Urteil des BFH vom 20.08.2009

BFH: bindungswirkung, einkünfte, einspruch, abgabenordnung, berechnungsgrundlagen, bekanntgabe, beweisführung, zivilprozessordnung, wahrscheinlichkeit, zusage

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 20.8.2009, III S 31/08 (PKH)
Zur Bindungswirkung eines die Festsetzung von Kindergeld aufhebenden Bescheides
Tatbestand
1 I. Im Juni 2004 hob die beklagte Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für den Sohn (S) des Antragstellers ab
Januar 2004 auf. Da seit 1. Januar 2004 Aufwendungen für eine sog. unechte doppelte Haushaltsführung nicht mehr
als Werbungskosten abziehbar seien, werde S im Streitjahr 2004 Einkünfte und Bezüge von mehr als 7.680 EUR
haben. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse durch Einspruchsentscheidung vom 21.
September 2004 als unbegründet zurück. Es sei offensichtlich, dass die Einkünfte von S ohne Berücksichtigung der
Werbungskosten für doppelte Haushaltsführung den Jahresgrenzbetrag überschreiten würden. Daher sei die
Festsetzung des Kindergeldes bereits vor Ablauf des Jahres 2004 aufgehoben worden, um weitere Überzahlungen zu
vermeiden. Klage erhob der Antragsteller nicht.
2 Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02
(BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) beantragte der Antragsteller im Dezember 2005 erneut die
Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004. Daraufhin setzte die Familienkasse ab Oktober 2004 Kindergeld für S
fest und lehnte den Antrag für die Monate Januar bis September 2004 unter Hinweis auf die Bestandskraft der
Einspruchsentscheidung vom September 2004 ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) ließ
die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu, weil die Frage des Umfangs der Bindungswirkung eines erst nach
einer Einspruchsentscheidung bestandskräftig gewordenen Kindergeldbescheids nicht höchstrichterlich geklärt sei.
3 Der Antragsteller begehrt, ihm für die beabsichtigte Revision Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen und Rechtsanwalt
X als Prozessbevollmächtigten beizuordnen. Er habe die Einspruchsentscheidung vom September 2004 im Vertrauen
darauf bestandskräftig werden lassen, dass --wie die Familienkasse dies zum Ausdruck gebracht habe-- die Höhe der
Einkünfte und Bezüge endgültig erst nach Ablauf des Kalenderjahres 2004 überprüft werde. Hätte er seinerzeit Klage
erhoben, hätte das FG die Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164 bereits berücksichtigen müssen. Ob auch
eine Änderung nach § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) möglich sei, könne nicht geprüft werden, da
nicht ersichtlich sei, welche konkrete Prognose die Familienkasse dem Aufhebungsbescheid zugrunde gelegt habe,
weshalb dieser Bescheid mangels ausreichender Begründung unwirksam sei; auch aus diesem Grund sei das Urteil
des FG aufzuheben (§ 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Ein Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld für
S bestehe jedenfalls ab Juli 2004, da nicht auf die Bestandskraft der Einspruchsentscheidung vom September 2004,
sondern allenfalls auf den Aufhebungsbescheid vom Juni 2004 abgestellt werden könne.
4 Da er mittellos sei, könne er die Kosten für ein Revisionsverfahren nicht aufbringen.
Entscheidungsgründe
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II. Der Antrag hat nur teilweise Erfolg.
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1. Nach § 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann,
auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig
erscheint. Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den
Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund dessen Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für
zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung
überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für einen Eintritt des angestrebten Erfolges eine gewisse
Wahrscheinlichkeit besteht. Er darf nicht von vornherein aussichtslos erscheinen (z.B. Beschluss des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. April 2003 VII S 25/02 (PKH), BFH/NV 2003, 1077).
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2. Danach hat der Antrag keinen Erfolg, soweit er sich auf die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für die
Monate Januar bis Juni 2004 bezieht. Denn insoweit hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung bei der gebotenen
summarischen Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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a) In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BFH ist das FG davon ausgegangen, dass der
Festsetzung von Kindergeld für S (jedenfalls) für die Monate Januar bis Juni 2004 der (durch die
Einspruchsentscheidung vom September 2004 bestätigte) Aufhebungsbescheid vom Juni 2004 entgegensteht (vgl.
Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717).
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b) In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das FG auch die Hinweise der Familienkasse in der
Einspruchsentscheidung vom September 2004 auf die nicht abschließende Entscheidung im Rahmen der Prognose
zu den Einkünften und Bezügen des S nicht als Zusage der Familienkasse beurteilt. Auch insoweit entspricht das
Urteil des FG der Rechtsprechung des BFH (z.B. Senatsurteil vom 15. März 2007 III R 39/06, BFH/NV 2007, 1459).
10 c) Zu Recht hat das FG schließlich auch eine Änderung des Aufhebungsbescheids vom Juni 2004 nach § 70 Abs. 4
EStG abgelehnt. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, die das FG seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist
ein bestandskräftiger Bescheid, mit dem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld im laufenden
Kalenderjahr wegen der den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) voraussichtlich übersteigenden Einkünfte
und Bezüge des Kindes aufgehoben hat, nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, wenn der Jahresgrenzbetrag allein
deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die
Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (z.B. Senatsurteil in BFHE 216, 138, BStBl
II 2007, 717).
11 Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist der Aufhebungsbescheid nicht mangels ausreichender Begründung
(keine Darlegung der Berechnungsgrundlagen) unwirksam. Ein Bescheid, der nicht ausreichend begründet ist, ist
allenfalls rechtswidrig, aber nicht nichtig (§ 124 Abs. 3, § 125, § 126 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung). Der vom
Antragsteller zitierte § 119 Nr. 6 FGO regelt nur, dass ein nicht mit Gründen versehenes Urteil stets als rechtswidrig
anzusehen ist.
12 3. Erfolg hat der Antrag hingegen insoweit, als er sich auf die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld für die
Monate Juli bis September 2004 bezieht. Insoweit hat das FG die Klage abgewiesen, weil die Bindungswirkung des
Aufhebungsbescheids vom Juni 2004, durch den die Festsetzung von Kindergeld für S ab Januar 2004 aufgehoben
wurde, bis zum Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, also bis Ende September 2004 reiche. Die
Frage des Umfangs der Bindungswirkung in Fällen, in denen, wie hier, der Aufhebungsbescheid aufgrund einer
Einspruchseinlegung erst mit dem Ergehen der Einspruchsentscheidung bestandskräftig wird, ist höchstrichterlich
noch nicht geklärt. Der Rechtsstandpunkt des Antragstellers, demzufolge hinsichtlich der Bindungswirkung (allenfalls)
auf den Aufhebungsbescheid, nicht aber auf eine diesen bestätigende nachfolgende Einspruchsentscheidung
abzustellen, ist zumindest vertretbar.
13 4. Aus der vom Antragsteller eingereichten Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ergibt
sich, dass er nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.
14 5. Die Beiordnung von Rechtsanwalt X beruht auf § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 121 Abs. 1 ZPO.