Urteil des BFH vom 20.03.2014

Haftung bei Lohnsteuerabzugspflicht Dritter

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 20.3.2014, VI R 43/13
Haftung bei Lohnsteuerabzugspflicht Dritter
Leitsätze
1. Eine Haftung des Arbeitgebers in Fällen des § 38a Abs. 3 EStG kommt nach § 42d Abs. 9 Satz 4
EStG i.V.m. § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG nur in Betracht, wenn der Dritte die Lohnsteuer für den
Arbeitgeber nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat.
2. An einem derartigen Fehlverhalten fehlt es, wenn beim Lohnsteuerabzug entsprechend einer
Lohnsteueranrufungsauskunft oder in Übereinstimmung mit den Vorgaben der zuständigen
Finanzbehörden der Länder oder des Bundes verfahren wird.
Tatbestand
1 I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Lohnsteuerhaftungsbescheids zu Lasten des
Arbeitgebers.
2 Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ein Unternehmen, das Leistungen des
Maurer- und Betonhandwerks erbringt und ihren Sitz im EU-Ausland hat. Seit dem 26. Juni
2003 betreibt sie eine im Handelsregister eingetragene Zweigniederlassung in der
Bundesrepublik Deutschland. Ihr Geschäftsführer hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
EU-Ausland. Zur Durchführung von Maurer- und Betonarbeiten entsandte sie ausländische
Arbeitnehmer auf inländische Baustellen. Die Klägerin beteiligte sich am
Urlaubskassenverfahren der Sozialkassen der Bauwirtschaft und zahlte den im Tarifvertrag
für das Baugewerbe festgelegten Prozentsatz zur Absicherung der Urlaubsansprüche ihrer
Arbeitnehmer ein.
3 In den Jahren 2005 bis 2008 erhielten Arbeitnehmer der Klägerin von der Urlaubs- und
Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft Abgeltungszahlungen für Urlaubsentschädigungen.
Für Arbeitnehmer der Klägerin, die unter 183 Tage im Inland beschäftigt waren, führte die
Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft keine Lohnsteuer und keinen
Solidaritätszuschlag ab.
4 Denn hierzu war ihr mit Schreiben vom 7. März 2005 von ihrem Betriebsstättenfinanzamt im
Einvernehmen mit dem Hessischen Ministerium der Finanzen u.a. folgendes mitgeteilt
worden:
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"1. Abgeltungszahlungen im laufenden Zeitraum
Bei diesen Zahlungen ist lediglich zu prüfen, ob der 183-Tage-Zeitraum des jeweiligen DBA
zum Zeitpunkt der Auszahlung unterschritten ist, bejahendenfalls ist kein Steuerabzug
vorzunehmen.
Von weiteren Zahlungen in diesem Zeitraum ist ein Steuerabzug vorzunehmen, wenn eine
Überschreitung des 183-Tages-Zeitraums des maßgeblichen DBA erfolgt ist."
6 Die Klägerin behielt für die von der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft an
diesen Arbeitnehmerkreis geleisteten Abgeltungszahlungen ebenfalls keine Lohnsteuer und
keinen Solidaritätszuschlag ein. Eine Anzeige nach § 38 Abs. 4 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) und § 41c EStG gegenüber dem Beklagten und
Revisionskläger (Finanzamt --FA--) erfolgte insoweit nicht, obwohl ihr die Urlaubs- und
Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft regelmäßig Übersichten über die an die
Arbeitnehmer ausbezahlten Urlaubsvergütungen übersandte, aus denen sich auch ergab, ob
bzw. in welcher Höhe für den jeweiligen Arbeitnehmer hieraus Steuern abgeführt wurden.
7 Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung bei der Klägerin vertrat das FA die
Auffassung, dass die Urlaubsabgeltungsansprüche der Arbeitnehmer, die unter 183 Tage im
Inland beschäftigt waren, von der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft der
Lohnsteuer zu unterwerfen seien und erließ --ohne vorherige Anhörung-- einen
entsprechenden Haftungsbescheid über Lohnsteuer nebst Annexsteuern zu Lasten der
Klägerin. In den Erläuterungen führt das FA aus, dass sich die Haftung aus § 42d Abs. 1
EStG ergebe. Ausführungen zu einer Inanspruchnahme der Urlaubs- und
Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (anstelle der Klägerin) fehlen.
8 Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage statt. Das
beklagte FA sei für den Erlass des angefochtenen Haftungsbescheids nicht zuständig
gewesen (Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 1524).
9 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 42d Abs. 9 EStG.
10 Es beantragt,
das Urteil des Sächsischen FG vom 23. Mai 2013 2 K 473/13 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
11 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
12 II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der angefochtene
Lohnsteuerhaftungsbescheid sowie die dazugehörige Einspruchsentscheidung rechtswidrig
sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen.
13 1. Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach § 38
Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 EStG bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des
Arbeitnehmers einzubehalten und nach § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abzuführen hat. Er
haftet gemäß § 42d Abs. 9 EStG auch dann, wenn ein Dritter nach § 38 Abs. 3a EStG seine
lohnsteuerlichen Pflichten trägt. In diesen Fällen haftet der Dritte neben dem Arbeitgeber.
Soweit die Haftung des Dritten reicht, sind der Arbeitgeber, der Dritte und der Arbeitnehmer
Gesamtschuldner. § 42d Abs. 3 Satz 2 bis 4 EStG ist anzuwenden; § 42d Abs. 4 EStG gilt
auch für die Inanspruchnahme des Dritten.
14 2. Eine Haftung des Arbeitgebers in Fällen des § 38a Abs. 3 EStG kommt daher nach § 42d
Abs. 9 Satz 4 EStG i.V.m. § 42d Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 EStG nur in Betracht, wenn der Dritte die
Lohnsteuer für den Arbeitgeber nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat.
15 3. An einem derartigen Fehlverhalten des --die Lohnsteuerpflichten des Arbeitgebers
erfüllenden-- Dritten --hier der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft-- fehlt es
jedoch vorliegend. Der angefochtene Lohnsteuerhaftungsbescheid ist damit rechtswidrig.
16 a) Denn an einer vorschriftswidrigen Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer fehlt es,
wenn der lohnsteuerliche Arbeitgeberpflichten wahrnehmende Dritte beim Lohnsteuerabzug
entsprechend einer Lohnsteueranrufungsauskunft gemäß § 42e EStG verfährt (Senatsurteil
vom 17. Oktober 2013 VI R 44/12, BFHE 243, 266) oder den Lohnsteuerabzug nach den
Vorgaben der zuständigen Finanzbehörden der Länder oder des Bundes vornimmt. In
diesen Fällen ist es nicht gerechtfertigt, den Arbeitgeber oder den lohnsteuerliche Pflichten
erfüllenden Dritten für einen unterbliebenen Lohnsteuerabzug in Anspruch zu nehmen (vgl.
Senatsurteile vom 6. Dezember 1996 VI R 18/96, BFHE 182, 145, BStBl II 1997, 413, und in
BFHE 243, 266).
17 b) Wenn die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft gemäß dem Schreiben
des Betriebsstättenfinanzamts vom 7. März 2005, nach dem --im Einvernehmen mit dem
(seinem) Hessischen Ministerium der Finanzen-- für Arbeitnehmer, die unter 183 Tage im
Inland beschäftigt sind, bei Abgeltungszahlungen kein Lohnsteuerabzug vorzunehmen ist, in
derartigen Fällen keine Lohnsteuer einbehält und abführt, hat sie folglich den "Weisungen
und Vorschriften" des Auftrag gebenden Finanzamts Rechnung getragen und damit die
Lohnsteuer vorschriftsmäßig einbehalten. Der Haftungstatbestand ist in einem solchen Fall
nicht erfüllt (vgl. Senatsurteile in BFHE 182, 145, BStBl II 1997, 413, und in BFH/NV 2014,
229).
18 c) Im Übrigen führt die ordnungsgemäße Abführung der weisungsgemäß einbehaltenen
Lohnsteuer zum Erlöschen des Lohnsteueranspruchs des FA (§ 47 der Abgabenordnung).
Die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners ist dann wegen der Akzessorietät der
Haftung (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 4. Dezember 2007 VII R 37/06, BFH/NV
2008, 526) nicht mehr möglich.
19 d) Dabei kann offenbleiben, ob das beklagte Betriebsstättenfinanzamt des Arbeitgebers oder
--worauf die Vorinstanz erkannt hat-- das Betriebsstättenfinanzamt des Dritten --hier der
Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft-- für den Erlass des angefochtenen
Lohnsteuerhaftungsbescheids zu Lasten der Klägerin gemäß § 42d Abs. 9 Satz 8 EStG
örtlich zuständig war.