15, BStBl II 2006, 41, m.w.N.). Im Streitfall waren das
Klageverfahren und das Verfahren wegen PKH vor Anbringung des Antrags auf
Akteneinsicht aber bereits abgeschlossen, sodass kein Anspruch auf Akteneinsicht
gemäß § 78 Abs. 1 FGO (mehr) bestand.
9 2. Wird --wie im Streitfall-- Akteneinsicht nach rechtskräftigem Abschluss eines
Verfahrens beantragt, muss der Vorstand des Gerichts eine Entscheidung darüber
treffen, ob einem Beteiligten Akteneinsicht gewährt werden soll. Das entspricht der
nach § 155 FGO sinngemäß anzuwendenden Regelung des § 299 Abs. 2 ZPO, die
den Anspruch eines Dritten auf Akteneinsicht betrifft, jedoch auf den in einer ähnlichen
Lage befindlichen früheren Beteiligten des Verfahrens entsprechend anzuwenden ist
(BFH-Beschluss in BFHE 211, 15, BStBl II 2006, 41).
10 a) Im vorliegenden Fall hat der Vorsitzende des FG-Senats auch über den Anspruch
der Kläger entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO entschieden. Der zu
dieser Entscheidung nach der gesetzlichen Regelung berufene Vorstand des
Gerichts, hier also der Präsident des FG (dazu BFH-Beschluss in BFHE 211, 15,
BStBl II 2006, 41), hatte die Entscheidung durch Dienstanweisung auf den
Vorsitzenden des Senats übertragen, der die abschließende Entscheidung in dem
zugrundeliegenden finanzgerichtlichen Verfahren getroffen hatte. Der Präsident des
FG war befugt, diese Aufgabe der Gerichtsverwaltung --wie geschehen-- an einen
Richter zu delegieren (allgemeine Meinung, z.B. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl.,
§ 299 Rz 42, m.w.N.). Der Vorsitzende des FG-Senats hat sich bei seiner
Entscheidung über die Ablehnung der Akteneinsicht entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO
i.V.m. § 155 FGO auch ausdrücklich auf die ihm vom Präsidenten des FG durch
Delegation übertragene Entscheidungsbefugnis berufen.
11 b) Die Kläger können die Verfügung des Vorsitzenden des FG-Senats, mit der er
entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO einen Anspruch der Kläger auf
Akteneinsicht verneint hat, jedoch nicht mit der Beschwerde nach § 128 Abs. 1 FGO
anfechten (BFH-Beschluss vom 24. Februar 2009 I B 172/08, juris; Braun in
Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 33 FGO Rz 94; gleiche Auffassung für das
verwaltungsgerichtliche Verfahren Verwaltungsgerichtshof --VGH-- Baden-
Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 2011 3 S 1616/11, Neue Juristische
Wochenschrift --NJW-- 2012, 1163).
12 Denn die Nichtgewährung der Akteneinsicht entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m.
§ 155 FGO ist keine Entscheidung i.S. von § 128 Abs. 1 FGO. Der Vorsitzende des
FG-Senats wurde bei seiner Entscheidung entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m.
§ 155 FGO nicht in einem finanzgerichtlichen Verfahren auf dem Gebiet der
Rechtspflege, sondern der Gerichtsverwaltung tätig. Die Entscheidung über
Akteneinsichtsgesuche entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO ist eine
allgemeine Aufgabe der Justizverwaltung (BFH-Beschluss in BFHE 211, 15, BStBl II
2006, 41). Es handelt sich um einen --im Ermessen des Gerichtspräsidenten oder
des von diesem beauftragten Richters stehenden-- Justizverwaltungsakt. Der
Rechtsschutz richtet sich folglich allein nach den gegen Maßnahmen der
Justizverwaltung vorgesehenen Rechtsbehelfen (VGH Baden-Württemberg,
Beschluss in NJW 2012, 1163).
13 Für Entscheidungen von Organen der (Finanz-)Gerichtsbarkeit, die nicht im Rahmen
der Rechtsprechung, sondern der Justizverwaltung ergehen, ist aber nicht die
Beschwerde nach § 128 Abs. 1 FGO, sondern der öffentlich-rechtliche Rechtsweg
nach § 40 der Verwaltungsgerichtsordnung gegeben (BFH-Beschluss vom
25. Oktober 2000 VII B 230/00, BFH/NV 2001, 472; Rüsken in Beermann/Gosch,
FGO, § 128 Rz 19; Bergkemper in HHSp, § 128 FGO Rz 28), unabhängig davon, ob
die Maßnahme einen Verwaltungsakt oder ein schlicht hoheitliches Handeln darstellt
(vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 14. April
1988 3 C 65.85, NJW 1989, 412, betreffend Klage auf Widerruf einer Presseerklärung
der Staatsanwaltschaft; BVerwG-Urteil vom 26. Februar 1997 6 C 3.96, BVerwGE
104, 105, Anspruch auf Veröffentlichung; BVerwG-Beschluss vom 17. Mai
2011 7 B 17.11, NJW 2011, 2530, Hausrecht des Gerichtspräsidenten;
Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 11. Januar 2011 8 K 2602/10.F,
NJW 2011, 2229, Akteneinsicht eines Dritten). Die Voraussetzungen des § 23 des
Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz liegen bereits deshalb nicht
vor, weil sich die Bestimmung nur auf Justizverwaltungsakte bezieht, die innerhalb
der ordentlichen Gerichtsbarkeit ergehen (Beschluss des Bundesgerichtshofs vom
16. Juli 2003 IV AR (VZ) 1/03, NJW 2003, 2989). Auch die in Bezug auf die Verfügung
des Vorsitzenden des FG-Senats unrichtige Rechtsmittelbelehrung des FG führt nicht
dazu, dass das nach dem Gesetz unzulässige Rechtsmittel der Beschwerde nach
§ 128 Abs. 1 FGO als zulässiges Rechtsmittel behandelt wird (vgl. BFH-Beschluss
vom 24. Januar 2008 XI R 63/06, BFH/NV 2008, 606, m.w.N.).
14 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
15 a) Von der Erhebung der Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird gemäß
§ 21 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) abgesehen. Nach dieser Vorschrift
sind Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären, nicht zu
erheben. Die Voraussetzung ist regelmäßig gegeben, wenn in einer
Rechtsmittelbelehrung ein unzulässiges Rechtsmittel als gegeben bezeichnet wird
und der Rechtsmittelführer dadurch veranlasst wird, dieses einzulegen (BFH-
Beschluss in BFH/NV 2008, 606, m.w.N.).
16 Im Streitfall war die Rechtsmittelbelehrung zwar nur in Bezug auf die Verfügung des
Vorsitzenden des FG-Senats entsprechend § 299 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO
unzutreffend, in Bezug auf die Ablehnung des Antrags auf Gewährung von
Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 FGO war sie demgegenüber nicht zu beanstanden.
Da die Kläger in der Beschwerdebegründung allerdings eingeräumt haben, dass das
FG zutreffend vom Abschluss des vorangegangenen Klageverfahrens ausgegangen
sei, geht der Senat davon aus, dass sich die Kläger mit ihrer Beschwerde in erster
Linie gegen die Verfügung des Vorsitzenden des FG-Senats entsprechend § 299
Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 FGO wenden wollten. Im Streitfall ist deshalb davon
auszugehen, dass die Beschwerde bei zutreffend erteilter Rechtsmittelbelehrung
überhaupt nicht eingelegt und die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht verursacht
worden wären.
17 b) Im Übrigen haben die Kläger jedoch gemäß § 135 Abs. 2 FGO die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu tragen. § 21 GKG enthält eine abschließende Regelung,
die wegen ihres eindeutigen Wortlauts nicht auf außergerichtliche Kosten übertragen
werden kann (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 606).