Urteil des VG Stuttgart vom 09.11.2012

VG Stuttgart: ablauf der frist, abschiebung, alter, kolumbien, stiefvater, ausweisung, zukunft, aufenthaltserlaubnis, haftentlassung, befristung

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 9.11.2012, 11 S
2200/12
Leitsätze
Eine Entscheidung über die Dauer des Einreiseverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG bzw. Art. 11
Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie muss spätestens in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang
mit der Anordnung der Abschiebung vorliegen (Fortführung der Senatsrechtsprechung; vgl. Urteil
vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - ).
Ob eine Befristungsentscheidung den rechtlichen Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes bzw. der
Rückführungsrichtlinie entspricht, kann regelmäßig einer Klärung im Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist bzw.
im Bundesgebiet lebende Angehörige hat. Art. 13 Abs. 1 und 2 der Rückführungsrichtlinie
gebietet in diesen Fällen nicht, dass den Betroffenen zur Durchführung des
Hauptsacheverfahrens der vorläufige Aufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht wird.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe
vom 26. Oktober 2012 - 4 K 2686/12 - wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der Senat entscheidet mit Rücksicht auf die am 12.11.2012 vorgesehene Abschiebung
des Antragstellers nach Kolumbien über die am 08.11.2012 bei ihm mit einer Begründung
eingegangene Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom
26.10.2012 vor Ablauf der Frist nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO.
2 Die Beschwerde des Antragstellers, mit der er die vorläufige Aussetzung der Abschiebung
begehrt, bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, dem
Antragsteller im Wege einer einstweiligen Anordnung den weiteren Aufenthalt im
Bundesgebiet zu ermöglichen. Der Senat schließt sich der Begründung des
Verwaltungsgerichts an (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO) und führt ergänzend aus:
3 1. Entgegen der Auffassung des am 17.02.1987 geborenen Antragstellers, der seit Januar
1996 im Bundesgebiet lebt, im Jahre 2003 den Werkrealschulabschluss erreicht hat und
hier über familiäre Bindungen verfügt, steht die zwangsweise Beendigung seines
Aufenthalts mit dem Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8
Abs. 1 EMRK in Einklang. Die Maßnahme erweist sich als ein nach Art. 8 Abs. 2 EMRK
verhältnismäßiger Eingriff.
4 Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zieht der Senat die in der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten sog. Boultif/Üner-Kriterien
heran (vgl. EGMR, Urteile vom 02.08.2001 - Nr. 54273/00 InfAuslR 2001, 476,
vom 18.10.2006 - Nr. 46410/99 <Üner> NVwZ 2007, 1279, vom 23.06.2008 - Nr. 1683/03
InfAuslR 2008, 333, vom 25.03.2010 - Nr. 40601/05 InfAuslR 2010,
325, und vom 13.10.2011 - Nr. 41548/06 - juris). Nach diesem nicht
notwendigerweise abschließenden Kriterien- und Prüfkatalog sind folgende
Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer
begangenen Straftaten; das Alter des Ausländers bei Begehung der Straftaten; der
Charakter und die Dauer des Aufenthalts im Land, das der Ausländer verlassen soll; die
seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der
Tat, insbesondere im Strafvollzug; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre
Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere
Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; der Grund für
die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das gegebenenfalls
abgeschoben werden soll; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung
Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall
deren Alter; das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere der Umfang der
Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs.
abgeschoben werden soll; die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären
Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits.
5 Der Antragsteller konsumiert seit seinem 14./15. Lebensjahr regelmäßig Drogen (wie
Cannabis, Ecstasy, sog. Supermann-Pillen oder Kokain) und ist im Zusammenhang mit
dem Drogenmissbrauch in erheblichem Maße straffällig geworden (vgl. hierzu die
Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 13.04.2012). Zuletzt
verhängten das Amtsgericht Lampertheim mit Urteil vom 26.08.2010 wegen
Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem
Jahr und sechs Monaten und das Amtsgerichts Heidelberg wegen versuchter schwerer
Brandstiftung am 08.12.2010 eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten. Das
Landgericht Heidelberg bildete in seinem Urteil vom 09.03.2011 hieraus eine
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten. Sowohl aus den Gründen dieses
Urteils, mit dem die Berufung des Antragstellers gegen das Urteil des Amtsgerichts
Heidelberg verworfen wurde, als auch aus den Entscheidungen der Amtsgerichte ergibt
sich, dass der Antragsteller ohne die Bewältigung seiner Drogenprobleme voraussichtlich
auch in Zukunft immer wieder Straftaten begehen wird, und er ein jähzorniges,
unberechenbares Temperament sowie ein massives Gewaltproblem hat, das in
besonderem Maße in den Körperverletzungsdelikten gegenüber seiner früheren
Lebensgefährtin zu Tage trat. Bei Begehungen dieser Taten am 17.01. und 20.01.2010
war er fast 23 Jahre alt und lebte zu diesem Zeitpunkt mit ihr und dem gemeinsamen am
01.07.2005 geborenen Kind in familiärer Lebensgemeinschaft. Zwar wird mit der
Beschwerdebegründung vorgetragen, es habe sich um eine Beziehungstat gehandelt, die
er weder geplant noch gewollte habe, sondern die aus einem Streit entstanden und er
durch Alkohol und Drogen enthemmt gewesen sei; auch habe er die Tat im Nachhinein
sehr bedauert. Er sei sonst nie wegen Körperverletzungsdelikten aufgefallen. Nach den
Feststellungen des Amtsgerichts Lampertheim war es jedoch bereits zuvor zu
wiederholten Tätlichkeiten des Antragstellers gekommen, weil er eifersüchtig war. Vor
allem sind aber durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass er - wie von ihm in der
Beschwerde geltend gemacht - durch die erlittene Strafhaft nachgereift und fest
entschlossen sei, sein zukünftiges Leben in Griff zu bekommen, nicht erkennbar.
6 Die dem Senat vorliegenden Stellungnahmen der JVA Mannheim vom 22.03.2012 und
11.11.2011 sowie die Ausführungen zum Vollzugsplan vom 08.06.2011 und dessen
Fortschreibung vom 06.07.2012 verdeutlichen eindrucksvoll, dass der Antragsteller auch
während des Strafvollzugs ohne Grund aggressiv und jähzornig reagiert, er erhebliche
Defizite im Bereich der Emotionsregulierung hat sowie eine Auseinandersetzung mit
seinem bisherigen delinquenten Lebensweg und eine Aufarbeitung der den Straftaten
zugrunde liegenden Ursachen bis heute nicht stattgefunden hat. Die selbst im
strukturierten und reglementierten Alltag des Strafvollzugs zu Tage tretende
Aggressionsproblematik ist bislang unbehandelt geblieben. Gleiches gilt für die ebenfalls
behandlungsbedürftige Drogenabhängigkeit. Ein Kontakt zur Drogenberatung wurde
abgebrochen, nachdem eine Kostenzusage für eine stationäre Drogentherapie ausblieb.
Obwohl dem Antragsteller vom Sozialdienst der JVA angeraten wurde, wieder den Kontakt
zur dortigen Drogenberatung aufzunehmen, kam er dem nicht nach. Auch eine berufliche
Qualifizierungsmaßnahme lehnte er ungeachtet dessen ab, dass er über keine
abgeschlossene Ausbildung verfügt und zuletzt Leistungen nach SGB II erhielt.
7 Es besteht daher eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller, der seit dem
Ablauf seiner zuletzt bis zum 19.11.2010 befristen Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2
AufenthG über keinen Aufenthaltstitel mehr verfügt und seit diesem Zeitpunkt vollziehbar
ausreisepflichtig ist (vgl. hierzu auch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe
vom 02.11.2012 - 4 K 2702/12 -zum Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom
26.10.2012, mit dem ein Antrag vom 23.10.2012 auf „Verlängerung“ der
Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden ist), erneut weitere erhebliche Straftaten begehen
wird. Die Arbeitsplatzzusage seines Stiefvaters für die Zeit nach der Haftentlassung ändert
hieran nichts. Abgesehen davon, das in der Vergangenheit bereits ein
Beschäftigungsverhältnis bei seinem Stiefvater bestand, dieses jedoch aufgrund der nur
unregelmäßigen Arbeit des Antragstellers im Laufe des Jahres 2009 endete (vgl. die
Feststellungen im Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 09.03.2011), könnten selbst mit
einer Erwerbstätigkeit die erheblichen und bislang nicht therapierten
Persönlichkeitsdefizite des Antragstellers nicht ausgeglichen werden.
8 Der durch den Vollzug der Abschiebung bewirkte Eingriff ist auch mit Blick auf die
familiären Verhältnisse des Antragstellers verhältnismäßig.
9 Seine Mutter, sein Stiefvater und seine Geschwister leben im Bundesgebiet. Nach seinen
eigenen Angaben hat er keine sozialen Bindungen und Perspektiven in Kolumbien. Es ist
nicht ersichtlich, dass die Kontakte innerhalb der Familie über das hinausgehen würden,
was unter Erwachsenen üblich ist. Diese können auch vom Ausland aus per Telefon, E-
Mail oder Internet aufrechterhalten werden. Der Antragsteller ist mittlerweile 25 Jahre alt
und daher von seinem Alter her in der Lage, sich in seinem Herkunftsland eine Zukunft
aufzubauen, auch wenn dem möglicherweise erhebliche „Startschwierigkeiten“
vorangehen. Nach der Beschwerdebegründung spreche die Mutter des Antragstellers
zwar Spanisch mit ihm; er antworte jedoch auf Deutsch. Wie der in der Stellungnahme der
JVA vom 11.11.2011 beschriebene Vorfall im dortigen Krankenrevier vom 26.11.2010
jedoch zeigt, benutzt der Antragsteller aber auch aktiv die spanische Sprache, so dass
davon auszugehen ist, dass er alltagstaugliche Sprachkenntnisse hat oder diese
jedenfalls in kürzester Zeit in Kolumbien erwerben wird.
10 Ein Umgang mit seinem heute sieben Jahre alten Kind hat seit Februar 2010 nicht mehr
stattgefunden. Der zwangsweise Vollzug der Ausreisepflicht greift somit nicht in eine
gelebte Vater-Kind-Beziehung ein. Allerdings führt die Abschiebung dazu, dass eine
solche Beziehung auf absehbare Zeit nicht (mehr) aufgebaut werden kann. Der
Antragsteller beruft sich darauf, er habe es seiner Tochter nicht zumuten wollen, ihn in der
Haftanstalt zu besuchen, jetzt wolle er aber nach seiner Haftentlassung regelmäßig ein
Umgangsrecht ausüben und Umgangskontakte mit dem Kind wahrnehmen. Abgesehen
davon, dass der Antragsteller schon vor seiner Inhaftierung am 09.08.2010 keinen
Umgang mehr ausübte, erklärt dies nicht, warum er sich nicht auf andere Weise während
der Haft bemüht hat, Kontakt mit der Tochter herzustellen, etwa durch Telefonate oder über
Briefe an deren Mutter, die ihr hätten vorgelesen werden können, was beides möglich
gewesen wäre, ohne dass er seinen tatsächlichen Aufenthaltsort hätte offenbaren müssen
(vgl. hierzu auch die schriftliche Erklärung der Kindesmutter vom 30.10.2012). Es spricht
vielmehr alles dafür, dass das Interesse des Antragstellers an seinem Kind erst im
Zusammenhang mit der drohenden Abschiebung „erwachte“ und nicht „echt“ ist. In der
Dokumentation der JVA wurde mit Datum vom 24.05.2011 unter dem Aspekt
„Psychologische Daten“ festgehalten, dass es aktuell der Antragsteller sei, der keinen
Kontakt zu seiner Tochter wünsche, „dies könne sich bald auch wieder ändern oder auch
nicht“. Nach dortiger Einschätzung wolle der Antragsteller bestimmen und suggeriere sich
möglicherweise die Entscheidungsgewalt. Im Übrigen ist auch weder substantiiert
vorgetragen noch ersichtlich, dass ein (betreuter) Umgang dem Kindeswohl entsprechen
könnte. Ausweislich der schriftlichen Erklärung der Mutter des Kindes vom 30.10.2012 sei
ihr aufgrund der früheren Gewalterfahrung vom Jugendamt aufgegeben worden, keinen
Umgang zu gewähren. Die Persönlichkeitsmerkmale des Antragstellers, die zu diesen
Straftaten geführt haben, haben sich jedoch bis heute nicht verändert.
11 2. Soweit mit der Beschwerdebegründung vom 08.11.2012 gerügt wird, die Wirkungen der
Ausweisung und auch die der geplanten Abschiebung, die der Antragsteller nicht durch
eine freiwillige Ausreise verhindern könnte (vgl. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG), seien nicht
befristet, kann offen blieben, welche Folgen sich aus dem Umstand ergeben könnten, dass
eine Abschiebung vollzogen werden soll, ohne dass die Behörde zuvor über die Dauer
des Einreiseverbots entschieden hat (vgl. hierzu Senatsurteil vom 10.02.2012 - 11 S
1361/11 -NVwZ-RR 2012, 492). Denn der Antragsgegner hat mit Schreiben vom
09.11.2012 eine „Ergänzungsverfügung“ erlassen, in der sowohl hinsichtlich der
Sperrwirkung der Ausweisung als auch hinsichtlich der Sperrwirkung der Abschiebung
eine Entscheidung getroffen worden ist. Ob diese „Ergänzungsverfügung“ den Vorgaben
des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bzw. des Art. 11 Abs. 2 RFRL entspricht, bleibt der
Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Dort wird insbesondere der Frage
nachzugehen sein, ob eine Befristung unter aufschiebenden Bedingungen (so nach Ziff. 4
der Verfügung vom 09.11.2012 hinsichtlich der Sperrwirkung der Ausweisungsverfügung)
bzw. unter einer auflösenden Bedingung (so nach Ziff. 5 iVm Bl. 6 dieser Verfügung für die
Sperrwirkung der Abschiebung) zulässig ist oder ob bei einer bedingten Entscheidung es
letztlich an der gebotenen Befristungsentscheidung deshalb fehlt, weil in den Fällen, in
denen der Ausländer die Bedingung nicht erfüllt oder auch nicht erfüllen kann, die
Wirkungen nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bzw. das Einreiseverbot iSd Art. 11
Abs. 2 RFRL zeitlich unbegrenzt bestehen. Weder aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG noch aus
Art. 13 Abs. 1 und 2 RFRL folgt ein vorbehaltloses Rechts auf vorläufigen Aufenthalt zur
Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens in Bezug auf der Entscheidung über die
Befristung des Einreiseverbots (vgl. hierzu auch OVG BB, Beschluss vom 21.09.2012 -
OVG 3 S 98.12 - juris). Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass mit Blick auf die
persönlichen Belange des Antragstellers ausnahmsweise etwas anderes gelten müsste,
zumal der Antragsteller anwaltlich vertreten ist und im Bundesgebiet lebende Angehörige
hat.
12 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung findet
ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG.
13 Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.