Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
21.02.2011

Der Betriebsübergang nach dem heiligen Willen des Grundgesetzes, Apostel Kirch., I – die Unikliniken in Hessen erneut am Scheideweg

 

Es geht hier – ausnahmsweise – nicht um Sex, Gewalt und Diskriminierung. Das hat nur Überhand auf dem Blog gewonnen, weil es so viele Fälle dazu gab. Es geht auch nicht um unsachliche Kritik am Bundesverfassungsgericht oder Herrn Kirchhof. Um ein bisschen Kritik geht es aber schon und vor allem ist der vermeintliche trockene Gegenstand der Betriebsübergang. Wer also lieber die Stichworte Nippelzwicken, Vulva oder too hot for a workplace verfolgt, muss jetzt wegklicken.

Wichtig ist das Thema trotzdem. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht oft etwas zum Thema Betriebsübergang zu sagen. Jetzt hat es aber etwas gesagt:

Das Recht des Arbeitnehmers, sich einem Betriebsübergang zu widersetzen, sei heilig.

Darum geht es hier: Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 1741/09.

Eigentlich ist der Betriebsübergang ein Job für das BAG und den (mit ihm im Dauerclinch darüber befindlichen) EuGH.

Das hat etwas damit zu tun, dass der Komplex “Betriebsübergang” auf den ersten Blick keine verfassungsrechtlichen Bezüge zu haben schien.

Die Idee, dass ein “Betrieb” von einem neuen “Inhaber” übernommen werden kann, man aber die Arbeitnehmer davor schützen muss, dass sie dann mit dem Neuen auch neu über ihre Arbeitsverträge verhandeln müssen, ist allerdings sicher eine Art Grundrecht, eine Korrektur des zivilrechtlich Selbstverständlichen, aber hier Unerträglichen; geht der Betrieb von der A GmbH an die B GmbH, wird die A GmbH sonst keine Arbeit mehr für die Mitarbeiter haben und kann sie alle feuern. Die Arbeit ist ja jetzt bei der B GmbH. Die will vielleicht nur 85% des bisherigen Entgelts zahlen und keine Frauen, keine Türken, keine Deutschen über 40 Jahre und vor allem keine Juristen mehr beschäftigen. Kann man im letzten Punkt verstehen, ist aber einfach nicht in Ordnung.

Ob diese Situation wirklich die Realitäten beschreibt (wer kauft schon einen Betrieb ohne Arbeitnehmer? Gibt es, wenn man z.B. nur an Patenten interessiert ist…), kann dahingestellt bleiben, denn es wird wenigstens eine Handvoll drastischer Fälle geben, die so oder ähnlich zu nicht tragbaren Resultaten führen.

Deshalb hat uns die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft seinerzeit mit der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG aus dem Jahr 1977 verpflichtet, das irgendwie so zu regeln, dass die Arbeitnehmer nicht unter die Räder kommen.

Das Ergebnis ist – bis heute vielfach modifiziert – eben § 613a BGB. Wenn der Betrieb tatsächlich übernommen wird, erbt der neue Arbeitgeber sozusagen alle Arbeitsverhältnisse wie sie stehen und liegen.

Diese Rechtsnachfolge ist auch in anderen Ländern der Union nicht ganz einfach ins nationale Zivilrecht zu übersetzen. Sieht man in Deutschland etwa vom Erbfall mal ab, kann man nicht einfach mir nichts, dir nichts den Gläubiger aus einem Schuldverhältnis auswechseln. Nach § 613a BGB passiert aber genau das – ohne jedes Zutun der Beteiligten wird aus dem Arbeitsvertrag des ehrlichen Arbeiters mit der A GmbH einer mit der B GmbH, und die erstgenannte verschwindet sang- und klanglos aus dem Schuldverhältnis.

Weil das den an Karl Larenz und Hans Carl Nipperdey geschulten Zivilrechtlern gegen den Strich geht, gibt es in Deutschland seit 1977 das Widerspruchsrecht als Rückkorrektur. Man geht, als Arbeitnehmer, zwar automatisch auf den neuen Inhaber über. Aber man kann es verhindern, indem man widerspricht. Seit das Widerspruchsrecht fristgebunden und an eine ordentliche Belehrung geknüpft ist, scheint es übrigens häufiger ausgeübt zu werden – in Großkonzernen ist das Risiko, dann betriebsbedingt zu fliegen, meist auch nicht so groß.

§ 613a BGB hat ganz viele ‘Schwächen’ – wenn man die Schutzlücken so sehen will – und eine besonders relevante ist, dass die Vorschrift nur einschlägig ist, wenn der Betriebsübergang auf einem Rechtsgeschäft beruht.

Es kommt aber wiederholt vor, dass solche Vorgänge von einem Gesetz angeordnet werden – Privatisierung oder Umstrukturierung staatlicher Einrichtungen ist ein stetig wachsendes Problemfeld.

Vor allem das Gesundheitswesen ist betroffen. Die Berliner Universitätskliniken Charité und Benjamin Franklin zu einer neuen Körperschaft mit dem hirnrissigen Namen “Charité – Universitätsmedizin Berlin – Körperschaft des öffentlichen Rechts” (hoffentlich ging deswegen mindestens eine Kreativagentur in Mitte gründlich pleite) umzuschichten, war ein solcher Vorgang, bei dem auch zahllose Arbeitsverhältnisse betroffen waren. Rechtsgeschäfte sind zu einer solchen Umstrukturierung nicht möglich, der Staat kann sich neue Körperschaften nur über Gesetze schaffen.

Richtig geknallt hat es bei der Fusion der Unikliniken Gießen und Marburg. Hessen litt an einer krassen Überversorgung. Um 1 Mio. Menschen kümmerten sich gleich drei Unikliniken und mindestens vier potente Privatkliniken, jeweils praktisch mit Vollversorgung. Schon die bauliche Instandhaltung überforderte die Landeskasse. Deshalb wurden die Kliniken zunächst zu einer neuen Körperschaft zusammengefasst, dann in eine GmbH umgewandelt, auf diesem Wege schließlich privatisiert. Oder jedenfalls sollte das so sein. Die Mitarbeiter – unbestreitbar kann man eine Klinik weder ohne noch mit irgendwelchen Mitarbeitern betreiben – sollten kraft Gesetzes, wie bei § 613a BGB, auf den neuen Rechträger übergehen.

Schade nur: Das Land war vorher unbegrenzt zahlungsverpflichtet, haftetet für die neue Körperschaft auch in Gewährsträgerhaftung, für die dann gebildete Gesellschaft aber nicht mehr. Der Schuldner/Gläubiger der Mitarbeiter bekam also ein immer schlechteres Rating, von AAA nach BBB+. Aber es fehlte etwas: Das Gesetz zur Umwandlung der Kliniken sah – anders als § 613a BGB – kein Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer vor. Sie konnten entweder mitgehen oder selbst kündigen. Punkt.

Widersprüche gab es trotzdem. Reichlich. Nur in anderer Form. Erst versuchten es Mitarbeiter (das ganze ist natürlich auch ein politischer Kulturkampf in Hessen gewesen) mit einstweiligen Anordnungen beim Bundesverfassungsgericht – und scheiterten im Jahr 2005 damit.

Dann klagten sie bei den Arbeitsgerichten auf Feststellung, dass ihr Arbeitsverhältnis mit dem Land fortbestehe. In der dazugehörigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 18.12.2008, 8 AZR 692/07) wird der Angriff der Kläger auf das streitige Gesetz außerordentlich prägnant zusammengefasst (Rd.-Nr. 19):

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Überleitung ihres Arbeitsverhältnisses vom beklagten Land auf eine Anstalt des öffentlichen Rechts und von dort zu einem privaten Arbeitgeber ohne Einräumung eines Widerspruchsrechts degradiere sie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Dies berühre ihre Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und verstoße gegen ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG).

Es geht also um etwas.

Indes: Die Kläger scheiterten alle. Das BAG hat sich auf den richtigen Standpunkt gestellt, dass § 613a BGB keine Auslegung zulässt, mit der man ihn auf Betriebsübergänge anwenden könne, die nicht auf einer Vereinbarung, sondern auf einem Gesetz beruhen. Damit seien zwar Einschränkungen verbunden, solche Eingriffe in die Art. 1 und 2 GG seien aber durch das Gemeinwohlinteresse geboten, die Freiheit der Berufsausübung sei schon nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht berührt. Das Grundgesetz garantiert nicht, dass man immer Arbeitnehmer des angeblich unbegrenzt zahlungsfähigen Landes bleiben muss. Revisionen zurückgewiesen.

Das BAG hat sich sehr viel Mühe gegeben und ein sehr überzeugendes Urteil geschrieben. Die sich nebenbei aufdrängende Frage, ob das alles nicht zu einer Ungleichbehandlung zwischen Arbeitnehmern im öffentlichen und privaten Dienst führt (mit der schönen Fußnote, dass ausnahmsweise die letzteren besser geschützt sind), wird zwar nicht direkt beantwortet, ist aber so auch gar nicht richtig gestellt. Das Widerspruchsrecht überhaupt zu regeln, wird – wie beim BAG ausführlich dargestellt – schon vom Gesetzgeber weder für alle Fallkonstellationen noch für alle Rechtsträger beabsichtigt und ist auch nicht durch übergeordnetes Recht geboten.

Leider: Falsch.

Die Kläger gaben nämlich in Erfurt nicht auf und legten Verfassungsbeschwerde ein. Und siegten.

Das BVerfG geht davon aus, dass mindestens Art. 12 GG verletzt ist. Und lässt den Gesetzgeber noch einmal neu regeln. Mit Widerspruchsrecht. Der Widerspruch – oder das Recht dazu – ist damit ein Verfassungsgebot.

Damit hatte ganz offenbar keiner gerechnet. Es sind sicher haufenweise teure Gutachten im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens eingeholt worden (kann man jetzt immerhin noch zum Tapezieren benutzen). Außerdem war man sich nach den gescheiterten einweiligen Anordnungen in 2005 ganz, ganz sicher. Tja. Genützt hat es nicht.

Gut oder schlecht?

Schlecht ist:

Im Arbeitsrecht ist so langsam alles eine Frage der Menschenwürde, und das in einem Land, in dem die Menschenwürde nun weiß Gott ganz gut geschützt ist. Warum ist die Weiterbeschäftigung im Kündigungsschutzrecht eine Frage der Menschenwürde? Warum ist die immer verletzt, wenn ich einen Arbeitnehmer freistelle, er aber nicht will, obwohl ich ihn bezahle? Warum muss jetzt auch noch der Widerspruch gegen den Betriebsübergang eine Frage der Menschenwürde oder doch mindestens der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG werden? Nein, das geht einfach nicht. Wir schaffen so eine Arbeitswelt, die schon die kleinsten Kleinigkeiten mit hehren Begriffen belegt, die da einfach nicht hingehören.

Das Grundgesetz als Allkorrektiv für Entscheidungen, die uns einfach politisch oder persönlich nicht passen, von Hartz IV bis – Gott bewahre – zu Stuttgart 21, die aber nun einmal weder gegen Gesetze verstoßen, die im Parlament ausführlich diskutiert wurden, noch unbedingt gegen den gesunden Menschenverstand (dann wäre ja unser Steuerrecht ausnahmslos verfassungswidrig)? “Korrektur” von allem, was jeder X-Beliebige  für sich ganz allein als “sozial ungerecht” und damit definitiv untragbar, wenn auch nur und ganz alleine für ihn ansieht? Die Litigation Society: Wenn ich als Wutbürger nicht gehört werde, gehe ich eben vor Gericht. Und am Ende des Tages wird man mir unter Berufung auf meine Grundrechte schon helfen. In meinem Sinne.

War das wirklich der Sinn der Grundrechte? Kann ich mir einfach nicht vorstellen, wenn ich in andere Teile der Erde oder gar in die Deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 oder in der SBZ zwischen 1945 und 1989 schaue. Grundrechte sind mit Sicherheit eine letzte Zuflucht. Kein Allheilmittel für das Alltagsleben. Ihr permanenter Gebrauch für dasselbe nutzt sie ab und schafft eine “ätsch-bätsch” Rechtskultur, die im Fall der hessischen Unikliniken zu einem gefährlichen Autoritätsverfall führt.

Es kommt eben nicht mehr darauf an, was der Gesetzgeber beschließt (mit der Mehrheit im Parlament), was die Gerichte durch drei (!) Instanzen dazu sagen (entspricht alles den geltenden Gesetzen, die ebenfalls in einem Parlament entstanden sind) – es kommt nur noch darauf an, was das BVerfG dazu sagt. Die “Vorinstanzen” sind ja nur Nixblicker, Verfassungsfeinde und – ätsch – haben jetzt verloren. Bis zur nächsten Runde im Politkampf, wo – bätsch – eben die anderen verlieren.

Unsere sorgsam aufgebauten Institutionen von Landesparlament, Verwaltung, Arbeits-, Landesarbeits- und Bundesarbeitsgericht, die allesamt mit dem Problem befasst waren, sind nur noch Durchlauferhitzer. Muss mich denn die Verfassung wirklich vor allen Lebensrisiken schützen, einschließlich des Risikos, meinen Arbeitgeber zu wechseln? Nein, muss sie nicht und soll sie auch nicht. Die Übersetzung von Grundrechten auf die kleinste Alltagsebene birgt die Gefahr, die Grundrechte ebenso zu entwerten wie den Egoismus einzelner der Mehrheit aufzuzwingen. Nein, Du darfst nicht privatisieren, weil ich, Krankenpflegerin X das nicht will. Egal, dass das Parlament es anders sieht. Egal, dass 3 Unikliniken für 1 Mio. Menschen unbezahlbar sind. Egal, dass das Geld an allen anderen Stellen fehlt. Egal, dass es um eine vergleichsweise Bagatelle geht: Niemand sollte durch das Gesetz schließlich seine Existenz verlieren.

Gut ist aber:

Der Gesetzgeber ist eben ein amorphes Gebilde. Er will auch ganz gerne mal einen Coup landen, vor allem auf Landesebene, wo er sich als Herr im Haus fühlt und ein paar Kumpels das ganz sachnah untereinander ausmachen können. Da ist es doch naheliegend, augenzwinkernd mal so zu tun, als könne man im luftleeren Raum arbeiten. Weil ja z.B. – genialer Schachzug – § 613a BGB eben nicht bei gesetzlichen Betriebsübergängen gilt. Sollen doch die doofen Privaten sich mit so was rumschlagen, sollen doch Telekom, Post, Postbank oder Siemens, Daimler und Volkswagen an der Vorschrift verzweifeln – wir, das Land, sind ja davor gefeit.

Die Haltung ist allerdings auch zum Weinen. Es gibt sie immer wieder und Friedrich Merz hat sie mal mit “Arroganz der Macht” umschrieben. Der Inhaber der Parlamentsmehrheit macht etwas ganz und gar Prinzipienloses und hohnlächelnd gegen alle Kritik nur deshalb, weil es eben geht. Berlin, NRW und Brandenburg (um nur ein Beispiel zu nennen) bringen es seit 1995 fertig, aus purer Machtarroganz heraus ein Diktum des BVerfG zum Personalvertretungsrecht zu ignorieren, obwohl es an den Grundfesten der Staatsorganisation rüttelt.

Das alles geht auch nicht, und natürlich auch nicht in Hessen. Insofern ist die Entscheidung des BVerfG jetzt doch sehr schön. Die Vorbehalte bleiben natürlich. Vor allem, wenn man mal sieht, wie ratlos nun alle vor der bereits vollzogene Privatisierung stehen (hier die Frankfurter Rundschau und hier die FAZ, die von einer “Ohrfeige” spricht, ein leider auch langsam abgenutzter Begriff).

Arbeitsrecht ist eben nun einmal die Königsdisziplin. Wir haben alles – von Sex bis Grundrechte.