Urteil des BAG vom 22.05.2014

Frist des § 15 Abs. 4 AGG - Anwendbarkeit des § 167 ZPO - Behinderung - angemessene Vorkehrungen des Arbeitgebers

Siehe auch:
Pressemitteilung Nr. 25/14 vom 22.5.2014
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 22.5.2014, 8 AZR 662/13
Frist des § 15 Abs. 4 AGG - Anwendbarkeit des § 167 ZPO
Leitsätze
Die nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG erforderliche Schriftform zur Geltendmachung von
Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG) kann auch
durch eine Klage gewahrt werden. Dabei findet § 167 ZPO Anwendung. Es genügt der
rechtzeitige Eingang der Klage bei Gericht, wenn die Klage "demnächst" zugestellt wird.
Tenor
1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 30. Mai 2013 -
4 Sa 62/13 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung -
auch über die Kosten der Revision - an das
Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche.
2 Die Klägerin, die wegen einer Erkrankung an multipler Sklerose (MS) mit einem Grad der
Behinderung (GdB) von 50 schwerbehindert ist, bewarb sich gegen Ende ihrer dreijährigen
Ausbildung zur Fachangestellten für Bäderbetriebe bei der Beklagten, die Hallen- und
Freibäder betreibt. Die ausgeschriebene, der Ausbildung der Klägerin entsprechende Stelle
sollte ua. die Beaufsichtigung und die Kontrolle des Badebetriebes einschließlich des
Rettungsdienstes, die Betreuung der Badegäste, die Erteilung von Schwimmunterricht und
die Durchführung von Aquafitnesskursen beinhalten. Die Beklagte stellte der Klägerin einen
befristeten Arbeitsvertrag als Elternzeitvertretung in Aussicht, ein Musterarbeitsvertrag
wurde übersandt. Anlässlich einer Besichtigung des zukünftigen Arbeitsplatzes teilte die
Klägerin ihre Behinderung mit. Die Beklagte zog daraufhin das Vertragsangebot zurück. Die
Klägerin erhob ohne gesonderte außergerichtliche Geltendmachung Klage auf
Schadensersatz und Entschädigung nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG, die der Beklagten
einen Tag nach Ablauf der Zweimonatsfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG zugestellt wurde.
3 Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe ein Schadensersatzanspruch in Höhe
der Fahrtkosten nach § 15 Abs. 1 AGG und eine angemessene Entschädigung nach § 15
Abs. 2 AGG zu, weil sie wegen ihrer Schwerbehinderung benachteiligt worden sei. Sie sei
objektiv für die ausgeschriebene Stelle geeignet. Sie habe sämtliche für die Einstellung
erforderlichen Abschlüsse und Bescheinigungen vorgelegt. Körperliche Einschränkungen
bestünden im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen bei der Beklagten nicht. Das
zeige auch das vom Arbeitsgericht eingeholte neurologische Sachverständigengutachten
vom 17. September 2012. Ihre Krankheit sei frühzeitig erkannt und ihr sei dementsprechend
früh durch medikamentöse Einstellung begegnet worden. Die Geltendmachungsfrist des
§ 15 Abs. 4 Satz 1 AGG sei eingehalten worden, § 167 ZPO sei hier anwendbar.
4 Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie eine Entschädigung in Höhe von
4.500,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz der EZB seit dem 29. Februar 2012 zu zahlen;
2. die Beklagte weiterhin zu verurteilen, an sie Schadensersatz in Höhe von
90,40 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz der EZB seit dem 29. Februar 2012 zu zahlen.
5 Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Die Klägerin habe ihre Ansprüche nicht
rechtzeitig geltend gemacht. Gesucht worden sei für den Aufgabenbereich einschließlich
einer Rettung von in Not geratenen Badegästen, darunter viele Kinder, eine Person mit
vollständiger Gesundheit und darüber hinaus überdurchschnittlicher gesundheitlicher
Konstitution. Darüber verfüge die Klägerin wegen ihrer Erkrankung an MS nicht. Sie sei, so
habe es auch die Abstimmung mit dem Betriebsarzt ergeben, nicht in der Lage, die Tätigkeit
auszuüben. Das ergebe sich auch aus dem Sachverständigengutachten vom
17. September 2012. Nach § 8 Abs. 1 AGG sei eine unterschiedliche Behandlung wegen
der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung zulässig.
6 Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und der Klägerin Schadensersatz und eine
Entschädigung in der zuletzt beantragten Höhe zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht
hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom
Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung
der erstinstanzlichen Entscheidung, während die Beklagte die Zurückweisung der Revision
beantragt.
Entscheidungsgründe
7 Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
8 A. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage wegen Nichteinhaltung der Frist des § 15
Abs. 4 Satz 1 AGG abgewiesen. Wie auch aus der Entscheidung des Senats vom 21. Juni
2012 (- 8 AZR 188/11 - BAGE 142, 143) hervorgehe, finde - entgegen der Auffassung der
Klägerin - § 167 ZPO auf diese Frist keine Anwendung.
9 B. Mit dieser Begründung kann die Klage nicht abgewiesen werden. Die Klägerin hat ihre
Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche innerhalb der Frist des § 15 Abs. 4 AGG
rechtzeitig geltend gemacht. Auf § 15 Abs. 4 AGG findet § 167 ZPO Anwendung. Damit
kommt es für den Zugang auf den Zeitpunkt des Eingangs der Klageschrift bei Gericht an.
Der Senat hält an seiner früher als obiter dictum geäußerten gegenteiligen Auffassung
(BAG 21. Juni 2012 - 8 AZR 188/11 - Rn. 27, BAGE 142, 143) nicht fest.
10 I. Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG sind Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche
(§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG), soweit tarifvertraglich nicht anderes vereinbart ist, innerhalb
einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend zu machen. Die erforderliche Schriftform
kann auch durch eine Klage gewahrt werden (BAG 21. Juni 2012 - 8 AZR 188/11 - Rn. 27,
BAGE 142, 143). Bei dieser Frist handelt es sich um eine materiell-rechtliche
Ausschlussfrist (BAG 21. Juni 2012 - 8 AZR 188/11 - Rn. 19, aaO).
11 II. Die Klägerin, die mit dem Zugang des auf die Behinderung als Ablehnungsgrund Bezug
nehmenden Ablehnungsschreibens der Beklagten am 28. Dezember 2011 Kenntnis von
der behaupteten Benachteiligung erlangt hatte, hat ihren Anspruch mit ihrer am
20. Februar 2012 bei Gericht eingegangenen Klageschrift rechtzeitig geltend gemacht. Die
Zustellung der Klage an die Beklagte am 29. Februar 2012 ist „demnächst“ iSd. § 167 ZPO
- also ohne der Klägerin zuzurechnende Verzögerungen im Zustellungsverfahren (vgl. ua.
BAG 23. August 2012 - 8 AZR 394/11 - Rn. 30 ff., BAGE 143, 50) - vorgenommen worden.
Gleichzeitig wurde die im Hinblick auf den Entschädigungsanspruch maßgebende
dreimonatige Klagefrist des § 61b Abs. 1 ArbGG eingehalten.
12 1. § 167 ZPO ist grundsätzlich in den Fällen anwendbar, in denen durch die Zustellung
einer Klage eine Frist gewahrt werden soll, die auch durch außergerichtliche
Geltendmachung eingehalten werden kann. In Sonderfällen kommt die
Rückwirkungsregelung nicht zur Anwendung.
13 a) In der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und in der Literatur wurde die
Ansicht vertreten, die Regelung des § 167 ZPO über die Rückwirkung der Zustellung auf
den Zeitpunkt der Einreichung der Klage gelte nur für Fälle, in denen eine Frist lediglich
durch Inanspruchnahme der Gerichte gewahrt werden könne. Dies wurde insbesondere
mit dem aus der Entstehungsgeschichte zu erschließenden Sinn und Zweck der Vorschrift
begründet. Deshalb wurde § 167 ZPO in Fällen nicht für anwendbar gehalten, in denen
durch die Zustellung die - auch durch außergerichtliche Geltendmachung zu wahrenden -
Fristen zur Erklärung einer Mieterhöhung, zur Anfechtung wegen Irrtums und zur
Inanspruchnahme aus einer Bürgschaft eingehalten werden sollten. Nur in Sonderfällen -
wenn die gesetzliche oder vertragliche Regelung, aus der sich die zu wahrende Frist
ergibt, einer eingeschränkten Anwendung der Rückwirkungsregelung entgegensteht -
sollte anderes gelten (im Einzelnen dazu: BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 - Rn. 21 f. mwN,
BGHZ 177, 319). Das Bundesarbeitsgericht hat für tarifvertragliche Ausschlussfristen
entschieden, dass dann, wenn der Gläubiger die Möglichkeit hat, die Ausschlussfrist auch
in anderer Form - zB durch einfaches Schreiben - einzuhalten, aber dennoch die Form der
Klage wählt, es zu seinen Lasten geht, wenn die Klageschrift nicht innerhalb der tariflichen
Ausschlussfrist dem Schuldner zugestellt wird (BAG 25. September 1996 - 10 AZR
678/95 - zu II 3 und II 4 der Gründe mwN).
14 b) Der Senat schließt sich für den Anspruch aus § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG der
geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 -
BGHZ 177, 319) zum Regel-/Ausnahmeverhältnis der Anwendung des § 167 ZPO bei der
außergerichtlichen fristgebundenen Geltendmachung an.
15 aa) Unter den verschiedenen Möglichkeiten für den Zugang einer Willenserklärung lässt
§ 132 Abs. 1 Satz 1 BGB - anstelle des Zugangs - die Zustellung einer Willenserklärung
durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers zu. Sie entfaltet Rückwirkung. Es ist nicht
gerechtfertigt, einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts in gleichartigen Fällen die
Rückwirkung zu versagen.
16 (1) Mit einer Zustellung nach § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB können Fristen eingehalten
werden, die nicht gerichtlicher Geltendmachung bedürfen. Soll durch eine solche
Zustellung eine Frist gewahrt werden, tritt diese Wirkung nach § 132 Abs. 1 Satz 2 BGB
iVm. §§ 191, 192 Abs. 2 Satz 1, § 167 ZPO bereits mit Übergabe des die Willenserklärung
enthaltenden Schriftstücks an den Gerichtsvollzieher ein, wenn die Zustellung demnächst
erfolgt (BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 - Rn. 24 mwN, BGHZ 177, 319).
17 Das gilt auch für rechtsgeschäftsähnliche Erklärungen (ohne Weiteres vorausgesetzt auch
durch BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 - Rn. 24 f., BGHZ 177, 319). Sie stehen
Willenserklärungen regelmäßig so nahe, dass viele Bestimmungen über
Willenserklärungen - etwa betreffend den hier interessierenden Zugang - grundsätzlich
entsprechend anzuwenden sind (BAG 9. Dezember 2008 - 1 ABR 79/07 - Rn. 36 mwN,
BAGE 128, 364; BGH 17. Oktober 2000 - X ZR 97/99 - zu II 1 b der Gründe mwN,
BGHZ 145, 343; vgl. im Übrigen BAG 19. August 2010 - 8 AZR 530/09 - Rn. 43 mwN;
26. April 2006 - 5 AZR 403/05 - Rn. 19 mwN, BAGE 118, 60). § 132 Abs. 1 Satz 1 BGB
findet auch im Arbeitsrecht Anwendung (so setzen die Anwendbarkeit des § 132 BGB im
Arbeitsrecht voraus ua.: BAG 7. November 2002 - 2 AZR 475/01 - zu B II 3 a der Gründe,
BAGE 103, 277; 12. Juli 1984 - 2 AZR 290/83 -; 30. Juni 1983 - 2 AZR 10/82 - zu B I 1 b bb
der Gründe, BAGE 43, 148; 25. Februar 1983 - 2 AZR 298/81 - zu I 2 b bb der Gründe; vgl.
auch KR-Friedrich 10. Aufl. § 4 KSchG Rn. 115 f.).
18 (2) Für eine Zustellung durch Vermittlung des Gerichts gilt in gleichartigen Fällen nichts
anderes. Bei der Geltendmachung einer Forderung handelt es sich um einen gleichartigen
Fall.
19 (a) Der Wortlaut des § 167 ZPO gibt dazu keinen Aufschluss; Gegenteiliges ist nicht
enthalten.
20 (b) Die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sprechen für
eine Anwendung des § 167 ZPO bei einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts im
Hinblick auf die Wahrung einer Frist, die auch durch außergerichtliche Geltendmachung
eingehalten werden kann. Wer mit der Klage die stärkste Form der Geltendmachung von
Ansprüchen wählt, muss sich deshalb darauf verlassen können, dass die Einreichung der
Klageschrift die Frist wahrt (BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 - Rn. 25 mwN, BGHZ 177,
319). Dies gilt umso mehr, wenn - wie im Fall des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG - die Schriftform
auch durch eine Klage gewahrt werden kann.
21 (c) Die Geltendmachung eines Anspruchs iSv. § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG ist zwar keine - in
§ 132 Abs. 1 Satz 1 BGB ausdrücklich genannte - Willenserklärung, sondern eine
einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung (BAG 19. August 2010 - 8 AZR 530/09 -
Rn. 44). Ebenso wie der Bundesgerichtshof für die Geltendmachung des
Auskunftsanspruchs nach § 26 Abs. 3 UrhG aF, bei dem es sich ebenfalls nicht um eine
Willenserklärung handelt, einen gleichartigen Fall angenommen hat, gilt das auch für § 15
Abs. 4 Satz 1 AGG.
22 bb) In Sonderfällen, die dies nach dem besonderen Sinn und Zweck der Fristbestimmung
erfordern, kommt die Rückwirkungsregelung ausnahmsweise nicht zur Anwendung (vgl.
BGH 17. Juli 2008 - I ZR 109/05 - Rn. 21, 26, BGHZ 177, 319, mit Beispielsfällen früherer
und aktueller Rechtsprechung).
23 2. § 15 Abs. 4 AGG ist kein Sonderfall im Hinblick auf die Anwendung des § 167 ZPO. Für
eine Ausnahmekonstellation gibt es bei dieser Geltendmachungsfrist keinen Anhaltspunkt,
Sinn und Zweck der Regelung gebieten solches nicht.
24 Über eine Anwendung des § 167 ZPO in anderen Bereichen des Arbeitsrechts hatte der
Senat nicht zu entscheiden.
25 a) Zwar soll sich der Arbeitgeber nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1780 S. 38)
angesichts der in § 22 AGG getroffenen Beweislastverteilung - der in der Regel nur dann
genügt werden kann, wenn die Kriterien und Grundlagen der Einstellungsentscheidung
dokumentiert worden sind - darauf verlassen können, dass nach Fristablauf Ansprüche
nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG nicht mehr gegen ihn erhoben werden und
Dokumentationen über Einstellungsverfahren nicht bis zum Ablauf der allgemeinen
Verjährungsfrist von drei Jahren aufbewahrt zu werden brauchen (BAG 15. März 2012 -
8 AZR 160/11 - Rn. 50 mwN).
26 b) Jedoch tritt mit dem Ablauf von zwei Monaten nach Zugang der Ablehnung kein
umfassendes Ende von Geltendmachungsmöglichkeiten ein.
27 aa) Im Falle einer Bewerbung beginnt die Frist des § 15 Abs. 4 Satz 2 AGG grundsätzlich
mit dem „Zugang der Ablehnung“, jedoch nicht vor dem Zeitpunkt, in dem der Bewerber
von seiner Benachteiligung Kenntnis erlangt. Hierüber gibt die bloße Ablehnung der
Bewerbung durch den Arbeitgeber nicht in jedem Fall zwingend Auskunft (vgl. BAG
21. Juni 2012 - 8 AZR 188/11 - Rn. 24 mwN, BAGE 142, 143; 15. März 2012 - 8 AZR
37/11 - Rn. 54 ff. mwN, BAGE 141, 48). Erfährt der Betroffene den
benachteiligungsbezogenen Ablehnungsgrund erst Monate nach dem Zugang der
Ablehnung (Kenntnis), beginnt der Fristlauf erst dann.
28 bb) Zudem sind nach § 15 Abs. 5 AGG Ansprüche, die sich aus anderen
Rechtsvorschriften ergeben, unberührt. Auch dies erfordert im Hinblick auf die
Beweislastverteilung eine länger aufbewahrte Dokumentation als nur zwei Monate nach
Zugang der Ablehnung.
29 cc) Unbeachtlich ist, dass eine absolute Zeitgrenze nicht besteht und bei
Auslandszustellungen auch eine Zustellung nach mehreren Monaten noch „demnächst“
sein kann (ua. BAG 23. August 2012 - 8 AZR 394/11 - Rn. 31, BAGE 143, 50). Eine solche
Sondersituation kann nicht ausschlaggebend sein.
30 C. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nach § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die
Sache nach § 563 Abs. 1 ZPO an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Der
Senat kann nicht nach § 563 Abs. 3 ZPO abschließend entscheiden.
31 I. Ob und ggf. in welcher Höhe der Klägerin die geltend gemachten Schadensersatz- und
Entschädigungsansprüche zustehen, kann noch nicht festgestellt werden. Das
Landesarbeitsgericht hat - nach seiner Rechtsauffassung konsequent - die erforderlichen
Tatsachenbewertungen unterlassen. Hängt zudem die Höhe des
Entschädigungsanspruchs - wie hier - von einem Beurteilungsspielraum ab, ist die
Bemessung des Entschädigungsanspruchs grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (vgl.
BAG 24. Januar 2013 - 8 AZR 188/12 - Rn. 49; 13. Oktober 2011 - 8 AZR 608/10 - Rn. 58;
17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - Rn. 64).
32 II. Bei der weiteren Behandlung der Sache ist zu berücksichtigen:
33 1. Eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt vor; die Beklagte hat
sich für ihre Ablehnung auf die Behinderung der Klägerin und damit auf einen in § 1 AGG
genannten Grund bezogen. Ob diese Benachteiligung nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig ist -
wie die Beklagte meint, das Arbeitsgericht aber verneint hat -, hat das
Landesarbeitsgericht zu prüfen.
34 a) Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes ist
nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig, wenn „dieser Grund“ wegen der Art der auszuübenden
Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende
berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung
angemessen ist (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom
27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung
der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf [Richtlinie 2000/78/EG]). Allerdings
muss - wenn dies auch in § 8 Abs. 1 AGG nicht wortwörtlich zum Ausdruck kommt - nach
der bei der Auslegung heranzuziehenden Bestimmung des Art. 4 Abs. 1 Richtlinie
2000/78/EG nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit
diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderung darstellen (vgl. EuGH 13. September 2011 - C-
447/09 [Prigge] - Rn. 66, Slg. 2011, I-8003; 12. Januar 2010 - C-229/08 [Wolf] - Rn. 35, Slg.
2010, I-1). Das Merkmal, das im Zusammenhang mit einem der in § 1 AGG genannten
Benachteiligungsgründe steht, - oder sein Fehlen - kann nur dann eine wesentliche und
entscheidende berufliche Anforderung iSd. § 8 Abs. 1 AGG sein, wenn davon die
ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit abhängt (BAG 18. März 2010 - 8 AZR
77/09 - Rn. 26).
35 b) Dazu sind vorliegend ua. folgende Gesichtspunkte einzubeziehen:
36 aa) Besondere körperliche Fähigkeiten sind eine wesentliche berufliche Anforderung im
Hinblick auf die Kontrolle des Badebetriebes einschließlich des Rettungsdienstes, da die
Sicherheit der Badegäste betroffen ist und körperliche Schwächen beträchtliche
Konsequenzen haben können (insoweit übertragbar EuGH 13. September 2011 - C-
447/09 [Prigge] - Rn. 67, Slg. 2011, I-8003).
37 Weiterhin gilt das für die Erteilung von Schwimmunterricht jedenfalls teilweise, ist aber
auch nicht streitig zwischen den Parteien. Ebenso wenig ist im Streit zwischen den
Parteien, dass für die Durchführung von Aquafitnesskursen grundsätzlich körperliche
Fitnessanforderungen bestehen. Über die Angemessenheit der einzelnen
Tätigkeitsanforderungen herrscht ersichtlich kein Streit zwischen den Parteien.
38 bb) Ausweislich der für die Einstellung erforderlichen Abschlüsse und Bescheinigungen,
darunter das der im Einstellungszeitraum abgeschlossenen einschlägigen Ausbildung
besteht grundsätzlich die Eignung der Klägerin für die bei der Beklagten zu besetzende
Stelle. Das bestreitet die Beklagte auch nicht; im Gegenteil wollte sie die Klägerin auf
dieser Grundlage für die zu vergebende Elternzeitvertretung einsetzen.
39 cc) Ob es sich bei dem Ausschluss der Klägerin wegen der MS um einen rechtmäßigen
Zweck handelt, wird vor dem Hintergrund der Tätigkeitsanforderungen zu prüfen sein.
Wesentlich wird für die vom Landesarbeitsgericht vorzunehmende Bewertung das
neurologische Sachverständigengutachten vom 17. September 2012 sein. Dieses ist für
den damaligen Zeitpunkt - um den allein es sich bei der hier betroffenen Einstellung, noch
dazu für eine zeitlich befristete Vertretungstätigkeit handeln kann - von uneingeschränkter
Arbeitsfähigkeit, auch bei körperlich anstrengender Tätigkeit ausgegangen. Mit einem
plötzlichen Auftreten neurologischer Ausfallsymptome innerhalb weniger Stunden - wie
beispielsweise bei einem Schlaganfall - sei nicht zu rechnen. Damit spricht viel dafür, dass
der Einsatz der Klägerin - jedenfalls für das hier entscheidende, zum damaligen Zeitpunkt
bestehende Erkrankungsbild - auch im Hinblick auf eine plötzlich eintretende
Rettungssituation nicht negativ zu beurteilen ist.
40 Zu beachten ist in jedem Fall, dass nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine
unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein kann und § 8 Abs. 1 AGG iVm. Art. 4
Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, soweit überhaupt eine Abweichung vom
Diskriminierungsverbot ermöglicht ist, eng auszulegen ist (vgl. entsprechend in Bezug auf
die Diskriminierung wegen des Alters: EuGH 13. September 2011 - C-447/09 [Prigge] -
Rn. 71 f., Slg. 2011, I-8003, dort auch mwN in Bezug auf die Diskriminierung wegen des
Geschlechts).
41 Soweit die Beklagte sich auf Passagen des Sachverständigengutachtens zu
verschiedenen Faktoren einer langfristigen Prognose bezieht, ist nicht erkennbar, dass
diese im Hinblick auf eine befristete Einstellung zur Vertretung von Bedeutung sein
können.
42 dd) Zudem wird entscheidend zu berücksichtigen sein, dass ein Arbeitgeber, der eine
Nichteinstellung darauf stützt, dass der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung nicht
eingesetzt werden könne, sich nur dann auf § 8 Abs. 1 AGG berufen kann, wenn auch
angemessene Vorkehrungen iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG iVm. Art. 27 Abs. 1
Satz 2 Buchst. i, Art. 2 Unterabs. 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom
13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ergriffen werden.
Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG, der im AGG keine wortwörtliche Umsetzung erfahren hat,
ist einerseits bei der Auslegung des Begriffs der „angemessenen“ Anforderung in § 8
Abs. 1 AGG einzubeziehen (soweit es um Menschen mit Behinderung geht) und ist zudem
im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 241 Abs. 2 BGB zu
berücksichtigen (für Letzteres BAG 19. Dezember 2013 - 6 AZR 190/12 - Rn. 53). Im
Zusammenhang mit der Richtlinie 2000/78/EG ist der Begriff „angemessene
Vorkehrungen“ dahin gehend zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen
Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung
am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern. Unterlässt
der Arbeitgeber notwendige Vorkehrungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige
Belastung darstellen, ist das in die gerichtliche Beurteilung mit einzubeziehen (vgl. EuGH
11. April 2013 - C-335/11 ua. [Ring, Skouboe Werge] - Rn. 49 ff., 66, 68; 11. Juli 2006 - C-
13/05 [Chacón Navas] - Rn. 50, Slg. 2006, I-6467; BAG 19. Dezember 2013 - 6 AZR
190/12 - Rn. 50 ff.).
43 ee) Keinerlei Rolle spielt, wann die Klägerin über die Tatsache der Behinderung informiert
hat.
44 2. Bei der Höhe einer festzusetzenden Entschädigung ist zu berücksichtigen, dass sie
nach § 15 Abs. 2 AGG angemessen sein muss. Sie muss einen tatsächlichen und
wirksamen rechtlichen Schutz der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte
gewährleisten (vgl. EuGH 25. April 2013 - C-81/12 [Asociatia ACCEPT] - Rn. 63; 22. April
1997 - C-180/95 [Draehmpaehl] - Rn. 24, 39 f., Slg. 1997, I-2195). Die Härte der
Sanktionen muss der Schwere des Verstoßes entsprechen - indem sie insbesondere eine
wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet -, zugleich aber den allgemeinen
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (EuGH 25. April 2013 - C-81/12 [Asociatia
ACCEPT] - Rn. 63 mwN). Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls - wie etwa die Art und
Schwere der Benachteiligung, ihre Dauer und Folgen, der Anlass und der Beweggrund
des Handelns - und der Sanktionszweck der Entschädigungsnorm zu berücksichtigen (vgl.
ua. BAG 23. August 2012 - 8 AZR 285/11 - Rn. 38; 17. Dezember 2009 - 8 AZR 670/08 -
Rn. 38; 22. Januar 2009 - 8 AZR 906/07 - Rn. 82 mwN, BAGE 129, 181).
Hauck
Winter
W. Reinfelder
Umfug
Pauli