Urteil des VG Stuttgart vom 09.11.2007

VG Stuttgart (kläger, ausweisung, vollstreckung der strafe, gerichtshof für menschenrechte, aufrechterhaltung der ordnung, schutz der gesundheit, emrk, philippinen, verhältnis zu, öffentliche ordnung)

VG Stuttgart Urteil vom 9.11.2007, 9 K 3199/07
Ausweisung eines mehrfach vorbestraften Ausländers trotz familiärer Bindungen
Leitsätze
Zum Ort und zu den Kriterien der Prüfung von Art. 8 EMRK
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung seiner Abschiebung durch den Beklagten.
2
Er wurde im Jahr 1985 auf den Philippinen geboren. Seine Eltern trennten sich; seine Mutter wanderte 1992
nach Deutschland aus, sein Vater nach Japan. Der Kläger und zwei jüngere Geschwister wuchsen zunächst
bei einer Stiefschwester, später bei der zweiten Frau seines Vaters auf. Auf den Philippinen besuchte er die
Schule bis zur dritten Klasse. Nachdem seine Mutter im Bundesgebiet ein zweites Mal geheiratet hatte, holte
sie den Kläger und seine beiden Geschwister im Oktober 1995 im Wege des Familiennachzuges ins
Bundesgebiet. Der Kläger wuchs in der Folge mit seinen beiden jüngeren Geschwistern im Haushalt seiner
Mutter und seines deutschen Stiefvaters auf und wurde in die dritte Klasse der Grundschule eingeschult.
3
Am 24.6.1996 erhielt er erstmals von der zuständigen unteren Ausländerbehörde eine befristete
Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit mehrfach befristet verlängert wurde. Am 21.3.2005 erteilte ihm die
untere Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis. Den Besuch der Hauptschule brach der Kläger in der
neunten Klasse ohne Abschluss ab. Im ab September 2002 besuchten Berufsvorbereitungsjahr erreichte er den
Hauptschulabschluss. Die sich ab September 2003 anschließende Berufsfachschule der Fachrichtung Metall
brach er im Januar 2004 ab. Anschließend war er bei einem Schnellimbiss beschäftigt.
4
Im Jahr 2004 wurde der Kläger wegen Diebstahlsdelikten erstmals strafrechtlich auffällig. Mit Urteil des
Amtsgerichts Heilbronn vom 13.7.2005 wurde der Kläger des Diebstahls in zwei Fällen schuldig gesprochen
und zur Ableistung von 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verpflichtet.
5
Am 21.10.2005 kam er erstmals in Untersuchungshaft. Grundlage war der Haftbefehl des Amtsgerichts
Heilbronn vom 20.10.2005 wegen des Verdachts der Begehung eines gemeinschaftlichen Bankraubs am
13.10.2005. Im Haftbefehl war unter anderem ausgeführt, dass der Kläger nur über geringe persönliche
Bindungen in Deutschland verfüge. Am 22.12.2005 wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. Mit Urteil des
Landgerichts Heilbronn vom 20.4.2006, rechtskräftig seit 28.4.2006, wurde der Kläger zu einer Jugendstrafe
von einem Jahr und drei Monaten wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes verurteilt. Die Vollstreckung der
Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Im Urteil ist unter anderem ausgeführt, der Kläger habe sich zum
Zeitpunkt der Tatbegehung in einer finanziell angespannten Situation befunden.
6
Am 7.3.2006 kam der Kläger erneut in Untersuchungshaft. Grundlage war der Haftbefehl des Amtsgerichts
Heilbronn vom 8.3.2006 wegen des Verdachts auf gemeinschaftlichen versuchten Mord. Mit Urteil des
Landgerichts Heilbronn vom 15.8.2006, rechtskräftig seit 23.8.2006, wurde der Kläger wegen
gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung unter
Einbeziehung des Urteils vom 20.4.2006 zu einer einheitlichen Jugendstrafe von vier Jahren und sechs
Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass der Kläger mit anderen in der Nacht vom 10. auf den 11.
September 2005 zwei wertvolle Kraftfahrzeuge von einem Firmengelände entwendete. Wie von vornherein
besprochen, wurde der auf seinem Rundgang vorbeikommende Wachmann ausgeschaltet, in dem er brutal
zusammengeschlagen, gefesselt und dann trotz der Witterung seinem Schicksal überlassen wurde. Der
Wachmann wurde erst am folgenden Morgen in einem lebenskritischen Zustand entdeckt und musste mehrere
Tage in ein künstliches Koma versetzt werden. In den Gründen des Urteils ist unter anderem ausgeführt,
zugunsten des Klägers und seiner Mitangeklagten gehe die Kammer davon aus, dass die Angeklagten darauf
vertrauten, ihr Opfer werde rechtzeitig gefunden und gerettet, so dass ein Tötungsvorsatz nicht bestanden
habe. Nach der Verhaftung des Klägers und seiner Mittäter auf Grund des Banküberfalls vom 13.10.2005 am
20.10.2005 hätten erste polizeiliche Ermittlungen zwar den Verdacht ergeben hätten, die Gruppe habe auch den
Raub der Fahrzeuge am 10./11.9.2005 verübt. Dieser Verdacht habe sich aber zunächst nicht erhärtet. Erst als
ein Abgleich von DNA-Spuren eine Übereinstimmung bei einem anderen Mittäter ergeben habe, habe dieser am
6.3.2006 ein Geständnis abgelegt.
7
Eine Ausfertigung des Urteils vom 15.8.2006 samt Rechtskraftvermerk ging dem Regierungspräsidium
Stuttgart am 14.11.2006 zu.
8
Mit Schreiben vom 5.4.2006 hatte das Regierungspräsidium den Kläger bereits zur beabsichtigten Ausweisung
angehört. Zwar mandatierte sich im September 2006 eine Rechtsanwältin und erbat Akteneinsicht. Eine
Stellungnahme erfolgte jedoch nicht.
9
Mit Verfügung vom 3.4.2007 wies das Regierungspräsidium den Kläger (unter Anordnung des Sofortvollzuges)
aus dem Bundesgebiet aus und drohte ihm seine Abschiebung ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen
Ausreise an; die Abschiebung wurde auf den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt. Zur Begründung wurde
ausgeführt, der Kläger habe auf Grund der rechtskräftigen Verurteilung durch das Landgericht Heilbronn den
zwingenden Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Ihm stünden aber die
Ausweisungsschutzvorschriften des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und zumindest Nr. 2 AufenthG zur Seite, so dass
er nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden könne (§ 56 Abs. 1 Satz
2 AufenthG). Das Vorliegen dergestalt gewichtiger Gründe werde im Fall des Klägers über § 56 Abs. 1 Satz 3
AufenthG vermutet. Eine Ausnahme von der gesetzlichen Regelvermutung sei nicht erkennbar, da auch ohne
das Bestehen der Regelvermutung vielmehr von einem schwerwiegenden Ausweisungsanlass ausgegangen
werden müsse. Denn die begangene Straftat sei zumindest der mittleren Kriminalität zuzuordnen und im Falle
des Klägers bestehe eine deutlich gesteigerte Wiederholungsgefahr, wie die rasche Begehung von zwei Taten
im Jahr 2005 unmittelbar im Anschluss an eine erste Verurteilung belege. Zudem sei keine Ausnahmesituation
Tatanlass gewesen, sondern der stets mögliche Geldmangel. Über den somit spezialpräventiv zu
begründenden Ausweisungsanlass hinaus bestehe aber in Fällen von Gewaltkriminalität wie dem vorliegenden
auch ein generalpräventives Ausweisungsbedürfnis.
10 Das Vorliegen besonderen Ausweisungsschutzes führe zudem über die Bestimmung des § 56 Abs. 1 Satz 4
AufenthG dazu, dass sich die in § 53 AufenthG vorgesehene zwingende Ausweisung in eine Regelausweisung
wandele. Es sei daher zu prüfen, ob atypische Umstände vorliegen würden, was aber zu verneinen sei. Weder
aus der Tatbegehung, noch aus den Lebensumständen einschließlich der langen Aufenthaltsdauer ließen sich
solche Umstände entnehmen. Selbst wenn doch solche Umstände vorliegen sollten, würde dies noch nicht zur
Unzulässigkeit der Ausweisung führen, sondern nur dazu, dass über die Ausweisung des Klägers nach
Ermessen entschieden werden müsse, was ansonsten nicht der Fall sein, insbesondere da der Kläger auf
Grund seines Alters bei Erlass der Ausweisungsverfügung nicht mehr dem Schutzbereich des § 56 Abs. 2
AufenthG unterfalle. Auch dann würden die spezial- und generalpräventiven öffentlichen Interessen das private
Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegen.
11 Schließlich verstoße die Ausweisung auch nicht gegen die Bestimmung des Art. 8 EMRK. Zwar könne schon
die Ausweisung als solche einen Eingriff nach der Menschenrechtskonvention darstellen. Doch verfolge die
Ausweisung hier ein legitimes Ziel und sei auch nicht unverhältnismäßig. Denn der Kläger sei volljährig und
nicht mehr in besondere Weise auf die Hilfe seiner Familienangehörigen angewiesen. Zudem sei seine
Integration in die hiesige Gesellschaft bisher dürftig. Insbesondere fehle ihm eine gesicherte berufliche
Existenz. Dagegen müsse der Kläger auf Grund des Verbringens seiner ersten zehn Lebensjahr auf den
Philippinen noch Kenntnisse der dortigen Sprache besitzen.
12 Da die Ausweisung zum Erlöschen des Aufenthaltstitels geführt habe, sei der Kläger vollziehbar zur Ausreise
verpflichtet. Ihm könne die Abschiebung angedroht werden. Abschiebungsverbote seien nicht erkennbar.
13 Am 30.4.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, über seine
Ausweisung könne nur nach Ermessen entschieden werden. Denn dem Regierungspräsidium sei der KfZ-Raub
spätestens im April 2006 bekannt gewesen, gleichwohl habe es noch ein Jahr gedauert, bis er ausgewiesen
worden sei. Im Ermessen hätte man dann aber auch berücksichtigen müssen, dass er auf den Philippinen über
keine Verwandte mehr verfüge: Sein Vater sei erschossen worden, die Großeltern seien verstorben, die
Geschwister der Mutter alle ausgewandert. Die dortige Sprache beherrsche er überhaupt nicht mehr.
Schließlich beabsichtige er beim Eintreffen der notwendigen Papiere seine deutsche Verlobte zu heiraten.
14 Der Kläger beantragt,
15
die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 3.4.2007 aufzuheben.
16 Der Beklagte beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18 Er stützt sich über das in der Verfügung Ausgeführte hinaus unter anderem darauf, dass dem Kläger ein
Neuanfang auf den Philippinen möglich sei.
19 Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger unter anderem ausgeführt, er habe die Schule wohl bis
zur dritten Klasse und wohl auch einen Kindergarten besucht. Zu Hause habe man Philippino, also Tagalog,
gesprochen. Nach seinem Nachzug nach Deutschland sei sein Stiefvater streng darauf bedacht gewesen, dass
nur Deutsch gesprochen werde. Den Hauptschulabschluss habe er zunächst nicht geschafft, weil er faul
gewesen sei. In der Hauptschule sei auch Englisch unterrichtet worden. Die Ausbildung in der Fachrichtung
Metall habe er abgebrochen, weil U-Stahl nichts für ihn gewesen sei. Nach seiner Verhaftung habe ihm seine
Verteidigerin geraten, nur wenig einzuräumen. Seine jetzige Verlobte kenne er seit 2003. Er wisse auch nicht
mehr genau, welche Papiere zur Heirat noch fehlten, aber das Standesamt habe gesagt, es dauere noch fünf
Monate. Straftaten werde er künftig nicht mehr begehen, da er durch die Haft und den seine Familie zugefügten
Stress gelernt habe. In der Haft habe er Englisch nachgeholt und eine Ausbildung zum Maler und Lackierer
begonnen. Im Falle einer Entlassung habe er einen Arbeitsplatz zugesagt.
20 Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer zugestimmt.
21 Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorliegenden
Verwaltungsakten des Regierungspräsidiums Stuttgart - einschließlich jener der unteren Ausländerbehörde -
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22 Die Klage, über die der Berichterstatter entscheiden kann (§ 87a Abs. 2 u. 3 VwGO), ist zulässig (vgl. u.a. § 6a
Satz 1 AGVwGO), aber unbegründet. Denn sowohl die Ausweisung des Klägers (dazu I.) als auch die
Androhung seiner Abschiebung (dazu II.) in der Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart (im Folgenden:
Regierungspräsidium) vom 3.4.2007 entsprechen dem Gesetz und können daher trotz möglicherweise
einschneidender Folgen den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich ist insoweit beim Kläger als europarechtlich nicht privilegiertem Ausländer die Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urt. v.
25.4.2007, InfAuslR 2007, 357). Lediglich bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Ausweisung mit Art. 8 EMRK
ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen (so EGMR, Urt. v. 28.6.2007 - Kaya -,
InfAuslR 2007, 325; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.4.2007, a.a.O.).
23
I.
24 Denn ein Ermächtigungsgrundlage (§ 53 Nr. 1 AufenthG) liegt vor und der Kläger kann sich von den im
Aufenthaltsgesetz enthaltenen Ausweisungsschutzvorschriften lediglich auf § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG,
nicht aber § 56 Abs. 2 AufenthG berufen (dazu 1.). Eine Widerlegung der in seinem Fall bestehenden doppelten
Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 AufenthG ist dem Kläger nicht gelungen (dazu 2.)
Schließlich ist seine Ausweisung auch mit Art. 8 EMRK vereinbar (dazu 3.).
25 1. Von den im Aufenthaltsgesetz enthaltenen Vorschriften vermag nur § 56 Abs. 1 Satz 1 dem Kläger
Ausweisungsschutz zu vermitteln.
26 Denn im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung war der Kläger bereits
22 Jahre alt und damit nicht mehr Heranwachsender. Der Schutz des § 56 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (a.F.) kam
ihm damit nicht mehr zugute. Es kann offen bleiben, was zu gelten hat, wenn das Regierungspräsidium den
Erlass einer Ausweisungsverfügung bewusst verschleppt, um dadurch Ausweisungsschutz herabzusetzen (vgl.
dazu BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, InfAuslR 1997, 152 sowie GK-AuslR, § 48 Rn. 116 zur vergleichbaren
Vorgängervorschrift § 48 Abs 2 AuslG). Hier war es jedoch so, dass zwar der Verdacht einer erheblichen
Straftat des Klägers dem Regierungspräsidium frühzeitig bekannt geworden war, die in Betracht kommende
Ausweisungsvorschrift, § 53 Nr. 1 AufenthG, aber eine rechtskräftige Verurteilung voraussetzt. Das
Regierungspräsidium war also gehalten, nicht nur den Urteilserlass, sondern auch die Rechtskraftmitteilung
abzuwarten (so auch BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, a.a.O., wo auf „Kenntnis von der rechtskräftigen
Verurteilung“ abgestellt wird). Diese ging beim Regierungspräsidium erst 12 Tage vor dem 22. Geburtstag des
Klägers ein. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal klar, ob die damalige Bevollmächtigte des Klägers
nicht noch Stellung nehmen würde, so dass von einer Verschleppung der Entscheidung nicht ausgegangen
werden kann.
27 2. Eine Widerlegung der im Falle des Klägers bestehenden doppelten Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3
und 4 AufenthG ist ihm nicht gelungen.
28 Der nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestehende besondere Ausweisungsschutz erhöht sich nicht
deswegen, weil der Kläger wohl mehrere in Satz 1 genannten Tatbestände verwirklicht (vgl. dazu VGH Bad.-
Württ., Urt. v. 31.3.2003, VBlBW 2004, 66 zur Rechtslage unter Geltung des AuslG). Er löst aber zwei Folgen
aus: Zum einen kann der Kläger nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der
öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden, deren Vorliegen nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vermutet wird,
zum anderen wird die nach § 53 AufenthG zwingende Ausweisung über die Bestimmung des § 56 Abs. 1 Satz
4 AufenthG zur Regelausweisung herabgestuft. Beruft sich ein Ausländer in dieser Fallkonstellation auf das
Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalles, ist zu beachten, dass er sich einer zweifachen gesetzlichen
Regelvermutung gegenüber sieht: Sofern atypische Ausnahmefälle nicht erkennbar sind, wird sowohl das
Vorliegen „schwerwiegender Gründe“ im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsanlasses vermutet, als
auch die Gebotenheit einer Ausweisung ohne Ermessensausübung. Bei der Prüfung eines atypischen
Ausnahmefalls von der (ersten) Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG finden (nur) solche
besonderen (tatbezogenen) Umstände des Einzelfalles Berücksichtigung, die dazu führen, dass die spezial-
und generalpräventiven Zwecke des § 53 AufenthG nicht im erforderlichen Ausmaß zum Tragen kommen.
Demgegenüber sind alle sonstigen Besonderheiten, also persönliche Umstände wie etwa familiäre Bindungen,
im Rahmen der Prüfung nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl.
v. 18.1.2006 - 11 S 2370/05 -; Urt. v. 16.3.2005 - 11 S 2885/04 -, FamRZ 2005, 1907 zur Rechtslage
unter Geltung des Ausländergesetzes).
29 a) Wird diese Systematik beachtet, ist festzuhalten, dass der Kläger tatbezogene Umstände, welche die
Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG widerlegen könnten, schon nicht geltend macht.
30 Solche sind auch nicht erkennbar. Insoweit nimmt das Gericht auf die ausführlichen und zutreffenden
Ausführungen im Bescheid des Regierungspräsidiums zum Bestehen eines spezial- und generalpräventiven
Ausweisungsbedürfnisses Bezug (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO). Insbesondere geht auch der Berichterstatter von
einer deutlich gesteigerten Wiederholungsgefahr beim Kläger aus, ohne dass diese Feststellung einer
Beiziehung der Strafakten bedurfte. Denn schon aus den Gründen der Strafurteile lässt sich hinreichend
deutlich entnehmen, dass er seine Straftaten nicht in psychischen Ausnahmesituationen, sondern jeweils aus
einem jederzeit wieder möglichen Geldmangel begangen hat. Ebenso spricht die rasche Folge der Begehung
der Taten für sich (Ahndung von Diebstahlsvergehen am 10.7.2005; Raub von Kraftfahrzeugen am
10./11.9.2005, Bankraub am 13.9.2005). Besonders hervorzuheben ist, dass der Kläger nicht etwa nach einer
ersten Verhaftung am 20.9.2005 wegen des Bankraubs „reinen Tisch gemacht“ und auch den damals noch
nicht aufgeklärten Raub der Kraftfahrzeuge gestanden hat. Vielmehr hat er diese Tat bis zu den Geständnissen
von Mittätern verschwiegen.
31 b) Persönliche Umstände, die eine Ausnahme von der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 54
AufenthG rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.
32 Das bedarf an dieser Stelle keiner Ausführungen, da insoweit keine strengeren Kriterien gelten können, als bei
der Prüfung der Vereinbarkeit der Ausweisung des Klägers mit Art. 8 EMRK (vgl. dazu nachfolgend 3.). Die
Voraussetzungen dieser Norm der Menschenrechtskonvention sind nicht etwa bei der Prüfung der Regel-
Ausnahmevermutung des § 54 AufenthG vorzunehmen. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 10.5.2007 (InfAuslR 2007, 275) wird zwar ausgeführt:
33
„Bei der daran anschließenden Frage, ob ein Regelfall im Sinne des § 54 AufenthG vorliegt, ist zu
prüfen, ob eine Regel-Ausweisung einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht des
Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellt; wenn
dies zu verneinen ist, liegt ein Ausnahmefall im Sinne des § 54 AufenthG vor und eine Ausweisung
muss unterbleiben (vgl. Discher, GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rn. 886; Hailbronner,
Ausländerrecht, § 54 AufenthG, 43. Aktualisierung Oktober 2005, Rn. 55 f.; s. auch Oldenburg,
InfAuslR 1999, S. 174 <177>).“
34 Diese Auffassung verkennt jedoch, dass das Vorliegen eines Ausnahmefalles nach ganz überwiegender
Auffassung gerade nicht zu einem Ausweisungsverbot führt, sondern nur zur Eröffnung eines sonst nicht
gegebenen Ermessens (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschl. v. 13.11.1995, InfAuslR 1996, 103 zu § 47 Abs. 2
AuslG; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 5.10.1994 - 11 S 1202/94 - zu § 47 Abs. 2 AuslG; Discher in GK-
AufenthG, § 54 Rn. 117; Albrecht in: Storr/Wenger u.a., Komm. z. ZuwG, § 54 Rn. 3.). Dagegen ergibt sich aus
einer Unvereinbarkeit einer Ausweisung mit Art. 8 EMRK deren unbedingte Unzulässigkeit. Daher ist die
Vereinbarkeit einer Ausweisung mit Art. 8 EMRK jeweils außerhalb des Systems der §§ 53 ff. AufenthG zu
prüfen, gerade um dieser Bestimmung umfassend Rechnung tragen zu können.
35 3. Die Ausweisung des Klägers ist auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation mit Art. 8 EMRK
vereinbar .
36 Der einschlägige Passus des Artikels 8 der Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. II,
2002, S. 1054) lautet wie folgt:
37
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (...) (2) Eine Behörde darf
in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten,
zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
38 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben die Vertragsstaaten zur
Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, die Befugnis, einen strafrechtlich
verurteilten Ausländer auszuweisen. Ihre Entscheidungen auf diesem Gebiet müssen jedoch, sofern sie in ein
nach § 8 Abs. 1 geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig sein, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem
angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (vgl. insbesondere die Urteile des EGMR v. 28.6.2007 -
Kaya -, a.a.O.; v. 22.3.2007 - Maslov -, InfAuslR 2007, 221; v. 18.10.2006 - Üner -, DVBl 2007, 689; v.
2.8.2001 - Boultif -, InfAuslR 2001, 476).
39 a) Ohne Frage greift die Ausweisung des Klägers in sein Recht auf Privatleben (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 1. Alt.
EMRK) ein. Da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen Entscheidungen wohl einen weiten
Familienbegriff zugrundelegt (vgl. etwa Urt. v. 18.2.1991 - Moustaquim -, InfAuslR 1991, 149), ist trotz der
Volljährigkeit des Klägers auch von einem Eingriff in sein Familienleben im Verhältnis zu seinen Eltern und
Geschwistern auszugehen; ähnliches dürfte für das Familienleben im Hinblick auf seine Verlobte gelten.
40 b) Ebenso fraglos ist die Ausweisung eine in der Bundesrepublik gesetzlich vorgesehene Maßnahme.
41 c) Zu prüfen bleibt jedoch, ob die Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist und in einem
angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. Anerkannte Prüfungskriterien sind hierbei (vgl. nochmals
die genannten Urteile des EGMR):
42
- die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat,
- die Dauer des Aufenthalts des Ausländers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll,
- die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland,
- die seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit,
- die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen,
- die familiäre Situation des Ausländers, wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die
Effektivität des Familienlebens eines Paares zum Ausdruck bringen,
- den Umstand, ob der Gatte bzw. die Gattin über die Straftat informiert war, als die familiäre
Beziehung aufgenommen wurde,
- den Umstand, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind, und wenn ja, deren Alter, und
- das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Gatte bzw. die Gattin in dem Land, in das der Ausländer
abgeschoben werden soll, voraussichtlich begegnen wird.
43 Im Blick auf diese Kriterien ist die Ausweisung des Klägers noch verhältnismäßig, auch wenn nicht verkannt
werden darf, dass der Start zu einem vorübergehenden Aufenthalt auf den Philippinen überaus schwierig
werden kann. Denn zunächst hat der Kläger - neben anderen Straftaten - eine schwere Straftat begangen, die
einen anderen Menschen an den Rand des Todes gebracht hat. Er ist auch nicht im Bundesgebiet geboren und
aufgewachsen, sondern verbrachte die ersten 9 Jahre seines Lebens auf den Philippinen und besuchte dort die
ersten drei Schulklassen. Im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR (vgl. dazu insbes. Urt. v. 22.3.2007
- Maslov -, a.a.O.) und auch nach Vernehmung seiner Mutter als Zeugin in der mündlichen Verhandlung geht
der Berichterstatter davon aus, dass auf Grund dieser Sozialisation nicht jede Kenntnis der Herkunftssprache
Philippino (Tagalog) verschüttet sein kann. Zwar hat die Zeugin ausgesagt, man habe unmittelbar nach
Einreise des Klägers auf Wunsch des deutschen Ehemannes nur noch Deutsch miteinander gesprochen. Doch
waren selbst die heutigen Deutschkenntnisse der Mutter des Klägers 15 Jahre nach ihrer Einreise nicht so,
dass es vorstellbar gewesen wäre, sie habe mit dem Kläger von Anfang an nur deutsch sprechen können (die
Angaben der Zeugin sind, wie im Protokoll vermerkt, nur sinngemäß wiedergegeben worden; manche Fragen
mussten mehrfach gestellt werden). Zudem betont das Auswärtige Amt in seiner Länderinformation Philippinen,
dass die allgemeine Verkehrssprache dort ohnehin Englisch sei, welches der Kläger einigermaßen beherrscht.
44 In Deutschland hat er inzwischen zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber noch keine Berufsausbildung.
Die strafgerichtlichen Urteile und Haftbefehle heben hervor, dass die soziale Integration des Klägers
weitgehend in der später kriminellen Clique stattgefunden habe. Darüber hinaus sei er wenig integriert. Eine
Integration in Vereine, Kirchengemeinden etc. konnte er auch in der mündlichen Verhandlung nicht darlegen.
Seine deutsche Freundin hat er schon vor den Straftaten kennengelernt; eine Eheschließung ist bislang noch
nicht erfolgt. Wenn sie in Kürze erfolgen wird, wie der Kläger betont, erfolgt sie nicht nur in Kenntnis der
Straftaten, sondern auch der drohenden Abschiebung. Andererseits sichert diese Eheschließung dem Kläger
eine Rückkehrmöglichkeit und eine günstige Befristungsentscheidung, da der künftigen Ehegattin als deutscher
Staatsangehörigen eine Ausreise auf die Philippinen nicht zumutbar ist.
45
II.
46 Der Kläger ist auf Grund des Erlöschens seiner Niederlassungserlaubnis durch die wirksame Ausweisung
ausreisepflichtig (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG; § 50 Abs. 1 AufenthG). Auf eine Fristsetzung in der Androhung
konnte ungeachtet der Formulierung des § 59 Abs. 1 AufenthG schon vor Inkrafttreten von § 59 Abs. 5
AufenthG n.F. verzichtet werden (vgl. etwa Storr/Wenger, Komm. z. ZuwG, § 59 Rn. 3). Die gegenteilige
Auffassung verkennt, dass die Warnfunktion der Androhung auch durch die - vom Regierungspräsidium
verfügte - Abschiebungsankündigung erreicht wird. Abschiebungsverbote, welche der Bezeichnung des
Zielstaates entgegenstehen könnten, sind weder geltend gemacht, noch erkennbar.
47 Da der Kläger unterliegt, hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
48 Gründe, die eine Berufungszulassung durch das Verwaltungsgericht ermöglichen (§ 124 a Abs. 1 Satz 1
VwGO), sind nicht erkennbar.