Urteil des BFH vom 12.08.2015

Nachzahlungszinsen bei nachträglicher Wahl der Zusammenveranlagung

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 12.8.2015, III B 50/15
Nachzahlungszinsen bei nachträglicher Wahl der Zusammenveranlagung
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des
Finanzgerichts Köln vom 16. März 2015 5 K 1811/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1 I. Die Beteiligten streiten über die Festsetzung von Nachzahlungszinsen nach § 233a
der Abgabenordnung (AO) zur Einkommensteuer 2011.
2 Die verheiratete Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) wurde zunächst
antragsgemäß getrennt zur Einkommensteuer mit Einkommensteuerbescheid vom
18. Juni 2013 veranlagt. Die Einkommensteuer belief sich auf 8.848 EUR. Zugleich
wurden Zinsen zur Einkommensteuer nach § 233a AO in Höhe von 74 EUR
festgesetzt. Gegen den Einkommensteuerbescheid legte die Klägerin Einspruch ein
und beantragte die Durchführung einer Zusammenveranlagung mit ihrem Ehemann.
Mit Bescheid vom 6. November 2013 führte der Beklagte und Beschwerdegegner (das
Finanzamt --FA--) die Zusammenveranlagung durch und änderte mit
Aufhebungsbescheid die Zinsfestsetzung auf der Grundlage des § 233a Abs. 5 AO. Im
Ergebnis blieb die Zinsfestsetzung vom 18. Juni 2013 bestehen. Das FA verwies
insoweit auf § 233a Abs. 2a i.V.m. Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 2 AO.
3 Einspruch und Klage gegen die Zinsfestsetzung blieben erfolglos.
4 Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen der
Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie wegen grundsätzlicher Bedeutung.
Entscheidungsgründe
5 II. Die Beschwerde ist als unbegründet zurückzuweisen. Ein Grund zur Zulassung der
Revision nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegt nicht vor.
6 1. Die von der Klägerin sinngemäß aufgeworfene Rechtsfrage, ob ein (beiderseitiger)
Antrag auf Zusammenveranlagung während der Einspruchsverfahren gegen die
zunächst ergangenen Bescheide der getrennten Veranlagung ein rückwirkendes
Ereignis i.S. des § 233a Abs. 2a AO darstellt, hat keine grundsätzliche Bedeutung
(§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
7 a) Einer Rechtsfrage wird eine i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO erforderliche
grundsätzliche Bedeutung beigemessen, wenn substantiierte Angaben dazu
vorliegen, inwieweit die aufgeworfene Frage im Interesse der Allgemeinheit an der
einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts klärungsbedürftig und im
konkreten Fall auch klärungsfähig ist (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH--
vom 15. Oktober 2010 II B 39/10, BFH/NV 2011, 206, Rz 2). Die Beschwerde muss
sich insbesondere mit der einschlägigen Rechtsprechung des BFH, den Äußerungen
im Schrifttum sowie mit ggf. veröffentlichten Verwaltungsmeinungen auseinander
setzen (Senatsbeschluss vom 17. August 2004 III B 121/03, BFH/NV 2005, 46).
Sollten sich einzelne Teilprobleme der aufgeworfenen Rechtsfrage bereits mit Hilfe
spezieller Rechtsprechung des BFH lösen lassen, ist zu begründen, warum sich aus
dieser Rechtsprechung nicht mit hinreichender Sicherheit die aufgeworfene
Rechtsfrage klären lässt (Senatsbeschluss vom 22. März 2011 III B 114/09, BFH/NV
2011, 1142, Rz 8; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 116 FGO Rz 179;
Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 233a AO Rz 63,
64; Kögel in Beermann/Gosch, AO § 233a Rz 94). An der Klärungsbedürftigkeit fehlt
es daher, wenn die streitige Rechtsfrage offensichtlich so zu beantworten ist, wie es
das Finanzgericht (FG) getan hat, die Rechtslage also eindeutig ist (ständige
Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. Dezember 2013 XI B 5/13,
BFH/NV 2014, 588, Rz 10; vom 24. August 2011 I B 1/11, BFH/NV 2011, 2044, Rz 7;
Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 28, m.w.N.). Allein das
Fehlen einer Entscheidung des BFH zu der konkreten Fallgestaltung begründet unter
diesen Umständen weder einen Klärungsbedarf noch das erforderliche
Allgemeininteresse (Senatsbeschluss vom 2. September 2011 III B 9/10, BFH/NV
2012, 65, Rz 13; BFH-Beschluss vom 16. Juni 2011 XI B 103/10, BFH/NV 2011,
1739, Rz 11).
8 b) Die von der Klägerin herausgestellte Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, weil
sie offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das FG getan hat.
9 aa) Die Frage, ob der nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende
steuerliche Bedeutung zukommt, bestimmt sich im Anwendungsbereich des § 233a
Abs. 2a AO ebenso wie bei § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO allein nach dem jeweils
einschlägigen materiellen Recht (BFH-Urteile vom 11. Juli 2013 IV R 9/12 BFHE 242,
14, BStBl II 2014, 609, Rz 28; vom 18. Mai 1999 I R 60/98, BFHE 188, 542, BStBl II
1999, 634; vgl. Senatsurteil vom 3. März 2005 III R 22/02, BFHE 209, 454, BStBl II
2005, 690; vgl. BFH-Beschluss vom 26. Juni 2014 I B 74/12, BFH/NV 2014, 1497,
Rz 9; Heuermann in HHSp, § 233a AO Rz 32). Aufgrund welcher
verfahrensrechtlichen Norm eine rückwirkende steuerliche Berücksichtigung des
nachträglich eingetretenen Ereignisses möglich ist, hat für die Anwendung des § 233a
Abs. 2a AO danach keine Bedeutung (BFH-Urteil in BFHE 242, 14, BStBl II 2014,
609, Rz 28; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 233a Rz 31a). Entscheidend für die
steuerliche rückwirkende Bedeutung ist, dass die Änderung des ursprünglich
gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand betrifft und ob darüber hinaus der
bereits entstandene (vgl. § 38 AO) materielle Steueranspruch mit steuerlicher
Rückwirkung noch geändert werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 1993
GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II.1.c).
10 bb) Diese Grundsätze hat das FG zutreffend angewandt. Die von der Klägerin nach
Erlass des Einkommensteuerbescheids vom 18. Juni 2013 im Rahmen des
Einspruchsverfahrens geänderte Wahl, für das Streitjahr statt --wie bisher-- getrennt
zusammen veranlagt zu werden, stellt verfahrensrechtlich ein Ereignis mit
steuerlicher Rückwirkung dar, das für Zwecke der Zinsfestsetzung nach §§ 233a
Abs. 2a und Abs. 7 AO zu beurteilen ist.
11 Mit der gemeinsamen (zulässigen) Ausübung des Veranlagungswahlrechts der
Ehegatten im Sinne der Zusammenveranlagung vor Bestandskraft eines
Einzelveranlagungsbescheids ändert sich der Sachverhalt in der Weise, dass die
gesetzlichen Voraussetzungen der getrennten Veranlagung (§ 26a des
Einkommensteuergesetzes --EStG--) entfallen und nunmehr stattdessen die
Merkmale der Zusammenveranlagung (§§ 26, 26b EStG) vorliegen. Bei der Wahl der
Veranlagungsart handelt es sich nicht nur um einen aus verfahrensrechtlichen
Gründen erforderlichen Antrag mit Wirkung für die Zukunft, sondern um ein Merkmal
des gesetzlichen Tatbestands, das auf den Veranlagungszeitraum und auch auf die
Entstehung der Steuer zurückwirkt (vgl. Senatsurteile in BFHE 209, 454, BStBl II
2005, 690, unter II.2.; vom 25. September 2014 III R 5/13, BFH/NV 2015, 811, Rz 22,
23). Nach den Grundsätzen der bereits vorliegenden Rechtsprechung (s.o. unter
II.1.b aa) stellt sich der Wechsel des in § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG normierten
Wahlrechts zwischen getrennter Veranlagung und Zusammenveranlagung bis zum
Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung als ein rückwirkendes Ereignis i.S.
des § 233a Abs. 2a AO dar (vgl. auch Senatsurteil in BFH/NV 2015, 811, Rz 15, 23;
FG Münster, Urteil vom 31. Januar 2014 4 K 1882/13 AO, Entscheidungen der
Finanzgerichte 2014, 807 Rz 30; Klein/Rüsken, a.a.O., § 233a Rz 32; Loose, Finanz-
Rundschau 2003, 1068).
12 cc) Da im Streitfall die Nachzahlungszinsen für die Zeit vor Zinswirksamkeit des zu
einem Teil-Unterschiedsbetrag zu Gunsten der Klägerin führenden Ereignisses
(Änderung des Veranlagungswahlrechts und Karenzzeit: hier 1. April 2014)
entstanden sind, blieben diese nach § 233a Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 2 AO --worauf das
FG zu Recht abgestellt hat-- bestehen.
13 2. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3
FGO) zuzulassen.
14 Die Rüge der Klägerin, das FG habe unberücksichtigt gelassen, dass sowohl sie als
auch ihr Ehemann gegen die Bescheide zur getrennten Veranlagung Einspruch
eingelegt und die Zusammenveranlagung beantragt hätten, rechtfertigt nicht die
Zulassung der Revision wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 1 und 2, § 119 Nr. 3 FGO).
15 a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst vor allem das Recht der
Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern. Sie haben
einen Anspruch darauf, dem Gericht auch in rechtlicher Hinsicht alles vortragen zu
können, was sie für wesentlich halten. Diesen Ansprüchen entspricht die Pflicht des
Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in
Erwägung zu ziehen. Weiterhin hat das Gericht seine Entscheidung zu begründen,
wobei aus seiner Begründung erkennbar sein muss, dass eine Auseinandersetzung
mit dem wesentlichen Vorbringen der Verfahrensbeteiligten stattgefunden hat
(Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 1980 2 BvR 827/79,
BVerfGE 54, 86, m.w.N.). Diese richterliche Pflicht geht jedoch nicht so weit, dass
sich das Gericht mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich
befassen müsste, da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass das Gericht das
Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen
hat (Senatsbeschluss vom 19. September 2012 III B 53/12, BFH/NV 2013, 62, Rz 13,
m.w.N.). Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt daher nur dann vor, wenn das
Gericht Sachverhalt und Sachvortrag, auf den es ankommen kann, nicht nur nicht
ausdrücklich bescheidet, sondern überhaupt nicht berücksichtigt. Ein Anspruch
darauf, dass das Gericht einen Verfahrensbeteiligten "erhört", sich also seinen
rechtlichen Ansichten oder seiner Sachverhaltswürdigung anschließt, ergibt sich
hingegen aus dem Recht auf Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht
(Senatsbeschluss vom 22. Mai 2013 III B 1/13, BFH/NV 2013, 1264, Rz 11).
16 b) Die Beschwerdebegründung lässt eine solche Gehörsverletzung im Streitfall nicht
erkennen.
17 aa) Daraus, dass das FG den Umstand der parallelen Einspruchseinlegung des
Ehemannes der Klägerin in seinem Besteuerungsverfahren gegen den Bescheid über
die getrennte Veranlagung und den entsprechenden Antrag auf
Zusammenveranlagung im Urteil nicht ausdrücklich erwähnt hat, kann nicht
geschlossen werden, es habe diesen nicht zur Kenntnis genommen. Dies gilt nicht
nur deshalb, weil das von dem Ehemann der Klägerin geführte anschließende
Klageverfahren am selben Tag vor demselben Richter geführt und entschieden und
im Urteil dieses Verfahren (5 K 1812/14) sowohl im Tatbestand als auch in den
Entscheidungsgründen genannt worden ist. Vielmehr hat das FG in seinen
Entscheidungsgründen darauf abgestellt, dass die Veranlagungsart für beide Eheleute
nur einheitlich angewandt werden kann. Es ist insoweit --wie zwischen den Beteiligten
auch unstreitig war-- von einer einvernehmlichen Wahl der Zusammenveranlagung
des Klägers und seiner Ehefrau ausgegangen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, sich
mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich
auseinanderzusetzen (vgl. u.a. Senatsbeschluss in BFH/NV 2013, 1264, Rz 11,
m.w.N.).
18 bb) Darüber hinaus setzt das Vorliegen des geltend gemachten Verfahrensfehlers
voraus, dass sich dem FG ausgehend von dessen materiell-rechtlichem Standpunkt
bei Berücksichtigung der geltend gemachten Tatsachen die vom Kläger behaupteten
Schlussfolgerungen hätten aufdrängen müssen (vgl. BFH-Beschluss vom 24. April
2015 VIII B 100/14, BFH/NV 2015, 1108, Rz 4). Das war aber nicht der Fall.
19 Anders als die Klägerin sah das FG allein in der nach Erlass des Bescheids über die
getrennte Veranlagung erfolgten geänderten Wahl der Veranlagungsart bis zum Eintritt
der Bestandskraft der Steuerfestsetzung ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 233a
Abs. 2a AO, unabhängig von dem hier nach Ansicht der Klägerin vorliegenden
besonderen Umstand der "beiderseitigen Parallelität der Verfahrenshandlungen".
20 Im Grunde erschöpfen sich die Einwände der Klägerin --nach Art einer
Revisionsbegründung-- in kritischen Äußerungen darüber, dass die vom FG
vorgenommene rechtliche Beurteilung eines "rückwirkenden Ereignisses" i.S. des
§ 233a Abs. 2a AO im vorliegenden Fall unrichtig sei. Einwendungen gegen die
materiell-rechtliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung können im Verfahren
der Nichtzulassungsbeschwerde jedoch nicht zum Erfolg führen (BFH-Beschluss
vom 5. November 2014 X B 223/13, BFH/NV 2015, 202, Rz 13).
21 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO
ab.
22 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.