Urteil des BAG vom 25.02.2015

Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 25. Februar 2015
Fünfter Senat
- 5 AZR 962/13 (A) -
ECLI:DE:BAG:2015:250215.B.5AZR962.13A.0
I. Arbeitsgericht Nürnberg
Endurteil vom 30. März 2012
- 10 Ca 59/11 -
II. Landesarbeitsgericht Nürnberg
Urteil vom 25. September 2013
- 2 Sa 253/12 -
Für die Amtliche Sammlung: Ja
Entscheidungsstichwort:
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
Bestimmungen:
EUV Art. 4 Abs. 3; AEUV Art. 267, Art. 126, Art. 136; Rom I-VO Art. 9,
Art. 28; EGBGB Art. 27 ff. aF; BGB § 241 Abs. 2; Gesetz Nr. 3833/2010
über dringende Maßnahmen zur Bewältigung der Krise der Staatsfinan-
zen
Art. 1; Gesetz Nr. 3845/2010 über Maßnahmen für die
Anwendung des Stützungsmechanismus für die griechische Wirtschaft
von Seiten der Mitgliedsländer der Eurozone und des Internationalen
Währungsfonds
Art. 3
Leitsätze:
1. Zur Anwendung der Rom I-Verordnung auf Arbeitsverhältnisse, die
durch einen vor dem 17. Dezember 2009 unterzeichneten Arbeitsvertrag
begründet wurden.
2. Zur Bedeutung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union für die Rechtsprechung der Mit-
gliedstaaten.
ECLI:DE:BAG:2015:250215.B.5AZR962.13A.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
5 AZR 962/13 (A)
2 Sa 253/12
Landesarbeitsgericht
Nürnberg
Verkündet am
25. Februar 2015
BESCHLUSS
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungskläger und Revisionsbeklagter,
hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 25. Februar 2015 durch den Vizepräsidenten des Bundesar-
beitsgerichts Dr. Müller-Glöge, den Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Biebl,
die Richterin am Bundesarbeitsgericht Weber sowie den ehrenamtlichen Rich-
ter Dr. Dombrowsky und die ehrenamtliche Richterin Zorn beschlossen:
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5 AZR 962/13 (A)
ECLI:DE:BAG:2015:250215.B.5AZR962.13A.0
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I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden ge-
mäß Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
1. Findet die Rom I-VO nach Art. 28 auf Arbeitsverhältnis-
se ausschließlich dann Anwendung, wenn das Rechts-
verhältnis durch einen nach dem 16. Dezember 2009
vereinbarten Arbeitsvertrag begründet worden ist, oder
führt jeder spätere Konsens der Vertragsparteien, ihr
Arbeitsverhältnis verändert oder unverändert fortzuset-
zen, zur Anwendbarkeit der Verordnung?
2. Schließt Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO allein die direkte An-
wendung von Eingriffsnormen eines Drittstaats aus, in
dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtun-
gen nicht erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind,
oder auch die mittelbare Berücksichtigung im Recht des
Staates, dessen Recht der Vertrag unterliegt?
3. Kommt dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grund-
satz der loyalen Zusammenarbeit rechtliche Bedeutung
für die Entscheidung nationaler Gerichte zu, Eingriffs-
normen eines anderen Mitgliedstaats unmittelbar oder
mittelbar anzuwenden?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs ausgesetzt.
Gründe
A.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens:
Im Ausgangsverfahren fordert der als Lehrer an der von der beklagten
Republik getragenen Griechischen Volksschule in N beschäftigte Kläger weitere
Vergütung für den Zeitraum Oktober 2010 bis Dezember 2012 sowie Lohnab-
rechnungen. Die beklagte Republik kürzte in diesem Zeitraum die zuvor in An-
lehnung an deutsches Tarifrecht geleistete Bruttovergütung des Klägers unter
Berufung auf die griechischen Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 um
insgesamt 20.262,32 Euro. Im deswegen eingeleiteten Rechtsstreit hat die auf
Zahlung in Anspruch genommene Republik Griechenland geltend gemacht, sie
sei mit dem Erlass dieser Gesetze den mit der Kommission der Europäischen
Union, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Wäh-
rungsfonds (IWF), also der Troika, getroffenen Vereinbarungen nachgekom-
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men. Ihr sei keine Wahlmöglichkeit eröffnet gewesen. Die Gesetze
Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 wirkten unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis
des Klägers ein und führten ohne jeden weiteren Umsetzungsakt zu einer Ver-
minderung seiner Vergütungsansprüche. Für das Bundesarbeitsgericht ist es
streitentscheidend, ob diese griechischen Gesetze auf das in der Bundesrepub-
lik Deutschland zu erfüllende und deutschem Recht unterliegende Arbeitsver-
hältnis unmittelbar oder mittelbar Anwendung finden. Dabei ist in erster Linie zu
klären, ob das im Jahr 1996 begründete und jedenfalls bis Ende 2012 fortge-
setzte Arbeitsverhältnis der Parteien dem Geltungsbereich der Rom I-VO oder
des alten Internationalen Privatrechts (IPR) Deutschlands
unterfällt. Sollte Art. 9 Rom I-VO Anwendung finden, sind Bedeutung und
Tragweite der Ausnahmebestimmung des Art. 9 Abs. 3 ROM I-VO klärungsbe-
dürftig. Des Weiteren bedarf es der Auslegung des in Art. 4 Abs. 3 EUV veran-
kerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei An-
wendung von Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten.
B.
Rechtlicher Rahmen
Das Internationale Privatrecht der Bundesrepublik war bis zum Inkraft-
treten der Rom I-VO in den Art. 27 ff. des Einführungsgesetzes zum Bürgerli-
chen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt und fand auch auf Arbeitsverhältnisse An-
wendung. Zu Eingriffsnormen enthielt Art. 34 EGBGB folgende Bestimmung:
„Dieser Unterabschnitt berührt nicht die Anwendung der
Bestimmungen des deutschen Rechts, die ohne Rücksicht
auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sach-
verhalt zwingend regeln.“
Die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen wurde durch diese
Norm nicht ausgeschlossen und bestimmte sich nach Rechtsprechung und Leh-
re. In groben Zügen bedeutete dies, dass drittstaatliche Eingriffsnormen zumin-
dest als tatsächliche Umstände im Rahmen ausfüllungsbedürftiger Rechtsnor-
men berücksichtigt werden konnten
.
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Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) findet auch auf Arbeitsverhältnisse
Anwendung. Es enthält in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung ua.
folgende Regelungen:
„§ 241 Pflichten aus dem Schuldverhältnis
(1) Kraft des Schuldverhältnisses ist der Gläubiger berech-
tigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Die
Leistung kann auch in einem Unterlassen bestehen.
(2) Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden
Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Inte-
ressen des anderen Teils verpflichten.
Im Rahmen ihrer Schuldenkrise erließ die Republik Griechenland zum
Schutz der nationalen Wirtschaft das Gesetz Nr. 3833/2010 über dringende
Maßnahmen zur Bewältigung der Krise der Staatsfinanzen, das in den hier wie-
dergegebenen Teilen zum 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt wurde
. Nach
der dem Berufungsgericht vorgelegten Übersetzung des Normtextes enthält es
ua. folgende Regelungen:
„Artikel 1
Kürzung der Bezüge im weiteren öffentlichen Sektor
§ 2
Die Zulagen jeder Art, die Entschädigungen und Entgelte
im allgemeinen, sowie alles mit jeder anderen Bezeich-
nung Bestimmte und alles in welcher auch immer allge-
meinen oder besonderen Bestimmung Vorgesehene für
die Amtsträger und Angestellten der öffentlichen Hand,
der juristischen Personen des öffentlichen Rechts und der
kommunalen Gebietskörperschaften, der ständigen Mit-
glieder der Streitkräfte und der griechischen Polizei sowie
auch der Feuerwehr und der Hafenpolizei werden um ei-
nen Anteil von zwölf vom Hundert (12%) gekürzt.
Die Zulagen der Paragraphen A3 der Art. 30 und 33 des
Gesetzes 3205/2003 (Regierungsblatt 297 Teil A) in der
geltenden Fassung, werden um einen Anteil von zwanzig
vom Hundert (20%) gekürzt und die Zulagen für Weih-
nachten, Ostern und Urlaub werden um einen Anteil von
dreißig vom Hundert (30%) gekürzt.
Die Bestimmungen des vorliegenden Paragraphen werden
auch auf das Personal angewendet, welches sich in einem
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privatrechtlichen Arbeitsverhältnis mit der öffentlichen
Hand, den juristischen Personen des öffentlichen Rechts
und der kommunalen Gebietskörperschaften, den Streit-
kräften, der griechischen Polizei, der Feuerwehr und der
Hafenpolizei befindet und haben Vorrang vor jeder allge-
meinen oder besonderen Bestimmung oder Klausel oder
Bedingung eines Tarifvertrags, eines Schiedsspruchs oder
eines Arbeitsvertrags oder einer (sonstigen) Vereinbarung.
§ 4
Bei dem Personal mit einem privatrechtlichen Arbeitsver-
hältnis des § 2, auf welches die Bestimmungen des Ge-
setzes 3205/2003 nicht anzuwenden sind, sind von der in
§ 2 vorgesehenen Kürzung die Zulagen ausgenommen,
die mit dem Familienstand oder der dienstlichen Laufbahn
zusammenhängen, sowie auch die an die Gesundheits-
schädlichkeit oder Gefährlichkeit der Arbeit oder mit post-
gradualen Studienabschlüssen verbundenen. Wenn an
das vorgenannte Personal keine Zulagen, Entschädigun-
gen oder Entgelte im Sinn des ersten Absatzes des § 2
des vorliegenden (Artikels) geleistet werden, sind die Be-
züge jeder
Art um sieben vom Hundert (7%) zu kürzen.“
Darüber hinaus erließ die Republik Griechenland das Gesetz
Nr. 3845/2010 über Maßnahmen für die Anwendung des Stützungsmechanis-
mus für die griechische Wirtschaft von Seiten der Mitgliedsländer der Eurozone
und des Internationalen Währungsfonds, das in den hier wiedergegebenen Tei-
len zum 1. Juni 2010 in Kraft gesetzt wurde
. Nach der dem Berufungsgericht
vorgelegten Übersetzung des Normtextes enthält es ua. folgende Regelungen:
„Dritter Artikel
Maßnahmen für die Kürzung der öffentlichen Ausgaben
§ 3
Bei dem Personal mit einem privatrechtlichen Arbeitsver-
hältnis des § 2 des Artikels 1 des Gesetzes 3833/2010,
auf welches die Bestimmungen des Gesetzes 3205/2003
nicht anzuwenden sind, sind von der in § 1 vorgesehenen
Kürzung die Zulagen ausgenommen, die mit dem Fami-
lienstand oder der dienstlichen Laufbahn zusammenhän-
gen, sowie auch die an die Gesundheitsschädlichkeit oder
Gefährlichkeit der Arbeit oder mit postgradualen Studien-
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abschlüssen verbundenen. Wenn an das vorgenannte
Personal keine Zulagen, Entschädigungen oder Entgelte
im Sinn des § 1 geleistet werden, sind die Bezüge jeder
Art um drei vom Hundert (3%) zu kürzen. Die ordentlichen
Bezüge, die Zulagen, Entschädigungen und Entgelte im
allgemeinen, sowie alles mit jeder anderen Bezeichnung
Bestimmte und alles in welcher auch immer allgemeinen
oder besonderen Bestimmung oder Klausel oder Bedin-
gungen eines Tarifvertrags, eines Schiedsspruchs oder
eines Arbeitsvertrags oder einer (sonstigen) Vereinbarung
vorgesehene für ausnahmslos alle Arbeitstätigen bei
Rechtsträgern des ersten Absatzes des § 5 des Art. 1 des
Gesetzes 3833/2010 in der geltenden Fassung, werden
um einen Anteil von drei vom Hundert (3%) gekürzt.
Von der Kürzung des vorausgegangenen Absatzes sind
ausgenommen die Zulagen, die mit dem Familienstand
oder der dienstlichen Laufbahn zusammenhängen sowie
auch die an die Gesundheitsschädlichkeit oder Gefähr-
lichkeit der Arbeit oder mit postgradualen Studienab-
schlüssen verbundenen.
C.
Erforderlichkeit der Entscheidung des EuGH
Das Bundesarbeitsgericht verneint im Hinblick auf die Tätigkeit des
Klägers als Lehrer im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis eine Staatenimmunität
Griechenlands und bejaht die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte
nach Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Nr. 2 a) EuGVVO. Das Arbeitsverhältnis der Partei-
en richtet sich nach deutschem Recht, das - für sich betrachtet - die von der
Beklagten vorgenommenen Entgeltkürzungen ohne Änderungsvertrag oder Än-
derungskündigung nicht zulässt. Deshalb ist entscheidungserheblich, ob die
griechischen Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 als drittstaatliche Ein-
griffsnormen auf das Arbeitsverhältnis der Prozessparteien unmittelbar oder
mittelbar Anwendung finden. Diese Gesetze sehen zwingend die Kürzung der
Gehälter aller Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes der Republik Griechen-
land vor, unabhängig davon, ob diese in Griechenland oder in einem anderen
Staat beschäftigt werden. Die unter B. wiedergegebenen Regelungen über die
Kürzung der Bezüge der Staatsbediensteten sind zwingend. Sie beanspruchen
Geltung gegenüber jedermann, lassen keine Ausnahmen zu und erfüllen die
Anforderungen an Eingriffsnormen iSd. IPR. Für das Bundesarbeitsgericht stellt
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sich die Frage, nach welchem Recht über die Anwendung der Gesetze
Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 als drittstaatliche Eingriffsnormen zu ent-
scheiden ist. Insbesondere ob Art. 9 Rom I-VO heranzuziehen ist. Darüber hin-
aus ist offen, ob bei Anwendbarkeit der Rom I-VO die bisherige nationale Praxis
der zumindest mittelbaren Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen in be-
gründeten Fällen aufrechterhalten werden kann. Wegen des besonderen Ran-
ges der in Art. 4 EUV verankerten Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten ist für das
Bundesarbeitsgericht des Weiteren offen, ob im Falle der Existenzgefährdung
eines anderen Mitgliedstaats die Anwendung der zu deren Abwendung erlasse-
nen Normen als drittstaatliche Eingriffsnormen unionsrechtlich gefordert ist.
Zur Frage 1
Gemäß Art. 28 Rom I-VO wird diese Verordnung auf Verträge ange-
wendet, die ab dem 17. Dezember 2009
„geschlossen“ werden. Im deutschen
Schrifttum wird diese Regelung dahin verstanden, es komme auf den Zeitpunkt
des Konsenses der Vertragsparteien an
. Diese Inter-
pretation der unionsrechtlichen Regelung ist zumindest für Arbeitsverhältnisse
mehrdeutig, zumal innerhalb der Union für Arbeitsverträge andere Zeitpunkte
vertreten werden könnten. So ist in der Geschichte des deutschen Arbeitsrechts
die Begründung von Arbeitsverhältnissen in ganz unterschiedlicher Weise be-
griffen worden
. Zu nennen sind verschiedene
Spielarten von Eingliederungstheorien
,
die im Gegensatz zu Vertragstheorien standen
. Deshalb bedarf es nach Auffassung des Senats einer unionsein-
heitlichen Klärung, wie das Merkmal „geschlossen“ auszulegen ist. Vor allem
bedarf es der Klärung, wie diese Bestimmung im Falle langfristiger Arbeitsver-
hältnisse auszulegen ist. Denn würde allein auf den erstmaligen Vertrags-
schluss abgestellt, hätte diese Interpretation zur Folge, dass auf ein vor dem
17. Dezember 2009 begründetes Arbeitsverhältnis womöglich auf Jahrzehnte
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noch das alte IPR des Mitgliedstaats Anwendung fände. Würde man nicht allein
auf den Akt der erstmaligen Begründung des Arbeitsverhältnisses abstellen,
bliebe zu beantworten, ob und ggf. welche vom Konsens der Vertragsparteien
getragenen Änderungen des Arbeitsverhältnisses zur Anwendbarkeit der
Rom I-VO führen können. ZB ist die vertragliche Änderung der Bruttovergütung
oder der Arbeitspflicht als möglicher Anknüpfungspunkt in Betracht zu ziehen.
Darüber hinaus könnte die Fortsetzung der Arbeitsleistung nach einem Ver-
tragsbruch oder einer anderen Unterbrechung der Vertragserfüllung als Fortset-
zung der betrieblichen Eingliederung des Arbeitnehmers herangezogen werden,
um die Anwendbarkeit der Rom I-VO auszulösen.
Sollte die Rom I-VO im Ausgangsfall nicht gelten, weil die letzte schrift-
liche Änderung des Arbeitsvertrags bereits 2008 vereinbart wurde, kämen die
Art. 27 ff. EGBGB aF zur Anwendung. Dies würde eine Berücksichtigung grie-
chischer Eingriffsnormen bei der Interpretation von Leistungstreue- und
Leistungsnebenpflichten des Arbeitnehmers
erlauben.
Zur Frage 2
Gemäß Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO kann den Eingriffsnormen des Staates,
in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen
oder erfüllt worden sind, Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnor-
men die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Im Ausgangsfall
liegt der Erfüllungsort nicht in Griechenland, sondern in Deutschland. Ist Art. 9
Rom I-VO nach seinem zeitlichen Geltungsbereich anwendbar, bedarf es der
Klärung, ob Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eine abschließende Wirkung in dem Sinne
zukommt, dass nur noch Eingriffsnormen des Erfüllungsorts des Vertrags An-
wendung finden können oder - nach wie vor - ausländische Eingriffsnormen
mittelbar berücksichtigt werden dürfen. Eine solche materiell-rechtliche Berück-
sichtigung ausländischer Eingriffsnormen wird im deutschen Schrifttum auch
unter Geltung von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vertreten
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Zur Frage 3
Wenn auf den Streitfall Art. 27 ff. EGBGB aF Anwendung finden oder
Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO der Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen
nicht entgegensteht, könnte es der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz
der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten nationalen Gerichten gebieten,
Eingriffsnormen
anderer Mitgliedstaaten Wirkung zu verschaffen. Selbst wenn
Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO deren Berücksichtigung entgegenstünde, könnte aus
Art. 4 Abs. 3 Satz 1 EUV Abweichendes folgen. Die Achtung der loyalen Zu-
sammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung der Union und ihrer Mitglied-
staaten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben
, könnte sich auch auf die Umsetzung der von der
Republik Griechenland mit der Kommission der Europäischen Union, der Euro-
päischen Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF),
also der Troika, getroffenen Vereinbarungen durch nationale Gesetze erstre-
cken. Denn die Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 dienen der Umset-
zung der mit der Republik Griechenland anlässlich der Kreditvergabe getroffe-
nen Vereinbarungen. Damit soll die Republik Griechenland ihren nach
Art. 119 ff. AEUV
bestehenden, durch den Rat
der Europäischen Union konkretisierten Verpflichtungen nachkommen. Der an
Griechenland gerichtete, auf Art. 126 Abs. 9 und Art. 136 AEUV gestützte Be-
schluss des Rates der Europäischen Union vom 8. Juni 2010 betreffend die
Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung zwecks
Beendigung des übermäßigen Defizits
nimmt Bezug auf die zuvor mit Griechenland getroffenen
Vereinbarungen und fordert von Griechenland Maßnahmen zur Haushaltskon-
solidierung. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, der in Art. 4 Abs. 3 EUV ver-
ankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit finde auf die zur Umsetzung
dieser Vorgaben notwendigen Maßnahmen Anwendung. Die Loyalitätspflicht
könnte es erfordern, Griechenland bei der Umsetzung der durch die Unionsor-
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ECLI:DE:BAG:2015:250215.B.5AZR962.13A.0
gane geforderten Schritte umfassend durch Berücksichtigung der griechischen
Gesetze innerhalb des deutschen Rechts zu unterstützen.
Müller-Glöge
Biebl
Weber
Dombrowsky
Zorn