Urteil des VG Stuttgart vom 03.02.2017

hauptsache, erlass, star, wahrscheinlichkeit

VG Stuttgart Beschluß vom 3.2.2017, 11 K 8599/16
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Einbürgerung von Ausländern;
Vorwegnahme der Hauptsache; Zumutbarkeit der Entlassung aus der ausländischen
Staatsangehörigkeit
Leitsätze
1. Ein die Hauptsache vorwegnehmender Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt unter dem
Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nur dann in
Betracht, wenn ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ohne den Erlass der einstweiligen
Anordnung zu schlechterdings unzumutbaren Nachteilen für den Antragsteller führen würde, die auch bei
einem Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit
dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.
2. Der Umstand, dass der Ausländer aus Altersgründen die ausländische Staatsangehörigkeit noch nicht
aufgeben kann, unterfällt nicht § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StAG, sondern ist dem § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StAG
zuzurechnen.
3. Das Verlangen der Volljährigkeit einer Person, die die Entlassung aus der ausländischen Staatsangehörigkeit
begehrt, ist eine abstrakt zumutbare Entlassungsbedingung.
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie
in den deutschen Staatsverband einzubürgern, hat keinen Erfolg. Denn dieser auf die Einbürgerung in den
deutschen Staatsverband zielende Antrag ist auf eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet.
2 Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands
in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um u. a.
wesentliche Nachteile abzuwenden. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123
Abs. 1 VwGO ist, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch vorliegen (§ 123 Abs. 3
VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Deren tatsächliche Voraussetzungen müssen hinreichend wahrscheinlich
(„glaubhaft“) sein (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Wie sich aus der Bezeichnung der
Maßnahme als einer einstweiligen Anordnung und aus der Vorläufigkeit des zu regelnden Zustandes ergibt,
dient die einstweilige Anordnung ihrem Wesen nach dem vorläufigen Rechtsschutz. Es ist daher grundsätzlich
nicht Sinn des summarischen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, einem Antragsteller schon
diejenige Rechtsposition zu verschaffen, die er nur im Verfahren zur Hauptsache, also aufgrund einer
Verpflichtungs- oder Leistungsklage, erstreiten könnte. Eine solch unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses
der Hauptsache liegt nicht nur in irreparablen Regelungen. Sie kann auch dann gegeben sein, wenn die
begehrte Regelung nur vorübergehend, d. h. unter dem Vorbehalt einer anderweitigen gerichtlichen
Entscheidung in der Hauptsache ergehen soll (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 08.02.2006 - 13 S 18/06 -
VBlBW 2006, 286). Ein die Hauptsache vorwegnehmender Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt unter
dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nur
dann in Betracht, wenn ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache ohne den Erlass der einstweiligen
Anordnung zu schlechterdings unzumutbaren Nachteilen für den Antragsteller führen würde, die auch bei
einem Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen wären, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit
dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.04.2013
- 10 C 9/12 - BVerwGE 146, 189; VGH Mannheim, Beschl. v. 06.03.2012 - 10 S 2428/11 - VBlBW 2012, 469).
3 Nach diesen Grundsätzen steht dem Erlass der von der Antragstellerin begehrten einstweiligen Anordnung
entgegen, dass sie nicht eine im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO nur mögliche
vorläufige Regelung, sondern eine endgültige Befriedigung des Hauptsacheanspruchs begehrt. Der Erlass der
von der Antragstellerin begehrten einstweiligen Anordnung würde dazu führen, dass dem auf Einbürgerung
in den deutschen Staatsverband gerichteten Begehren endgültig und irreversibel entsprochen würde; dies
widerspräche dem bloßen Sicherungszweck des Verfahrens nach § 123 VwGO. Der Antragstellerin entstehen
durch die Ablehnung der einstweiligen Anordnung auch keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Die
Stützpunktleiterin des Nationalmannschaftszentrums Bundes- und Landesleistungszentrum - Rhythmische
Sportgymnastik - in F. teilte mit Schreiben vom 28.07.2016 mit, im Falle einer Einbürgerung der
Antragstellerin würde deren sportliche Leistung erneut beurteilt und sie werde bei entsprechender sportlicher
Eignung in das Nationalmannschaftszentrum zurückgeholt und in das Training am
Nationalmannschaftszentrum eingegliedert. Im Hinblick auf diese Stellungnahme ist ein Abwarten der
Entscheidung in der Hauptsache nicht mit unzumutbaren Nachteilen für die Antragstellerin verbunden.
Soweit die Antragstellerin befürchtet, durch weitere Zeitverluste aus dem Nationalteam vollkommen
ausgeschlossen zu werden, hat sie unzumutbare Nachteile nicht glaubhaft gemacht. Sie hat es vielmehr
selbst in der Hand, für den Fall der Einbürgerung ab dem 18. Lebensjahr ihr sportliches Leistungsniveau bis zu
einer Wiederaufnahme in das Nationalmannschaftszentrum durch kontinuierliches Training beim derzeitigen
Verein TSV S. zu erhalten oder sogar zu steigern.
4 Im Übrigen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ersichtlich, dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit
dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist.
5 Im Hinblick auf die Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG ist der Behördenakte nicht zu entnehmen, dass
die Antragstellerin ihren Lebensunterhalt für sich bestreiten kann (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG). Weiter
lässt sich der Behördenakte nicht entnehmen, dass die Antragstellerin über Kenntnisse der Rechts- und
Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügt (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 StAG). Der
bloße Besuch eines Gymnasiums dürfte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausreichen. Außerdem ist nicht
ersichtlich, dass die Antragstellerin über einen Grundbestand an staatsbürgerlichem Wissen verfügt und den
Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG) jedenfalls in Ansätzen
kennt (vgl. HTK-StAR / § 10 StAG / zu Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Stand: 26.10.2016, Rn. 28 m.w.N.). Der
Antragsgegner hat auch zutreffend dargelegt, dass sich die Antragstellerin auf einen Ausnahmetatbestand
des § 12 StAG nicht berufen kann. Der Umstand, dass der Ausländer aus Altersgründen die ausländische
Staatsangehörigkeit noch nicht aufgeben kann, unterfällt nicht § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StAG, sondern ist
dem § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt. 2 StAG zuzurechnen (vgl. HTK-StAR / § 12 StAG / zu Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Alt.
2, Stand: 02.09.2016, Rn. 76). Das Verlangen der Volljährigkeit einer Person, die die Entlassung begehrt, ist
eine abstrakt zumutbare Entlassungsbedingung (vgl. HTK-StAR a.a.O. Rn. 80). Die Entlassungsvoraussetzung
des Erreichens der Volljährigkeit ist im vorliegenden Fall auch keine konkret-individuell unzumutbare
Entlassungsvoraussetzung. Denn die Eltern der Antragstellerin besitzen ersichtlich nicht die deutsche
Staatsangehörigkeit. Ein Gleichklang zwischen den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen der Eltern
und derjenigen der minderjährigen Antragstellerin würde durch die begehrte Einbürgerung gerade nicht
erreicht. Außerdem ist die Antragstellerin nur noch wenige Monate von der Volljährigkeitsgrenze entfernt und
hat hinreichende Bindungen an den Staat ihrer Staatsangehörigkeit. Das mit der Altersbeschränkung
verbundene Entlassungshindernis wirkt sich im Falle der Antragstellerin nur vorübergehend und nicht
dauerhaft aus. Bei Abwägung aller Belange vermag das Gericht nicht zu erkennen, dass im Falle der
Antragstellerin die Entlassungsvoraussetzung des Erreichens der Volljährigkeit eine konkret-individuell
unzumutbare Entlassungsvoraussetzung darstellt. Damit dürfte auch die Erteilungsvoraussetzung des § 10
Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StRG nicht erfüllt sein.
6 Auch im Hinblick auf § 8 StAG ist nicht ersichtlich, dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs
besteht. Die Einbürgerung nach § 8 StAG steht im grundsätzlich weiten Ermessen der Einbürgerungsbehörde;
für die Ausübung des Einbürgerungsermessens ist allein ein staatliches Interesse an der beantragten
Einbürgerung maßgebend (vgl. HTK-StAR / § 8 StAG / zu Abs. 1, Stand: 08.09.2016, Rn. 156 m.w.N.).
Anhaltspunkte für eine Ermessensschrumpfung auf Null bestehen nicht.