Urteil des VG Wiesbaden vom 28.01.2008

VG Wiesbaden: ausweisung, aufschiebende wirkung, freizügigkeit der arbeitnehmer, schutz der gesundheit, verteidigung der ordnung, persönliche verhältnisse, öffentliche ordnung, straftat, emrk

1
2
Gericht:
VG Wiesbaden 4.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 G 1417/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 53 AufenthG, § 56 AufenthG,
Art 8 MRK, Art 3 EuNiederlAbk,
Art 6 GG
Ausweisung eines Ausländers wegen Begehung eines sog.
"Ehrenmordes".
Tenor
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,-- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der am 00.00.0000 in der Türkei geborene Antragsteller ist türkischer
Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er hat drei ältere Schwestern
sowie vier jüngere Geschwister. Der Antragsteller reiste am 23.10.1987 mit seinen
Eltern und Geschwistern in das Bundesgebiet ein. Die durchgeführten
Asylverfahren blieben alle ohne Erfolg. Der diesbezügliche letzte Bescheid vom
11.04.1994 erlangte am 01.09.1995 Bestandskraft. Aufgrund eines damals
bestehenden Abschiebungsverbotes wurde dem Antragsteller am 30.01.1996
erstmals eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, die anschließend regelmäßig verlängert
wurde. Am 10.12.2003 wurde dem Antragsteller dann eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis erteilt, die seit dem 01.01.2005 als Niederlassungserlaubnis
fortbestand. Am 08.07.2002 heiratete der Antragsteller in der Türkei eine türkische
Staatsangehörige, die im Rahmen der Familienzusammenführung am 28.01.2003
in das Bundesgebiet einreiste. Am 24.11.2003 wurde eine Tochter geboren, am
25.12.2004 eine weitere. Der Antragsteller lebte bis zu seiner Inhaftierung mit
seiner Ehefrau und den zwei Töchtern mietfrei im Haus der Eltern des
Antragstellers, wo die Ehefrau mit den zwei Töchtern derzeit immer noch wohnt.
Mit inzwischen rechtskräftigem Urteil des Landgerichts B-Stadt vom 23.08.2006
(Az.: ... Js .../…) wurde der Antragsteller wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer
Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag
ein so genannter "Ehrenmord" zugrunde. Eine Schwester des Antragstellers (C.)
war einem in Großbritannien lebenden Cousin des Antragstellers versprochen
worden und sollte diesen heiraten. Sie verliebte sich aber in einen anderen Mann
(Y.), der mit einer weiteren Schwester des Antragstellers (D.) nach kurdischem
Recht verheiratet war. Als die offizielle Verlobung zwischen C. und dem Cousin in
Großbritannien stattfinden sollte, flohen C. und Y. vermutlich im Frühsommer
2003. Im Familienclan A. wurde daraufhin "zur Wiederherstellung der Familienehre"
beschlossen, Y. und C. zu töten. Für die Durchführung dieser Handlung wurden der
Antragsteller sowie zwei Cousins von ihm ausersehen. Nach langer Suche wurden
Y. und C. schließlich in H entdeckt und von dem 1980 geborenen E., dem 1988
geborenen F. und dem Antragsteller am 21.05.2004 aufgesucht. E. und der
Antragsteller drangen in die verbarrikadierte Wohnung ein und E. feuerte
zahlreiche Schüsse auf Y. ab, der tödlich getroffen wurde. Auf die hochschwangere
Schwester des Antragstellers, C., wurde dann nicht mehr geschossen. Die Täter
wurden noch am 22.05.2004 festgenommen. Der Antragsteller wurde zu der
bereits erwähnten Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, der
3
4
5
6
7
8
9
10
11
bereits erwähnten Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, der
Todesschütze zu lebenslanger Freiheitsstrafe und F. zu einer Jugendstrafe von drei
Jahren.
Mit Verfügung vom 15.11.2007 verfügte die Antragsgegnerin gemäß § 53 Nr. 1
AufenthG die unbefristete Ausweisung des Antragstellers aus dem Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland. Gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO wurde die sofortige
Vollziehung der Ausweisung angeordnet. Zur Begründung wurde auf die vom
Antragsteller begangene Straftat und seine Verurteilung dafür abgestellt. Des
Weiteren wurde näher begründet, dass die Voraussetzungen für die Annahme
eines Ausnahmefalls von der Regelausweisung nicht gegeben seien. Mit der
Ausweisung werde auch weder gegen Art. 8 EMRK noch gegen Art. 3 Abs. 3 des
Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) verstoßen. Schließlich seien auch
keine rechtlichen oder tatsächlichen Hinderungsgründe für eine Ausweisung im
Sinne der §§ 60, 60 a Abs. 1 und 2 AufenthG erkennbar.
Der Antragsteller hat am 17.12.2007 Klage erhoben (4 E 1415/07) und zugleich
um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung trägt er vor, er sei
verheiratet, habe zwei Kinder, beherrsche die deutsche Sprache und fühle sich als
Deutscher. Bis zu der Verurteilung durch das Landgericht B-Stadt sei er unbestraft
gewesen und es gebe keinerlei Hinweise auf eine Neigung zur Gewaltausübung.
Bei der von ihm begangenen Tat habe es sich um ein punktuelles Ereignis
gehandelt; er selbst habe auch nicht geschossen. Das auf Ersuchen der JVA K
erstattete Gutachten der Diplompsychologin M. komme unter anderem zu dem
Ergebnis, dass die verübte Straftat nicht das Resultat von Frustration oder
Unzufriedenheit sei; vielmehr sei sie vor dem Hintergrund des Loyalitätskonflikts
zur eigenen Familie zu verstehen. Sie habe ausgeführt, dass derzeit die
Wahrscheinlichkeit erneuter schwerwiegender Gewaltdelikte gegen Leib und Leben
als sehr gering einzustufen sei. Zu demselben Ergebnis sei der Diplom-Psychologe
T. in seinem psychologischen Prognose-Gutachten vom 17.09.2007 gelangt, der
ausgeführt habe, dass in der Gesamtschau eine Rückfallgefährdung als höchst
unwahrscheinlich zu bewerten sei. Er - der Antragsteller - habe auch die Haftzeit
für sich genutzt und werde voraussichtlich im März 2008 den Realabschluss
schaffen. Vor diesem Hintergrund sei die Ausweisungsverfügung rechtswidrig. Er -
der Antragsteller - werde durch den Bescheid in seiner Rechtsposition aus Art. 7
ARB 1/80 verletzt. Zudem werde er auch in seinen Rechten aus Art. 3 ENA verletzt.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage (4 E 1415/07) gegen die
Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15.11.2007 wiederherzustellen
sowie die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid vom
15.11.2007, soweit er die Abschiebung androhe, anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie verweist in ihrem Vortrag zum parallelen Klageverfahren auf den Inhalt der
Verfügung vom 15.11.2007 und weist ergänzend darauf hin, dass der Antragsteller
noch in einem Haushalt lebe, in dem die Blutrache zur Ehrenrettung der Familie
eine große Rolle spiele. Es müsse trotz aller Beteuerungen des Antragstellers
davon ausgegangen werden, dass er sich aufgrund der hierarchischen Strukturen
innerhalb seines Kulturkreises zu einer erneuten Tat hinreißen lasse. Die
Ausweisung sei zudem auch aus Gründen der Generalprävention angezeigt, damit
nicht andere potentielle Täter Anreiz fänden, Blutrache auszuüben. Erschwerend
komme noch hinzu, dass der Antragsteller den Haupttäter nicht davon habe
abhalten können oder wollen, dass der noch jugendliche Mittäter, F., als
Haupttäter auftreten solle, um den beiden anderen Tätern eine langjährige Strafe
zu ersparen. Dies sei ein schädliches Verhalten und könne von der Öffentlichkeit
nicht geduldet werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten Bezug genommen. Die Behördenakten (2 Ordner) haben
vorgelegen und sind bei der Entscheidung berücksichtigt worden.
II.
Der zulässige Antrag ist nicht begründet, weil das öffentliche Interesse an einer
alsbaldigen Aufenthaltsbeendigung die privaten Aufschubinteressen des
12
13
14
15
16
alsbaldigen Aufenthaltsbeendigung die privaten Aufschubinteressen des
Antragstellers überwiegt.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisung wurde von der
Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 3 VwGO ordnungsgemäß gesondert schriftlich
begründet. Auch hat sie ein besonderes Vollzugsinteresse im Sinne des § 80 Abs.
2 Nr. 4 VwGO dargetan, indem sie darauf hinweist, dass beim Antragsteller eine
Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen sei, der nur durch eine schnelle
Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet entgegengewirkt werden könne.
Auch aus generalpräventiven Gründen sei eine rasche Ausweisung erforderlich. Auf
die Ausführungen auf Seite 12, 13 der Verfügung vom 15.11.2007 wird
hingewiesen.
Die danach vorzunehmende summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der
angegriffenen Verfügung lässt diese insgesamt als rechtmäßig erscheinen. Der
Antragsteller ist mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts B-Stadt vom
23.08.2006 wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer Jugendstrafe von fünf
Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Damit erfüllt er die Voraussetzungen
des § 53 Nr. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer ausgewiesen wird, wenn er wegen
einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder
Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
Zugunsten des Antragstellers greift auch nicht der besondere Ausweisungsschutz
nach § 56 AufenthG. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genießt ein
Ausländer, der - wie der Antragsteller - eine Niederlassungserlaubnis besitzt und
sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
besonderen Ausweisungsschutz. Dies führt dazu, dass er nur aus
schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen
werden darf (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen der §§ 53 und
54 Nr. 5, Nr. 5a und 7 AufenthG vor (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Beim
Antragsteller ist der Fall des § 53 Nr. 1 AufenthG gegeben, so dass er unter die
Regelung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG fällt. Mit dieser Regelung wollte der
Gesetzgeber klarstellen, dass auch Ausländer, die einen besonderen
Ausweisungsschutz genießen, bei schwerwiegenden Straftaten diesen Schutz
verlieren und mit einer Ausweisung zu rechnen haben. Der Gesetzgeber hat damit
zum Ausdruck gebracht, dass in den Fällen einer "Ist-Ausweisung" regelmäßig das
öffentliche Interesse an der Erhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung eine
Ausweisung des Ausländers erfordert und dieses öffentliche Interesse -
gleichgültig, ob es die spezial- oder generalpräventive Zielrichtung der Ausweisung
anbelangt - ein deutliches Übergewicht im Verhältnis zu dem vom Gesetzgeber
bezweckten Schutz des Ausländers besitzt. Die gesetzliche Regelung bringt somit
auch zum Ausdruck, dass bei der Verwirklichung eines Tatbestandes im Sinne von
§ 53 AufenthG im Regelfall auch schwerwiegende generalpräventive Gründe für
eine Ausweisung gegeben sind.
Diese vom Gesetzgeber für den Regelfall vorgenommene gesetzliche Wertung
bedarf im Falle des Antragstellers keiner Korrektur. Ein Ausnahmefall ist nämlich
nicht gegeben. Weder die Art der der angefochtenen Ausweisung zugrunde
liegenden Straftat noch die Art und Weise der Tatausführung lassen
Besonderheiten erkennen, die es rechtfertigen könnten, die generalpräventiven
Erwägungen zurückzustellen. Bei der vom Antragsteller begangenen Straftat
handelt es sich um ein Delikt der Schwerstkriminalität. Der Mord an Y. wurde
hinterhältig und auf brutalste Art und Weise ausgeführt. Ein solcher so genannter
"Ehrenmord", den der Antragsteller in Mittäterschaft begangen hat, widerspricht in
höchstem Maße den Wertvorstellungen einer zivilisierten Welt. Ein solches Delikt
erfordert in besonderem Maße eine kontinuierliche Ausweisungspraxis zur
Abschreckung anderer Ausländer. Liegt wie hier bereits aus generalpräventiver
Sicht kein Ausnahmefall vor, kann darauf verzichtet werden zu prüfen, ob
möglicherweise aus spezialpräventiver Sicht eine Atypik gegeben ist. Damit die
Regelrechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eintritt, ist es nämlich
erforderlich, dass in Bezug auf beide Ausweisungszwecke ein Ausnahmefall
gegeben ist (so Hess. VGH, InfAuslR 1999, 405). Als Zwischenergebnis ist daher
festzuhalten, dass im Falle des Antragstellers schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Ausweisung rechtfertigen.
Als weitere Folge des erhöhten Ausweisungsschutzes darf ein Ausländer, der die
Voraussetzungen des § 53 AufenthG erfüllt, nur "in der Regel" ausgewiesen werden
(§ 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Dies bedeutet, dass eine Ausweisung nur
17
18
19
(§ 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Dies bedeutet, dass eine Ausweisung nur
unterbleiben darf, wenn ein Sachverhalt so erheblich von der gesetzlich
vorausgesetzten Normalsituation abweicht, dass die Ausweisung ungerecht und
insbesondere unverhältnismäßig erscheint. Eine derartige Ausnahme kann mit
Rücksicht auf besondere Umstände der Tat oder besondere persönliche
Verhältnisse bei einem Täter angenommen werden. Hierbei sind neben spezial-
und generalpräventiven Überlegungen alle Umstände zu berücksichtigen, die in
eine Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG einzubeziehen sind,
insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten. Ferner kann ein
Ausnahmefall vorliegen, wenn der Ausweisung auch unter Berücksichtigung des
besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 AufenthG höherrangiges Recht
entgegensteht, diese insbesondere mit verfassungsrechtlichen
Wertentscheidungen nicht vereinbar ist.
Zunächst weist die vom Antragsteller begangene Straftat - wie ausgeführt - weder
in der Art noch in den Ausführungen Besonderheiten auf, die ein Abweichen von
der gesetzlichen Regel rechtfertigen könnte. Auch im Hinblick auf die persönlichen
Verhältnisse des Antragstellers liegen keine Besonderheiten vor. Der Umstand,
dass der Antragsteller seit seinem zweiten Lebensjahr in der Bundesrepublik
Deutschland lebt, er sich als Deutscher fühlt, hier mit einer türkischen
Staatsangehörigen verheiratet ist und zwei Kinder mit ihr hat, vermag ebenso
wenig einen Ausnahmefall von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG
begründen, wie der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise seinen
Realschulabschluss erreichen könnte. Dies alles sind Umstände, die nicht als so
außergewöhnlich anzusehen sind, dass deswegen ein Abweichen von der
gesetzlichen Regel geboten wäre.
Beim Antragsteller liegt auch im Hinblick auf höherrangiges Recht kein
Ausnahmefall vor. So ist zum einen kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG gegeben,
nach dem der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat. Dem Aspekt
der Familie wird bereits dadurch Rechnung getragen, dass Ausländern, die mit
einem deutschen Familienangehörigen - diese Voraussetzung erfüllt der
Antragsteller nicht einmal - in familiärer Lebensgemeinschaft leben, erhöhter
Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zugebilligt wird. Liegen außer
der familiären Lebensgemeinschaft keine weiteren Besonderheiten vor, bleibt kein
Raum für eine darüber hinausgehende Berücksichtigung.
In Bezug auf Art. 8 EMRK hat das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung
vertreten, dass die Systematik der Ausweisungstatbestände des
Ausländergesetzes dem Art. 8 EMRK gerecht wird (BVerwG, DVBl. 1998, 1028;
Hess. VGH, NVwZ-RR 1997, 126). Diese Einschätzung kann auch auf das jetzige
Aufenthaltsgesetz übertragen werden, so dass schon danach die Ausweisung des
Antragstellers im Einklang mit den §§ 53 ff. AufenthG steht. Selbst wenn man aber
gleichwohl im vorliegenden Fall Art. 8 EMRK heranzieht, ist kein Verstoß gegen
diese Norm ersichtlich. Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf
Achtung u. a. seines Privat- und Familienlebens. Absatz 2 dieser Regelung schützt
vor Eingriffen einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts, indem er
solche Eingriffe unter Gesetzesvorbehalt stellt und auf das in einer
demokratischen Gesellschaft bestehende dringliche soziale Bedürfnis zur Wahrung
der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ruhe und Ordnung, des wirtschaftlichen
Wohles des Landes, der Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum
Schutz der Rechte und Freiheiten anderer beschränkt. Soweit sich der
Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK mit denen des Art. 6 GG deckt, vermittelt er
keinen weitergehenden Schutz als dieser (BVerwGE 106, 13). Dem in Art. 8 Abs. 2
EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es aber auch im
Hinblick auf die Folgen für den Ausländer selbst widersprechen, durch behördliche
Maßnahmen die Voraussetzungen für ein weiteres Zusammenleben mit im
Vertragsstaat ansässigen Familienangehörigen zu beseitigen. Ein wesentlicher
Umstand für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit stellt u. a. die Schwere der
vom Ausgewiesenen begangenen Straftaten dar. Diese beurteilt sich nach der
Höhe der verhängten Strafe und nach der Art der Straftat. Ein weiterer Aspekt für
die Verhältnismäßigkeit stellt die familiäre Situation des Ausländers dar; letztlich
ist es noch von Bedeutung, inwieweit der Ausgewiesene noch einen Bezug zu dem
Staat seiner Staatsangehörigkeit besitzt. Unter dem Aspekt der Begehung der
Straftat und der näheren Tatumstände, ist die Ausweisung - wie sich aus den
obigen Ausführungen ergibt - als verhältnismäßig anzusehen. Im Hinblick auf die
familiäre Situation des Antragstellers ist auf ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24.04.1996 (15/1995/522/608) zu
20
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24.04.1996 (15/1995/522/608) zu
verweisen, wonach die Ausweisung eines Ausländers, der verheiratet oder Vater
vom im Inland geborenen Kindern ist, nicht generell und unabhängig von den
weiteren Umständen des Falles insbesondere der Schwere der von ihm
begangenen Straftaten als unverhältnismäßig anzusehen ist. Der Antragsteller hat
auch noch zahlreiche Familienangehörige in der Türkei, so dass im Hinblick auf die
Zumutbarkeit einer Integration in die dortigen Lebensverhältnisse keine Bedenken
bestehen.
Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg auf eine Verletzung seiner
Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 durch den angefochtenen Bescheid berufen.
Das sich aus dieser Norm ergebende Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer
kann nämlich nach Maßgabe des Art. 14 ARB 1/80 eingeschränkt werden. Dies hat
der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 04.10.2007 (NVwZ 2008, 59)
entschieden und ausgeführt, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80
dahingehend auszulegen sei, dass er der Ausweisung eines türkischen
Staatsangehörigen, der mehrfach strafrechtlich verurteilt wurde, nicht
entgegensteht, vorausgesetzt, dass dessen persönliches Verhalten eine
tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse
der Gesellschaft berührt. Diese Voraussetzungen liegen nach Überzeugung der
Kammer vor. Der brutale Mord an einem Menschen, der lediglich ein
selbstbestimmtes Leben führen wollte, und das persönliche Verhalten des
Antragstellers bei dieser Tat stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere
Gefährdung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne der
Rechtsprechung des EUGH berührt. Der Antragsteller kann in diesem
Zusammenhang auch nicht damit gehört werden, dass von ihm keine Gefahr
ausgehe, da eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen sei. Die Kammer ist
vielmehr der Ansicht, dass trotz des Ergebnisses der beiden psychologischen
Gutachten eine Wiederholungstat nicht ausgeschlossen werden kann. Dies ergibt
sich aus Folgendem: Ausweislich des strafgerichtlichen Urteils des Landgerichts B-
Stadt ist die Tötung des Y. von den drei ältesten Clanmitgliedern des A.-Clans, zu
denen auch der Vater des Antragstellers gehört, beschlossen worden. Der
Todesschütze und auch der Antragsteller haben sich lange dagegen gewehrt, der
Aufforderung zur Tötung des Y. und der Schwester C. des Antragstellers
nachzukommen. In dem Gutachten der Diplom-Psychologin M. vom 06.06.2007
wird ausgeführt: "Der Kläger lehnt Gewalt ab, was nicht gleichzusetzen ist mit
seiner Haltung, die Autorität und Macht des Vaters in Frage zu stellen." Im
Förderplan der JVA vom 23.05.2007 heißt es: "Traditionen spielten insoweit eine
Rolle, als man Respekt vor den Eltern und Älteren grundsätzlich habe und man auf
ein harmonisches Zusammenleben Wert lege." (Bl. 164 d. A.). Im Rahmen der
Begutachtung durch Frau M. hat der Antragsteller auf Nachfrage zur Erziehung
durch seine Eltern erklärt, eigentlich sei er, der Antragsteller, ein schüchterner
Mensch, der schnell nachgebe. Er habe oft keine Lust sich durchzusetzen (Bl. 173
d. A.). Auf Seite 46 (Bl. 198 d. A.) des Gutachtens von Frau M. wird des Weiteren
ausgeführt, der Antragsteller habe, obwohl er Bedenken gegen den "Ehrenmord"
gehabt habe, keinen Widerstand geleistet. Er habe insgeheim gehofft, nur ganz
am Rande beteiligt zu werden. - Dies alles belegt nach Auffassung der Kammer,
dass sich der Antragsteller auch einem erneuten Auftrag zur Begehung eines
"Ehrenmordes" durch ein Familienoberhaupt nicht entziehen könnte und würde.
Bestätigt wird dies durch die Ausführungen im Strafurteil des Landgerichts B-
Stadt, wo ausgeführt wird, dass es innerhalb der bestehenden Großfamilie, zu der
der Antragsteller gehört, bestimmte Traditionen und Wertbegriffe gebe. Es handele
sich um ein patriarchalisch geprägtes System, das eine strenge Hierarchie
aufweise, aufgebaut auf Befehl und Gehorsam. Dabei übten die ranghöchsten
ältesten männlichen Familienmitglieder die Macht aus. Soweit der Teil der Sippe
hier in Deutschland lebe, bewegten sie sich ebenfalls noch in diesem
übergeordneten System. Vor Ort würden die ältesten Clan-Mitglieder entscheiden,
zu denen auch der Vater des Antragstellers gehöre. Sie seien autorisiert,
Entscheidungen zu treffen und nachgeordnete Clan-Mitglieder anzuweisen. Dies
gelte insbesondere auch, wenn es darum gehe, von ihnen getragene Wertbegriffe,
insbesondere auch familiäre Verbindungen, durchzusetzen (S. 17 und 18 des
Strafurteils = Bl. 85/86 d. A.). Auch dies belegt, dass eine Wiederholungstat durch
den Antragsteller auf Anweisung etwa seines Vaters nicht ausgeschlossen werden
kann. Die Diplom-Psychologin M. bescheinigt im Übrigen auch nur, dass "derzeit"
die Wahrscheinlichkeit erneuter schwerwiegender Gewaltdelikte gegen Leib und
Leben als sehr gering einzustufen sei (Bl. 199 d. A.). Zu berücksichtigen ist in
diesem Zusammenhang zudem, dass die Anforderungen an das Bestehen einer
Wiederholungsgefahr je geringer anzusehen sind, je gravierender die begangene
Straftat war. Aus der dargelegten Vorgeschichte des Antragstellers ergibt sich
21
22
23
24
Straftat war. Aus der dargelegten Vorgeschichte des Antragstellers ergibt sich
auch, dass er sich noch nicht aus dem Familienverband gelöst hat; dieser Aspekt
begründet ebenfalls das Bestehen einer Wiederholungsstraftat.
Schließlich steht der Ausweisung des Antragstellers auch Art. 3 Abs. 3 des
Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) nicht entgegen. Nach Art. 3 Abs.
3 ENA dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, die seit mehr als zehn
Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen
Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit des Staates, oder wenn
die übrigen in Abs. 1 aufgeführten Gründe besonders schwerwiegend sind,
ausgewiesen werden. Art. 3 Abs. 1 ENA nennt als solche Gründe die Gefährdung
der Sicherheit des Staates oder Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder die
Sittlichkeit. Aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt sich, dass in der
Person des Antragstellers Gründe im Sinne des Art. 3 Abs. 1 ENA vorliegen und
diese auch besonders schwerwiegend sind; auf die diesbezüglichen Ausführungen
wird Bezug genommen. Gleiches gilt im Hinblick auf die anzustellende Prognose im
Hinblick auf die in der Zukunft vom Betroffenen ausgehenden Gefahren; insoweit
wird auf die zuvor gemachten Darlegungen zur Wiederholungsgefahr im Falle des
Antragstellers verwiesen.
Der angefochtene Bescheid vom 15.11.2007 begegnet auch im Übrigen keinen
rechtlichen Bedenken. Die Antragsgegnerin hat in dieser Verfügung alle
tatsächlichen und rechtlichen Aspekte, die für den vorliegenden Fall von
Bedeutung sind, angesprochen und in nicht zu beanstandender Weise
abgehandelt. Die Kammer folgt der Begründung des Bescheides vom 15.11.2007
und sieht daher analog § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der
Gründe ab.
Als unterliegender Beteiligter hat der Antragsteller gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die
Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG. Für die
Ausweisungsverfügung wurde der so genannte Regelstreitwert von 5.000,-- €
zugrunde gelegt und dieser Betrag im Hinblick auf die Vorläufigkeit des begehrten
Rechtsschutzes mit der Hälfte in Ansatz gebracht.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.