Urteil des VG Stuttgart vom 11.10.2016

genfer flüchtlingskonvention, china, schule, persönliche anhörung

VG Stuttgart Urteil vom 11.10.2016, A 11 K 1508/16
Leitsätze
Die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft notwendige Verfolgungswahrscheinlichkeit kann sich bei
exilpolitischen Betätigungen in nicht herausgehobener Stellung auch aus den Gesamtumständen des Einzelfalls
ergeben.
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der
Beklagten vom 04.03.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage
abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Klägerin ist chinesische Staatsangehörige, dem Volk der Uiguren zugehörig und muslimischen Glaubens.
Sie reiste nach eigener Aussage am 11.12.2012 mittels eines Visums von Ürümqi nach Istanbul in die Türkei.
Von dort aus reiste sie am 22.12.2012 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte
am 21.01.2013 einen Asylantrag.
2 Nach persönliche Anhörung vom 15.09.2015 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.03.2016 die Anträge
auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) und Asylanerkennung (2.) sowie jenen auf Gewähr
subsidiären Schutzes ab (3.). Sie stellte weiter fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG
nicht bestehen (4.) und forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen ab Bekanntgabe der
Entscheidung zu verlassen. Für den Fall des Verbleibes drohte sie der Klägerin die Abschiebung in die
Volksrepublik China an (5.). Schließlich befristete die Beklagte das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11
Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (6.).
3 Dagegen hat die Klägerin am 14.03.2016 Klage erhoben.
4 Die Klägerin erklärt, die Situation in ihrem Heimatland sei zuletzt sehr tragisch gewesen. Am 06.02.2012 sei
sie wie üblich zur Schule gegangen. Ihre Schule sei eine chinesische Schule gewesen. Dann hätte es eine
Demonstration der Chinesen gegen die Uiguren in der Nähe der Schule gegeben. Die Schüler durften darum
nicht selbständig die Schule verlassen. Sie habe ihre Eltern auf dem Handy angerufen, um abgeholt zu
werden. Ihre Mutter hätte sie später zurückgerufen. Sie seien kurz vor der Schule, kämen aber nicht weiter,
weil es eine Schlägerei gäbe. Die Klägerin müsse sich noch etwas gedulden. Das sei der letzte Kontakt
gewesen. Ihre Eltern seien nie bei der Schule angekommen und seien seitdem verschollen. Sie sei weiter zur
Schule gegangen und habe ihren Schulkameraden gegenüber geäußert, dass die Chinesen schuld am
Verschwinden ihrer Eltern seien. Im Anschluss habe die Polizei begonnen nach ihr zu suchen. Sie sei in die
Klasse gekommen und habe ihr Bilder von Schulkameraden gezeigt, die ebenfalls ihre Eltern bei staatlichen
Säuberungen verloren hätten. Sie hätte ausgesagt, die Personen nicht zu kennen. Zwei Wochen später sei
sie zur Polizeibehörde gebracht worden. Dort habe man ihr vorgehalten, die Personen auf den Bildern doch
zu kennen. Sie möge sich in der Schule umhören, ob jemand gegen die Chinesen sei. Dann könne man ihr
eventuell auch helfen, ihre Eltern wieder zu finden. Im Weiteren habe ein Polizeibeamter ihr nachgestellt
und sie wiederholt bedrängt. Der Beamte hätte sie auch unsittlich berührt. Der letzte Kontakt mit der
Polizei habe sich in der ersten Septemberwoche ereignet. Erneut sei sie auf die Wache gebracht worden.
Man habe ihr vorgeworfen, nicht zu kooperieren und ihr gesagt, man könne mit ihr machen, was man wolle,
sie etwa einsperren, foltern oder schlagen. Bei dieser Gelegenheit sei sie geschlagen worden. Danach sei sie
für einen Monat im Krankenhaus gewesen und nur noch ab und zu zur Schule gegangen. Wenn sie in China
geblieben wäre oder dorthin zurückgeschickt würde, würde die Polizei sie vergewaltigen und foltern. In
China habe sie sich nicht politisch engagiert. Seit ihrer Ankunft in Deutschland sei sie exilpolitisch aktiv. Sie
habe bereits vom 5. bis 7. Februar 2013 in München an Demonstrationen zugunsten der Uiguren in China
teilgenommen und sich auch im Folgenden entsprechend engagiert, letztmals am 05.07.2016 bei einer
Demonstration vor dem chinesischen Generalkonsulat in München und am 30.09.2016. Die Bilder seien vom
uigurischen Weltkongress über das Internet verbreitet worden. Bei einer Rücküberstellung nach China
drohten ihr mindestens mehrjährige Haftstrafen.
5 Der Kläger beantragt,
6
den Bescheid der Beklagten vom 04.03.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als
Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
7
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
8
weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.
5, 7 AufenthG vorliegt.
9 Die Beklagte beantragt,
10 die Klage abzuweisen.
11 Die Beklagte trägt vor, die Klägerin hätte zum angeblich fluchtauslösenden Vorfall rund um die
Demonstration nahe ihrer Schule nur vage und wenig konkret vorgetragen. Außerdem sei es wenig
glaubhaft, dass die Klägerin einerseits staatlich verfolgt worden sein wolle, man ihr andererseits aber ihren
Pass und ihren Ausweis belassen habe, mittels derer sie dann auch noch ausgereist sein wolle. Kein staatlich
Verfolgter würde sich einem solchen Risiko aussetzen, erst recht nicht, wenn er professionelle Hilfe für die
Ausreise in Anspruch nehme, wie die Klägerin. Die exilpolitischen Betätigungen der Klägerin rechtfertigten
ebenfalls keine Zuerkennung von Flüchtlingsschutz, weil aufgrund der Vielzahl der weltweit stattfindenden
Aktionen anonymer Aktivisten nicht davon auszugehen sei, dass der chinesische Staat fähig sei, diese zu
identifizieren und entsprechend zu belangen, solange sie nicht in besonderer Funktion oder
herausgehobener Weise tätig würden. Entsprechendes sei hier nicht vorgetragen.
12 Dem Gericht liegen die einschlägigen Behördenakten vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese
Akten und die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
13 Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer,
§ 87a Abs. 2, Abs. 3 VwGO.
14 Die Klage ist zulässig.
15 Der angefochtene Bescheid ist hinsichtlich der Ziffer 2 - 4 rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in
ihren Rechten (§113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Sie hat Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung und Aufhebung der
Abschiebungsandrohung (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Im Übrigen ist der Bescheid bezüglich der Ziff. 1
rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
16 Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin begehrt, sie als Asylberechtigte anzuerkennen. Der
Asylanerkennung steht die in § 28 Abs. 1 AsylVfG kodifizierte Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts entgegen, wonach eine (ohne Not eines inneren identitätsprägenden
Überzeugungsdrucks vorgenommene) risikolose Verfolgungsprovokation vom sicheren Hort des
Aufnahmelandes Deutschland nach dem Sinn der Asylverheißung nicht als asylbegründend anzuerkennen ist
(BVerfG, B. v. 26.11.1986 - 2 BvR 1085/84 -, BVerfGE 74,51 = InfAuslR 1987,56). Die in China nach
eigenen Angaben unpolitische Klägerin hat mit ihrem exilpolitischen Engagement in Deutschland keine
bereits im Heimatland erkennbar betätigte politische Überzeugung fortgesetzt. Vielmehr hat sie sich
erstmals hier in Deutschland politisch betätigt, ohne dass erkennbar wäre, dass dies auf einem sie
tiefgreifend berührenden Erweckungserlebnis beruht. So gab die Klägerin als Grund für ihr Engagement in
der mündlichen Verhandlung nicht etwa das Verschwinden ihrer Eltern an, sondern sagte aus, dass diese
Betätigungen hier gefahrlos möglich seien.
17 Im Übrigen ist die Klage begründet. Zunächst ist insofern klarzustellen, dass das Gericht die Zweifel der
Beklagten an der Glaubwürdigkeit der Klägerin nicht teilt. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung
ausführlich und detailliert ihren Werdegang und den Hergang ihrer Flucht und die diese auslösenden
Ereignisse geschildert. Für die Glaubwürdigkeit der Klägerin spricht dabei insbesondere, dass sich keine
nennenswerten Abweichungen zu ihrem Vortrag vor dem Bundesamt ergaben und die Klägerin es
stattdessen vermochte das dort geschilderte Geschehen in der mündlichen Verhandlung mit anderen Worten
wieder zu geben und gerade nicht an den zuvor gebrauchten Formulierungen haftete. Im Weiteren waren
ihre Schilderungen durchsetzt mit persönlichen Sinneseindrücken und Gefühlsregungen („ich hatte große
Angst“, „ich hasse Chinesen“, „ein kleiner, dunkler Raum“). Auf Nachfragen des Gerichtes reagierte die
Klägerin entsprechend und vermochte entsprechende Zweifel und Kommunikationsmissverständnisse
glaubhaft auszuräumen.
18 Sofern die Beklagte der Aussage der Klägerin mit dem Argument die Glaubwürdigkeit abspricht, kein
politisch Verfolgter würde problemlos unter seinem eigenen Namen aus der Volksrepublik China ausreisen,
ist zu vergegenwärtigen, dass die Probleme der Klägerin in ihrer Heimat zum Ausreisezeitpunkt noch nicht
solcher Art und Güte waren, dass sie sich in herausgehobener Stellung als Gegner des Systems profiliert
hätte. Tatsächlich ist der Heimatort der Klägerin Ürümqi in der Provinz Xinjiang eine uigurische Hochburg,
die Klägerin war dort zum Zeitpunkt ihrer Ausreise also eine unter vielen. Das Gericht hat demnach keine
Zweifel am Vortrag der Klägerin, ihre Ausreise sei durch die Bestechung der Behörden ermöglicht worden.
19 Entgegen der Ansicht der Beklagten rechtfertigt die Gesamtschau der Aktivitäten auch die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft an die Klägerin. Dabei ist zum einen die bereits in China mit der Verschleppung der
Eltern der Klägerin und dem Separatismusvorwurf gegen sie bestehende Spannungslage zu berücksichtigen,
zum zweiten die weitere Vertiefung der Situation durch die Ausreise und die Asylantragstellung der Klägerin
in Deutschland und schließlich ihre exilpolitische Betätigung.
20 Gemäß § 3 AsylG ist Flüchtling, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Heimatlandes befindet. Die Klägerin ist Uiguren und
als solche staatlichen Repressionen in ihrer Heimat ausgesetzt.
21 Wie § 28 AsylG im Umkehrschluss zeigt, können sich die Umstände, auf denen die Verfolgung beruht, sowohl
aus der Situation des Ausländers in seinem Heimatstaat als auch aus Umständen, die nach seiner Ausreise
eingetreten sind ergeben. Der Beklagten ist dabei zuzugestehen, dass insbesondere im Falle Chinas
aufgrund der weltweit stattfindenden Proteste anonymer Aktivisten nicht davon ausgegangen werden
kann, dass der chinesische Staat fähig sei, die Teilnehmer zu identifizieren und entsprechend zu belangen,
solange sie nicht in besonderer Funktion oder herausgehobener Weise tätig würden.
22 Im hier konkret zu entscheidenden Einzelfall liegt die Situation aufgrund der Kumulation der
Gefährdungsmomente anders. So hat das Gericht aufgrund der oben dargelegten Beobachtungen keine
Zweifel am Wahrheitsgehalt der klägerischen Aussage. Daraus folgt, dass die Klägerin bereits vor ihrer
Flucht unter der Beobachtung der Behörden stand, weil man sie des Separatismus‘ verdächtigte.
23 Darüber hinaus hat sich die Klägerin in der Bundesrepublik exilpolitisch betätigt. Diese selbst geschaffenen
Nachfluchtgründe schließen auch unter Berücksichtigung der oben zitierten Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus‘ nicht aus. Die Grundsätze, die das
Bundesverfassungsgericht zum Ausschluss subjektiver selbstgeschaffener Nachfluchtgründe aus dem
Schutzbereich des Asylgrundrechts entwickelt hat, finden keine Anwendung auf den Flüchtlingsschutz nach
der Genfer Flüchtlingskonvention. Wie § 28 Abs. 1 a AsylG i. V.m. Art. 5 Abs. 1 und 2 der
Qualifikationsrichtlinie - QRL - (EU-Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011 - ABl. L 337/9 v. 20.12.2011)
ausdrücklich hervorhebt, kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG
auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Antragsteller das Herkunftsland verlassen
hat und zwar auch auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen seines Herkunftslandes, wobei dies
„insbesondere“ dann anzunehmen ist, wenn diese Aktivitäten Ausdruck einer bereits im Herkunftsland
betätigten Überzeugung oder Ausrichtung sind.
24 Von der in Art. 5 Abs. 3 QRL den Mitgliedsstaaten eingeräumten Möglichkeit, unbeschadet der Genfer
Flüchtlingskonvention, die Flüchtlingsanerkennung im Regelfall auszuschließen, wenn es sich um selbst
geschaffene Verfolgungsgefahren handelt, hat der Gesetzgeber in § 28 AsylVfG nicht Gebrauch gemacht.
Nach Art. 4 Abs. 3 d QRL, der mangels ausdrücklicher Umsetzung im AsylG bzw. AufenthG als Unionsrecht
unmittelbar gilt, ist allerdings die Frage zu berücksichtigen, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit
Verlassen des Heimatlandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die
Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet
werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt
würde.
25 Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 a, Abs. 4, 31 Abs. 2 S. 1 AsylVfG).
26 Ihre Furcht ist begründet, wegen ihrer exilpolitischen Aktivitäten im Falle einer Rückkehr in seinen
Herkunftsstaat China dort in Anknüpfung an eine (womöglich nur unterstellte - siehe § 3b Abs. 2 AsylG)
separatistische politische Überzeugung bzw. wegen strafbarer Unterstützung vom Ausland aus betriebener
separatistischer Bestrebungen (§§ 103, 105, 106 Chines.StGB) von den chinesischen Sicherheitsbehörden
mit Haft, Strafhaft, Folter oder Administrativhaft verfolgt zu werden.
27 Zwar hat die Klägerin keine führende oder sonst herausgehobene Position innerhalb einer uigurischen
Organisation inne, sondern hat sich bislang nur als einfache Aktivistin betätigt, indem sie verschiedenen
Demonstrationen und Versammlungen zur Stärkung der Rechte der Uiguren in China teilgenommen, Fahnen
und Plakate gehalten und Parolen gerufen hat.
28 Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass die chinesischen Behörden insbesondere seit den
Demonstrationen in Ürümqi im Juli 2009 und den in den letzten Jahren infolge auch gewalttätiger Aktionen
kleiner Splittergruppen von uigurischen Separatisten noch deutlich gestiegenen Spannungen offensichtlich
mit äußerster Anspannung, Härte und Überempfindlichkeit selbst auf vergleichsweise unbedeutende
harmlose und vor allem gewaltfreie Aktionen auch zahlenmäßig nur sehr kleiner uigurischer Gruppierungen
reagieren (VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 07. April 2014 – A 6 K 860/12 –, juris).
29 So führt Amnesty International im Amnesty Report 2016 zu China vom 30.03.2016 aus, dass die Kampagne
der chinesischen Regierung namens „Hartes Durchgreifen“, die sich gegen „terroristische Gewalt und
religiösen Extremismus“ richte und bei ihrem Beginn im Mai 2014 zunächst auf ein Jahr begrenzt war, 2015
verlängert wurde. In der Praxis bedeute dies zusammen mit den neuen „Durchführungsbestimmungen für
religiöse Angelegenheiten“ in der Region Xinjang noch einschneidendere Restriktionen als die bereits zuvor
bestehenden weitreichenden Diskriminierungen der muslimischen Volksgruppe. Das Auswärtige Amt weiß in
seinem Lagebericht vom 20.11.2015 zu berichten, dass mit der Verlängerung der Kampagne auch deren
Verschärfung einhergegangen. Damit würden insbesondere auch Schnellverfahren und Massenurteile
institutionalisiert. Außerdem solle das Anti-Terrorismusgesetz weiter vorangetrieben werden und es sei mit
steigendem Druck auf den uigurischen Weltkongress zu rechnen (S. 15).
30 Nach der Auskunftslage unterscheidet die chinesische Staatsführung in den letzten Jahren offenbar kaum
mehr zwischen gewaltfreien und terroristischen separatistischen Aktivitäten und stufte auch erstere
Aktivitäten unterschiedslos als terroristisch ein. Das belegt ferner der Umstand, dass China mit einer großen
Gruppe von Geheimdienstmitarbeitern in Deutschland in den letzten Jahren uigurische Gruppierungen
engmaschig überwacht und sogar nicht davor zurückschreckt, Mitarbeiter des bayerischen Landtags
abzuhören. Schließlich wird dies dadurch deutlich, dass China die Vorsitzende des Uigurischen
Weltkongresses offenbar als besonders gefährliche Separatistin, Staatsfeind Nr. 1 und Hauptgegner in
Sachen Bekämpfung des uigurischen Separatismus ansieht, obwohl diese nur gewaltfrei agierte, fünf Jahr in
chinesischen Gefängnissen in Haft war und sogar 2006 und 2007 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen
worden war. Zudem zeigt die Behandlung aus dem Ausland nach China abgeschobener Uiguren
(Verschwindenlassen, Haft, Anklagen, langjährige Haft) und die aggressive Politik, mit der China auf die
Abschiebung und Auslieferung von Uiguren drängt, wenn sich diese im Ausland aufhalten, dass China sich
offenbar in der aktuellen Situation zu einem differenzierten Vorgehen nicht mehr in der Lage sieht, sondern
versucht, mit harter Hand jegliche Spur eines uigurischen Separatismus auszumerzen. Die chinesischen
Straftatbestände, die auch eine bloße Unterstützung separatistischer Aktivitäten unter Strafe stellen
können zudem nach der Auskunftslage wenn sie im Ausland verletzt werden, als sogar besonders schwerer
Fall mit besonders harten Strafen geahndet werden. Nach der Auskunftslage hängt die Anwendung und
Auslegung dieser Straftatbestände insbesondere von der jeweiligen politischen Lage und den politischen
Spannungen ab, unter denen die chinesische Staatsführung und die von ihr kontrollierten
Sicherheitsbehörden aber auch chinesischen Strafgerichte jeweils gerade stehen (VG Freiburg (Breisgau),
Urteil vom 07. April 2014 – A 6 K 860/12 –, juris).
31 Ein vergleichsweise niedrigschwelliges Engagement wie das der Klägerin, welches nach der früheren
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht ausreichend profiliert war, um eine Flüchtlingsanerkennung
zu begründen, genügt zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls in der aktuell äußerst angespannten Lage
aller Voraussicht nach für ein Einschreiten der chinesischen Behörden (VG Karlsruhe, Urteil vom 05.02.2013
- A 6 K 961/12 -, juris).
32 Im Einzelnen stellt das Auswärtigen Amtes die Situation in Ergänzung zu den obigen Ausführungen in
seinem Bericht zur asyl- und abschieberechtlichen Lage in der Volksrepublik China vom 20.11.2015 wie folgt
dar:
33 Die chinesische Regierung rücke jedwede Stellungnahme für eine stärkere Berücksichtigung der Rechte der
Uiguren als nationaler Minderheit oder gar für mehr Autonomie undifferenziert in den Bereich des
terroristischen Separatismus und stelle damit alle uigurischen Organisationen unter den Generalverdacht
des solchen Separatismus. Die Zentralregierung gehe gegen jegliche Autonomie- und
Unabhängigkeitsbestrebungen mit großer Härte vor. Die Situation in Xinjang bleibe angespannt. Die
Restriktionen gegenüber den Uiguren hätten sich verschärft. Die Behörden reagierten auf Zwischenfälle mit
sofortigen Nachrichtensperren und strikter Kontrolle. Mutmaßliche Separatisten, die aus dem Ausland
zurückkehrten hätten mit intensiven Repressionen zu rechnen. Die chinesische Regierung verweigert eine
konsularische Betreuung. Auskünfte zum Verbleib und Identität der Personen werden nicht erteilt. Seit 2011
übe die chinesische Regierung wachsenden Druck auf andere asiatische Staaten, u.a. Kasachstan, Malaysia,
Pakistan und Thailand aus und zwinge diese so, Uiguren nach China auszuliefern oder auszuweisen. Über
den Verbleib und das weitere Schicksal dieser Personen sei nichts bekannt (S. 15, 16).
34 Unter diesen Umständen erreichen die der Klägerin drohenden Gefahren aus dem Vorwurf der
separatistischen Betätigung vor ihrer Ausreise sowie ihren exilpolitischen Aktivitäten in der Bundesrepublik
ein solches Ausmaß, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Dass sie sich im
Einzelnen nicht in herausgehobener Stellung exilpolitisch betätigt hat, führt angesichts der dargelegten
Gesamtumstände zu keinem anderen Ergebnis.
35 Schließlich erweist sich die unter Ziff. 6 des angefochtenen Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung
als rechtswidrig, da das Bundesamt in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur
Zuerkennung des Flüchtlingsstatus verpflichtet und daher nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG nicht zum Erlass
einer Abschiebungsandrohung ermächtigt war.
36 Die übrigen Anträge der Klägerin sind unter der zulässigen innerprozessualen Bedingung gestellt, dass die
Flüchtlingseigenschaft verneint werde. Diese Bedingung ist hier nicht eingetreten, sodass darüber nicht zu
entscheiden war.
37 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG. Die
Klägerin ist hier nur in geringem Maße unterlegen, nämlich mit ihrem Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigte. Nach § 2 Abs. 1 AsylG genießen Asylberechtigte in Deutschland jedoch die Rechtstellung
nach der Genfer Flüchtlingskonvention und damit denselben Schutz wie Flüchtlinge. Der Status eines
anerkannten Asylberechtigten gleicht darum mittlerweile nahezu vollständig jenem eines anerkannten
Flüchtlings (BVerwG, Urteil vom 01.03.2011 - 10 C 2/10 -, juris, Rn. 53). Darum ist das Unterliegen der
Klägerin bezüglich ihrer Klage auf Anerkennung als Asylberechtigte (siehe Ziff. 1 des angefochtenen
Bescheids) als derart marginal anzusehen, dass es gerechtfertigt ist, der im Übrigen unterliegenden
Beklagten die Verfahrenskosten voll aufzuerlegen.