Urteil des VG Stuttgart vom 24.11.2008

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VG Stuttgart Urteil vom 24.11.2008, 11 K 3574/08
(Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet bei einem
freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger - zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit)
Leitsätze
1. § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU fordert keinen ununterbrochenen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im
Bundesgebiet.
2. § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU ist richtlinienkonform in der Weise auszulegen, dass Verurteilungen mit einem
Strafmaß von mindestens 5 Jahren nur dann Berücksichtigung finden können, wenn die zu Grunde liegenden
Straftaten die innere oder äußere Sicherheit des Staates gefährden.
Tenor
Der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.08.2008 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im
Bundesgebiet sowie gegen die ihm angedrohte Abschiebung.
2
Der am … 1978 im Bundesgebiet geborene Kläger ist griechischer Staatsangehöriger. Im Jahr 1996 machte er
seinen Hauptschulabschluss; eine Berufsausbildung nahm er nicht auf. Von März 2004 bis Mitte Oktober 2004
betrieb er auf der Insel Rhodos einen Crêpe-Stand. Ab Dezember 2004 arbeitete der Kläger in Deutschland in
einem Fitnessstudio. Mitte Oktober 2005 kehrte er nach Rhodos zurück und betrieb seinen Crêpe-Stand weiter.
Am 22.11.2005 erließ das Amtsgericht Stuttgart einen internationalen Haftbefehl gegen den Kläger, woraufhin
er am 19.11.2006 in Rhodos festgenommen wurde. Am 19.03.2007 wurde der Kläger nach Deutschland
überführt und befindet sich seitdem in Haft.
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Seit Oktober 2001 ist der Kläger im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis/EG.
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Der Kläger ist wie folgt vorbestraft:
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1. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 14.10.1998 wegen Besitzes eines
verbotenen Gegenstandes: Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen.
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2. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 15.06.1999 wegen gefährlicher
Körperverletzung: Geldstrafe in Höhe 100 Tagessätzen.
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3. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 08.02.2000 wegen vorsätzlicher
Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung: Geldstrafe von 50 Tagessätzen.
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4. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 05.09.2002 wegen Nötigung in Tateinheit mit
vorsätzlicher Körperverletzung: Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen.
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5. Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28.08.2007 wegen unerlaubten bandenmäßigen
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen: Gesamtfreiheitsstrafe
von 6 Jahren und 6 Monaten.
10 Im Rahmen des eingeleiteten Ausweisungsverfahrens trug der Kläger mit Schriftsatz vom 13.09.2007 vor, im
Hinblick auf seine schwer erkrankte Mutter in Griechenland habe er gegen eine Abschiebung keine Einwände.
Es müsse jedoch eine Befristung für eine eventuelle Wiedereinreise in das Bundesgebiet ausgesprochen
werden.
11 Mit Bescheid vom 19.08.2008 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart den Verlust des Rechts des Klägers
auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest und drohte ihm die Abschiebung nach Griechenland ohne
Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an. Zur Begründung wurde ausgeführt, auf Grund des Urteils des
Landgerichts Stuttgart vom 28.08.2007 werde das Mindeststrafmaß von 5 Jahren überschritten, so dass
zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 a RL 2004/38/EG bzw. § 6 Abs. 5
FreizügG/EU vorlägen. Das persönliche Verhalten des Klägers gefährde aktuell die öffentliche Ordnung. Die
vom Kläger begangenen Betäubungsmittelstraftaten seien ausgesprochen schwerwiegend. Es bestehe eine
konkrete Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei offensichtlich allein aus finanziellen Gründen bereit gewesen,
sich am illegalen Handel mit Rauschgift aktiv zu beteiligen. Die mit dem Handeltreiben von Betäubungsmitteln
verbundenen Probleme für rauschgiftabhängige Personen und für die Gesellschaft seien dem Kläger
vollkommen gleichgültig gewesen. Es bestehe ein Grundinteresse der Gesellschaft daran, dass die besonders
sozial schädliche Rauschgiftkriminalität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wirksam bekämpft werde.
Der Kläger sei entweder nicht willens oder nicht in der Lage gewesen, sich an die bestehende Rechtsordnung
zu halten. Er habe mit einer ausgesprochen hohen kriminellen Energie Straftaten begangen. Daher lasse sich
nicht ausschließen, dass der Kläger erneut aus finanziellen Gründen und/oder Geldmangel wieder ähnlich
kriminell werde. Ein eventuell beanstandungsfreies Verhalten im Strafvollzug lasse keinen Rückschluss auf
eine fehlende Wiederholungsgefahr zu. Nachdem somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6
FreizügG/EU erfüllt seien, stehe die Entscheidung im Ermessen der Behörde. Bei dieser
Ermessensentscheidung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger schwerwiegend gegen die bestehende
Rechtsordnung im Bundesgebiet verstoßen habe. Sein privates Interesse, von der Feststellung des Verlustes
des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen der Dauer seines langen rechtmäßigen Aufenthaltes verschont
zu bleiben, überwiege nicht das herausragende öffentliche Interesse an der wirksamen Bekämpfung der
Betäubungsmittelkriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut ähnlich gelagerte Straftaten
begehe, sei ausgesprochen hoch. Da der Kläger sich in den letzten Jahren mehrere Monate in seinem
Heimatland aufgehalten habe, sei nicht zu erwarten, dass er nach der Abschiebung in seinem Heimatland
Schwierigkeiten haben werde, sich an die dortigen Lebensverhältnisse zu gewöhnen. Eventuelle persönliche
Bindungen im Bundesgebiet hätten den Kläger nicht davon abgehalten, Straftaten zu begehen. Die
Wiederholungsgefahr rechtfertige auch den Eingriff in das freie Zugangsrecht des Klägers als EG-Angehöriger
zum deutschen Arbeitsmarkt. Die angeordnete Maßnahme sei geeignet, die vom Kläger ausgehende Gefahr zu
beseitigen. Ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich. Durch die angeordnete Maßnahme werde eine bereits
aufgebaute wirtschaftliche Existenzgrundlage nicht zerstört. Auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten
seien gleichwertige Maßnahmen nicht erkennbar. Der besondere Ausweisungsschutz aus § 56 Abs. 1
AufenthG sei nicht höher einzustufen als der des § 6 FreizügG/EU. Der Eingriff in das Privat- und
Familienleben des Klägers sei im Hinblick auf die von ihm verübten schwerwiegenden Straftaten im
überwiegenden Interesse der Verteidigung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von weiteren
strafbaren Handlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt, ohne dass gleichwertige private,
familiäre Belange ersichtlich wären, die ein Absehen von der Feststellung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit
gebieten würden. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setze eine vollziehbare Ausreisepflicht nicht
voraus. Da eine Aufforderung zur Ausreise innerhalb von einem Monat wegen der Inhaftierung des Klägers
etwas Unmögliches verlangen würde, sei die Abschiebung ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise
angedroht worden. Dem Kläger müsse keine Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise gegeben werden. Vielmehr
dürfe die nach § 7 Abs. 1 S. 3 und 4 FreizügG/EU obligatorische Frist in die Zeit der Haft fallen. Da die
Abschiebung frühestens innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Verfügung erfolgen werde, sei die
Mindestfrist des § 7 Abs. 1 S. 3 und 4 FreizügG/EU eingehalten.
12 Am 17.09.2008 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, seine Familie lebe zum großen
Teil in Deutschland. Das Landgericht Stuttgart habe in seinem Urteil vom 28.08.2007 festgestellt, dass er nur
untergeordnetes Bandenmitglied und auf Grund seiner familiären Verpflichtung in die Straftat involviert gewesen
sei. Da er in Deutschland aufgewachsen sei und seine berufliche Ausbildung in Deutschland genossen habe,
sei eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht ersichtlich. Auch
habe er eine intensive Bindung zu seinem in Deutschland lebenden Vater, der ihn regelmäßig in der JVA
Heimsheim besuche. Die Tatsache, dass er sich freiwillig der Polizei gestellt habe, zeige, dass er mit den ihm
vorgeworfenen Straftaten abgeschlossen habe. Im Rahmen einer Zukunftsprognose sei deshalb davon
auszugehen, dass er nach Verbüßung der Strafhaft keine Gefahr für die öffentliche Ordnung mehr darstelle. Die
Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet sei somit
unverhältnismäßig.
13 Der Kläger beantragt,
14
den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.08.2008 aufzuheben.
15 Der Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17 Er verweist auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung.
18 In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers vorgetragen, die Mutter des
Klägers halte sich gegenwärtig bei deren Tochter in Australien auf. Ein Bruder des Klägers befinde sich in Haft,
ein weiterer Bruder sei noch auf der Flucht. Ab Frühjahr 2009 werde sich die Mutter des Klägers endgültig bei
ihrem Ehemann in Deutschland aufhalten.
19 Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
20 Das Gericht kann trotz Ausbleibens eines Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung
entscheiden, da er bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
21 Der am 05.12.2008 und damit nach Schluss der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangene Schriftsatz
des Prozessbevollmächtigten des Klägers gibt keine Veranlassung, die mündliche Verhandlung wieder zu
eröffnen (§ 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
22 Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.08.2008 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
23 Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids, der das auf Gemeinschaftsrecht beruhende Recht des
Klägers auf Einreise nach Deutschland und dessen Aufenthalt in Deutschland betrifft, ist nach der Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu beurteilen, da der Kläger freizügigkeitsberechtigter
Unionsbürger ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 30/02 -, BVerwGE 121, 297; vgl. auch BVerwG,
Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06, BVerwGE 130, 20, wonach seit dem Inkrafttreten des
Richtlinienumsetzungsgesetzes für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern
einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich ist).
Maßgebend ist somit das Freizügigkeitsgesetz/EU i.d.F. des Gesetzes vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970).
24 Der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt kann bei Unionsbürgern wie dem Kläger nur aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden, wobei die Tatsache einer
strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht genügt, um eine derartige Entscheidung zu begründen. Es
muss ferner eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der
Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU). In Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG vom
29.04.2004 (sog. Freizügigkeitsrichtlinie) darf eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei mehr
als zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen
werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU).
25 Das Regierungspräsidium Stuttgart hat im angefochtenen Bescheid zutreffend festgestellt, dass § 6 Abs. 5
FreizügG/EU zu Gunsten des Klägers eingreift, da er sich seit seiner Geburt und damit weit mehr als die
letzten zehn Jahre im Bundesgebiet aufgehalten und der Kläger das Daueraufenthaltsrecht aufgrund seiner
Aufenthalte auf Rhodos auch nicht verloren hat (§ 4a Abs. 7 FreizügG/EU). Zwar hat sich der Kläger von März
2004 bis Mitte Oktober 2004 sowie von Mitte Oktober 2005 bis März 2007 in Griechenland aufgehalten. § 6
Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU fordert jedoch keinen ununterbrochenen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im
Bundesgebiet (a.A. Harms in: Storr/Wenger u.a., ZuwG, § 6 FreizügG/EU RdNr. 19). Dies folgt bereits aus
einem Vergleich zwischen § 6 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU und § 4 a Abs. 1 und Abs. 6 FreizügG/EU. Während §
4 a Abs. 1 FreizügG/EU einen ununterbrochenen Aufenthalt von fünf Jahren fordert und in Abs. 6 regelt, dass
die Kontinuität des Aufenthalts durch gewisse Abwesenheiten nicht berührt wird, ist von einem
ununterbrochenen, ständigen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat in § 6 Abs. 5 S.
1 FreizügG/EU gerade keine Rede. Deshalb erschien dem Richtliniengeber eine Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG
entsprechende Regelung in Art. 28 RL 2004/38/EG entbehrlich. Für die vom Gericht gewählte Auslegung des §
6 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU spricht auch die 24. Begründungserwägung der Richtlinie 2004/38/EG. Danach soll
eine Ausweisung gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates
aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben lang ihren
Aufenthalt gehabt haben, nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingenden Gründen der öffentlichen
Sicherheit verfügt werden. Nach dieser Begründungserwägung wird gerade nicht vorausgesetzt, dass sich die
Unionsbürger seit vielen Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat aufhalten; für den besonderen Schutz vor
Ausweisung im Sinne des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG wird vielmehr nach der 24. Begründungserwägung als
ausreichend angesehen, dass Unionsbürger sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates
aufgehalten haben. Da der Kläger im Bundesgebiet geboren ist und er mit Ausnahme der genannten
Aufenthaltszeiten in Griechenland sein gesamtes Leben im Bundesgebiet zugebracht hat, bestehen für das
Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger sich auf § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen kann.
26 Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums Stuttgart liegen die von § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU
geforderten zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Falle des Klägers jedoch nicht vor.
27 Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG nennt im Unterschied zu Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG nur die öffentliche
Sicherheit, nicht aber auch die öffentliche Ordnung als zulässigen Anknüpfungspunkt einer Ausweisung. Der
gemeinschaftsrechtliche Rechtsbegriff der öffentlichen Sicherheit umfasst (nur) die innere und die äußere
Sicherheit eines Mitgliedstaates (vgl. EuGH, Urteil vom 11.03.2003, C 186/01 „Dory“, Slg. 2003 I-I-2479 RdNr.
32). Der Begriff der öffentlichen Sicherheit ist damit enger als der Begriff der öffentlichen Ordnung, der auch die
innerstaatliche Strafrechtsordnung umfasst (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 -
juris -). Strafrechtliche Verfehlungen sind dementsprechend als Gefährdung der öffentlichen Ordnung
anzusehen (vgl. EuGH, Urteil vom 29.04.2004, C - 482/01 und C - 493/01 „Orfanopoulos und Oliveri“, Slg.
2004, I-5257, RdNr. 62 ff.). Angesichts dieses Begriffsverständnisses bestehen Bedenken, ob Art. 28 Abs. 3
RL 2004/38/EG in nationales Recht ordnungsgemäß umgesetzt worden ist, denn § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU
nennt als zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht nur die Sicherheit der Bundesrepublik
Deutschland und terroristische Gefahren, sondern auch rechtskräftige Verurteilungen wegen vorsätzlicher
Straftaten zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren oder die Anordnung von
Sicherungsverwahrung (vgl. HK-AuslR/Alexy, § 6 FreizügG/EU RdNr. 34). Nach Auffassung des Gerichts kann
§ 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU indes richtlinienkonform in der Weise ausgelegt werden, dass Verurteilungen mit
einem Strafmaß von mindestens fünf Jahren nur dann Berücksichtigung finden können, wenn die zu Grunde
liegenden Straftaten die innere oder äußere Sicherheit des Staates gefährden (vgl. auch Harms a.a.O. RdNr.
23; OVG Lüneburg, Urteil vom 27.03.2008, InfAuslR 2008, 285). Es ist deshalb verfehlt, aus dem
Überschreiten des in § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU genannten Mindeststrafmaßes stets auf das Vorliegen von
zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu schließen, wie dies im angefochtenen Bescheid geschehen
ist (ebenso allerdings auch VG Ansbach, Beschluss vom 19.05.2008 - AN 19 K 08.00323 - juris - und Urteil
vom 30.10.2007 - AN 19 K 06.01797 - juris -; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.07.2008 - 24 K 3265/08
- juris -).
28 In Anwendung dieser Grundsätze geht für das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit vom Kläger keine
Bedrohung aus. Der Kläger stellt möglicherweise eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, jedoch
keineswegs für den Bestand des Staates und seiner Institutionen oder das Überleben der Bevölkerung dar;
derartiges wird vom Beklagten auch nicht geltend gemacht.
29 Da die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt bereits gegen § 6 Abs. 5
FreizügG/EU verstößt, bedarf keiner Entscheidung, ob die im angefochtenen Bescheid enthaltenen
Ermessenserwägungen fehlerfrei sind.
30 Hat der Kläger mithin sein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht verloren,
erweist sich auch die gegen ihn verfügte Abschiebungsandrohung als rechtswidrig. Der angefochtene Bescheid
unterliegt daher auch insoweit der Aufhebung.
31 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
32 Die Zulassung der Berufung folgt aus § 124 a Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die Rechtsstreitigkeit
wirft gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfragen auf, die abschließend der Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften klären müsste. Deshalb liegt eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (vgl. auch
BVerfG, Beschl. v. 25.08.2008 - 2 BvR 2213/06 -, Asylmagazin 12/2008, 37).