Urteil des BAG vom 22.03.2012

Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen - Wirksamkeit der Wahl zur Gesamtschwerbehindertenvertretung

BUNDESARBEITSGERICHT Beschluss vom 22.3.2012, 7 AZB
51/11
Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen - Wirksamkeit der Wahl zur
Gesamtschwerbehindertenvertretung
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 2. gegen den Beschluss des
Landesarbeitsgerichts München vom 31. August 2011 - 11 Ta 243/11 -
wird zurückgewiesen.
Gründe
1 I. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Wahl zur
Gesamtschwerbehindertenvertretung.
2 Die Antragstellerin war bis zum 31. Januar 2011
Gesamtschwerbehindertenvertrauensperson. Am 31. Januar 2011 wurde eine neue
Gesamtschwerbehindertenvertretung gewählt. Die Antragstellerin, die ebenfalls kandidiert
hatte, wurde nicht gewählt. Sie macht geltend, dass die Wahl nichtig sei, weil der
Gesamtbetriebsratsvorsitzende auf die Wahl unzulässig Einfluss genommen habe.
3 Die Gesamtschwerbehindertenvertretung hat die Ansicht vertreten, der Rechtsstreit sei vor
dem Sozialgericht auszutragen. Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 31. Mai 2011
entschieden, dass der Rechtsweg zur Arbeitsgerichtsbarkeit eröffnet sei. Das
Landesarbeitsgericht hat die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde der
Gesamtschwerbehindertenvertretung zurückgewiesen. Mit der zugelassenen
Rechtsbeschwerde verfolgt die Gesamtschwerbehindertenvertretung ihr Begehren, den
Rechtsstreit an die Sozialgerichtsbarkeit verweisen zu lassen, weiter.
4 II. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht den
Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen nach § 48 Abs. 1 ArbGG, § 17a Abs. 3
Satz 1 GVG als eröffnet angesehen. Der Streit über die Wirksamkeit einer Wahl zur
Gesamtschwerbehindertenvertretung ist nach den §§ 97 Abs. 7 iVm. 94 Abs. 6 Satz 2
SGB IX im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zu entscheiden. Dies ergibt sich zwar
nicht unmittelbar aus § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG, aber aus einer gebotenen entsprechenden
Anwendung der Norm.
5 1. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Gerichte für Arbeitssachen in
entsprechender Anwendung von § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG zuständig sind, wenn die
Beteiligten um die Kostentragungspflicht einer Bezirksschwerbehindertenvertretung nach
§ 96 Abs. 8 Satz 1 iVm. § 97 Abs. 7 SGB IX streiten (BAG 30. März 2010 - 7 AZB 32/09 -
BAGE 134, 51). Gleiches hat der Senat angenommen, wenn um einen
Freistellungsanspruch aus § 96 Abs. 4 SGB IX zum Zwecke der Teilnahme an einer
Schulung gestritten wird (BAG 19. August 2010 - 7 AZB 19/10 -). Nach dieser
Rechtsprechung ist § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG stets entsprechend anwendbar, wenn um
Normen im Schwerbehindertenvertretungsrecht gestritten wird, die kollektiven Charakter
haben.
6 2. Die Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung von § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG
liegen vor.
7 a) Der Rechtsstreit wird von § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG nicht unmittelbar erfasst. Nach
dieser Vorschrift sind die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig für
Angelegenheiten aus den §§ 94, 95, 139 SGB IX. Im vorliegenden Fall geht es um die
Wirksamkeit einer Wahl zur Gesamtschwerbehindertenvertretung. Die Rechtsstellung der
Gesamtschwerbehindertenvertretung ist in § 97 SGB IX geregelt. Diese Vorschrift ist von
dem Gesetzgeber nicht in § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG in Bezug genommen worden. Zwar
verweist § 97 Abs. 7 Satz 1 SGB IX auf § 94 Abs. 3 bis Abs. 7 SGB IX und damit auch auf
§ 94 Abs. 6 Satz 2 SGB IX, der wiederum die Vorschriften über die Anfechtung einer
Betriebsratswahl für sinngemäß anwendbar erklärt. Diese Verweisung rechtfertigt aber
nicht den Schluss, die Angelegenheiten des § 97 SBG IX fielen unmittelbar unter § 2a
Abs. 1 Nr. 3a ArbGG.
8 b) Es liegt eine planwidrige Regelungslücke vor. Das Gesetz bestimmt auch an anderer
Stelle nicht, bei welchem Gericht über die Anfechtung einer Wahl der
Gesamtschwerbehindertenvertretung zu entscheiden ist. § 51 SGG enthält nur eine
allgemeine Rechtswegbestimmung zu den Sozialgerichten, ohne dass dort der besondere
Fall der Wahlanfechtung einer Gesamtschwerbehindertenvertretung geregelt wäre.
9 c) Die planwidrige Regelungslücke ist durch eine entsprechende Anwendung von § 2a
Abs. 1 Nr. 3a ArbGG zu schließen.
10 aa) Für eine entsprechende Anwendung des § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG sprechen Gründe
der Systematik. Der Streit um die Wirksamkeit einer Wahl einer Arbeitnehmervertretung ist
eine typische kollektivrechtliche Materie, die im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren
auszutragen ist. Dies ist für die Wahl des Betriebsrats in § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, für die
Wahl des Sprecherausschusses in § 2a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG, für die Wahl von Vertretern
des Unternehmens in den Aufsichtsrat in § 2a Abs. 1 Nr. 3 ArbGG und für die Wahl des
Europäischen Betriebsrats in § 2a Abs. 1 Nr. 3b ArbGG so vorgesehen. Auch der Streit um
die Wahl der Schwerbehindertenvertretung ist aufgrund der Verweisung in § 2a Abs. 1
Nr. 3a ArbGG ausdrücklich den Gerichten für Arbeitssachen zugewiesen. Dieser
Systematik entspricht es, auch den Streit über die Wahl der
Gesamtschwerbehindertenvertretung den Gerichten für Arbeitssachen zuzuweisen.
11 bb) Für die entsprechende Anwendung von § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG auf alle
Angelegenheiten der Schwerbehindertenvertretung mit kollektivem Bezug spricht auch die
Gesetzesgeschichte (vgl. ausführlich BAG 30. März 2010 - 7 AZB 32/09 - Rn. 12 bis 14,
BAGE 134, 51).
12 cc) Schließlich ist eine entsprechende Anwendung des § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG auch
aus teleologischen Gründen geboten. § 2a Abs. 1 Nr. 3a ArbGG will im Interesse der
Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Rechtssicherheit für kollektivrechtliche
Angelegenheiten der Schwerbehindertenvertretung ingesamt die Zuständigkeit der
Gerichte für Arbeitssachen begründen (BAG 30. März 2010 - 7 AZB 32/09 - Rn. 15,
BAGE 134, 51; 19. August 2010 - 7 AZB 19/10 - Rn. 15). Es geht nicht um sozialrechtliche
Fragen, wie zB im Bereich der Leistungsverwaltung für Schwerbehinderte, sondern um die
kollektivrechtliche Frage der Schaffung spezifischer Arbeitnehmervertretungsstrukturen.
Dafür ist die Arbeitsgerichtsbarkeit die richtige Fachgerichtsbarkeit. Es wäre nicht zu
vermitteln, wenn die Gerichte für Arbeitssachen bei einem Streit über die Wahl einer
Schwerbehindertenvertretung kraft ausdrücklicher Rechtswegzuweisung in § 2a Abs. 1
Nr. 3a ArbGG zuständig seien, bei einem Streit über die Wahl einer
Gesamtschwerbehindertenvertretung aber nicht (ein Redaktionsversehen des
Gesetzgebers daher annehmend Düwell in LPK-SGB IX 3. Aufl. § 97 Rn. 70; GK-
ArbGG/Dörner Stand November 2010 § 2a Rn. 72; Walker in Schwab/Weth ArbGG 3. Aufl.
§ 2a Rn. 96). Der von der Gesamtschwerbehindertenvertretung angeführte Unterschied,
dass diese nicht durch die Arbeitnehmer, sondern durch die
Schwerbehindertenvertretungen gewählt wird, rechtfertigt keine unterschiedliche
Behandlung.
Linsenmaier Zwanziger Kiel