Urteil des VG Wiesbaden vom 02.02.2007

VG Wiesbaden: bundesamt für migration, asyl, afghanistan, widerruf, anerkennung, vollstreckung, präsenz, vergleich, distrikt, unhcr

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Gericht:
VG Wiesbaden 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 E 717/06.A(1)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 53 Abs 6 S 1 AuslG, § 73 Abs
3 AsylVfG, § 60 Abs 7
AufenthG
Asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan,
Prüfung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 16.05.2006 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung
abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in
entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Der am 22.05.1985 geborene Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste
am 25.08.2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er sodann einen
Asylantrag stellte. Durch Bescheid vom 15.10.2003 lehnte das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge) das Asylbegehren ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen nach
§§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht gegeben sind. Hierauf erhob der Kläger Klage vor dem
Verwaltungsgericht Wiesbaden.
Durch Urteil vom 08.04.2004 (7 E 2647/03.A(V)) verpflichtete das Gericht das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge festzustellen, dass für
den Kläger hinsichtlich Afghanistans Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6
S. 1 AuslG vorliegen. Durch Bescheid vom 25.10.2004 stellte das Bundesamt
dementsprechend fest, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG
hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Nach vorangegangener Anhörung widerrief das Bundesamt durch Bescheid vom
16.05.2006 die mit Bescheid vom 25.10.2004 getroffene Feststellung, dass die
Voraussetzung des § 50 Abs. 6 AuslG vorliegen. Zur Begründung führte das
Bundesamt u. a. aus, die Voraussetzungen für die Feststellung eines
Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 AufenthaltG)
lägen nicht mehr vor. Die Sicherheits- und Versorgungslage habe sich
dahingehend gebessert und stabilisiert, dass es möglich sei, im Großraum Kabul
eine Existenz aufzubauen.
Auf den am 18.05.2006 zur Post gegebenen Bescheid hat der Kläger am
26.05.2006 Klage erhoben.
Der Kläger ist der Ansicht, der ausgesprochene Widerruf sei rechtswidrig, denn die
Situation in Afghanistan und hier insbesondere in Kabul habe sich zwischen 2004
und 2006 nicht verbessert.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 16.05.2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt des angegriffenen Bescheides.
Dem Gericht haben in der mündlichen Verhandlung die Gerichtsakte und zwei
Bände Behördenakten vorgelegen. Gegenstand der mündlichen Verhandlung sind
darüber hinaus die den Beteiligten mit der Ladung bekannt gegebenen Materialien
gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom
16.05.2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die
gesetzlichen Voraussetzungen für den Widerruf der Feststellung über das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 S. 1
AufenthG) sind nicht gegeben.
Gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG ist u. a. die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 7 AufenthaltG vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht
mehr vorliegen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (InfAuslR 2006, 244;
InfAuslR 2001, 53) ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der
Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur
vorübergehend derart verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in
seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen
Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.
Angesichts des Umstandes, dass der Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylVfG dem des §
73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Wesentlichen entspricht, ist auch nach diesen
Grundsätzen über den Widerruf von Abschiebungsverboten zu befinden.
Legt man allein die Lageberichte des Auswärtigen Amtes (AA) vom 06.08.2003
und 13.07.2006 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen
Republik Afghanistan zu Grunde, so kann nicht festgestellt werden, dass sich die
maßgeblichen Verhältnisse erheblich verändert hätten.
So heißt es etwa in dem Lagebericht vom 06.08.2003: "Die Sicherheitslage hat
sich für afghanische Staatsangehörige weiterhin landesweit nicht verbessert, in
mancher Beziehung sogar verschlechtert. Im Raum Kabul ist sie aufgrund der
ISAF-Präsenz vergleichsweise zufriedenstellend, bleibt jedoch fragil; sie wurde vom
UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) seit Mitte 2002 für
freiwillige Rückkehrer als "ausreichend sicher" bezeichnet."
In Lagebericht des AA vom 13.07.2006 heißt es zur Sicherheitslage: "Die
Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Sie variiert von Distrikt
zu Distrikt. Während terroristische Aktivitäten im Süden und Osten des Landes aus
zumeist ideologischen Motiven direkt gegen die Zentralregierung bzw. die
internationale Gemeinschaft gerichtet sind, kann die Sicherheitslage im Norden
und Westen durch rivalisierende lokale Machthaber und Milizenführer, die häufig in
Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind,
beeinträchtigt sein. Die Sicherheitssituation wird auch von der wachsenden
Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise mit der bisherigen Regierungspolitik,
aber auch aus der – insbesondere mit der Drogenwirtschaft verbundenen –
zunehmenden Kriminalität und den Aktivitäten illegaler Milizen bestimmt. Nach
Statistik einer nicht näher überprüfbaren Quelle ist es im Jahr 2005 zu rund 500
Fällen geplanter oder umgesetzter Sprengstoffanschläge gekommen, bei denen
ca. 100 Personen ums Leben kamen. Dies würde eine ca. 63 %igen Steigerung im
Vergleich zum Vorjahr bedeuten."
Zur Sicherheitslage im Raum Kabul, aus dem der Kläger stammt, heißt es im
Lagebericht vom 13.07.2006: "Im Raum Kabul bleibt sie weiter fragil, auch wenn sie
aufgrund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufriedenstellend ist. Sie wurde
vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) seit Mitte 2002 für
freiwillige Rückkehrer als "ausreichend sicher" bezeichnet. Die Zahl der
Auseinandersetzungen wegen besetzten oder entzogenen Grundeigentums steigt.
Oftmals sind Exilafghanen bzw. Rückkehrer einbezogen. Gelegentlich kommt es in
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Oftmals sind Exilafghanen bzw. Rückkehrer einbezogen. Gelegentlich kommt es in
Kabul zu Raketenbeschuss (so zuletzt im April 2006, als eine Rakete bei dem
afghanischen staatlichen Radio- und Fernsehsender RTA einschlug). Es gibt
Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften. Gruppen von Angehörigen der
Sicherheitskräfte begehen bewaffnete Raubüberfälle oder Diebstähle."
Liegen hiernach bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 3
AsylVfG nicht vor, so bedarf es vorliegend nicht der Auseinandersetzung mit der
Frage, ob auch im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts
Wiesbaden vom 08.04.2004 (vgl. § 121 VwGO) der Bescheid der Beklagten vom
16.05.2006 als rechtswidrig gewertet werden müsste (vgl. in diesem
Zusammenhang BVerwG InfAuslR 2002, 207).
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO in Verbindung mit § 167 VwGO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.