Urteil des VG Sigmaringen vom 13.12.2016

einstellung des verfahrens, albanien, politische verfolgung, verwaltungsverfahren

VG Sigmaringen Urteil vom 13.12.2016, A 4 K 2750/16
Blutrache in Albanien als Verfolgungsgrund bzw. Abschiebungsverbot
Leitsätze
1. Die Bedrohung durch eine Blutfehde in Albanien, kann regelmäßig allenfalls ein Abschiebungsverbot gem. §
60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen.
2. Wird im Asylverfahren das Bestehen einer Blutfehde nach dem im sog. "Kanun" niedergelegten, tradierten
albanischen Faustrecht vorgebracht, kann dieses Vorbringen im Wege der Aussageanalyse auf seine
Glaubhaftigkeit hin zu überprüfen sein.
3. Es ist den Betroffenen regelmäßig zumutbar, zunächst in einem anderen Landesteil Albaniens Schutz zu
suchen und sich so der Blutfehde zu entziehen, wenn keine hartnäckige Verfolgung vorliegt. Ob dies der Fall ist,
hängt von Umständen des Einzelfalls ab.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt ¼, die Kläger zu 1) bis 3) tragen ¾ der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge.
2 Der nach seinen Angaben am ...03.1982 in S., Albanien, geborene Kläger zu 1) ist, wie seine am ...10.1984
in G., Albanien, geborene Ehefrau – die Klägerin zu 2) – albanischer Staatsangehöriger, albanischer
Volkszugehörigkeit und katholischer Religionszugehörigkeit. Die Kläger zu 3) und 4) sind ihre am ...04.2010
und am ...10.2013 in L., Albanien, geborenen Kinder.
3 Die Kläger zu 1) bis 3) hielten sich von 2012 bis 2013 in Schweden auf, von wo sie nach erfolgloser
Durchführung eines Asylverfahrens nach Albanien zurückkehrten. Nach Auskunft der schwedischen
Migrationsbehörde wurde der Asylantrag der Kläger zu 1) bis 3) am ...2012 abgelehnt. Die Ausreise aus
Schweden nach Albanien ist am ...2013 erfolgt.
4 Danach hielten sich die Kläger nach ihren Angaben im Asylverfahren bis zur Ausreise im Jahr 2015
durchgehend in T., L., Albanien, auf. Von dort reisten sie am ...2015 mit einem 6-sitzigen Kombi in die
Bundesrepublik Deutschland, wo sie am ...2015 ankamen. Die Asylantragstellung erfolgte am ...06.2015 in
Karlsruhe.
5 Bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am ...08.2015 in Karlsruhe gab der
Kläger zu 1) im Wesentlichen an, es gebe seit 2007 eine Blutrachefehde. Diese habe begonnen, als sein
Vater den M. S. in einem Streit über das Eigentum an einem Grundstück erschossen und dessen Freund Z.
M. angeschossen habe. Dies sei am ...03.2007 gewesen. Die Familie habe sich seither verstecken müssen.
Das Opfer habe drei Söhne, die den Tod ihres Vaters rächen wollten. Sie hätten eine Versöhnung abgelehnt.
Der Vater des Klägers zu 1) verbüße eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren und sei mittlerweile Freigänger.
Während der Freigänge sei er bei den Klägern im Haus. Er würde von einem Freund abgeholt und wieder
weggebracht. Der Kläger zu 4) sei schwer krank; er leide am Downsyndrom. Hierzu wurden ärztliche
Unterlagen vorgelegt. Er sei im Januar in Tirana operiert worden. Der Kläger zu 1) sei dann ins Krankenhaus
gefahren. Auf der Rückfahrt sei sein Freund gefahren. Ihnen sei ein Auto aufgefallen, welches hinter ihnen
hergefahren sei. Aus diesem Auto sei mit automatischen Waffen auf sie geschossen worden. Der Freund
habe die Kontrolle über den Wagen verloren. Das Auto habe sich überschlagen. Der Kläger zu 1) habe
Verletzungen am Kopf, am Fuß und am Arm gehabt. Er habe die Täter nicht identifizieren können. Einer
habe aber eine Mütze getragen. Seither sei der Kläger zu 1) zu Hause geblieben. Dieser Vorfall sei Teil der
Blutfehde gewesen. Wegen der von diesem Blutfehde-Konflikt ausgehenden Gefährdung seien die Kläger aus
Albanien ausgereist. Sie hätten sich in Albanien nicht politisch betätigt und hätten keine Probleme mit der
Polizei oder anderen staatlichen Stellen gehabt. Abgesehen von dem Vorfall mit dem Auto habe es sonst
keine anderen Vorfälle gegeben. Den Brüdern des Klägers zu 1) sei einmal ein verdächtiges Auto aufgefallen,
als sie einkaufen gewesen seien. Sie hätten aber fliehen können. Die Brüder seien das Risiko, das Haus zu
verlassen, eingegangen. Man habe sich auch um eine sog. „Besa“ bemüht. Die andere Familie habe dies
jedoch abgelehnt.
6 Wegen des Inhalts der Anhörung der Klägerin zu 2) wird auf Bl. 62-67 der Behördenakte Bezug genommen.
7 Die Behördenakte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge enthält verschiedene Arztberichte über den
Kläger zu 1) und den Kläger zu 4). Hinsichtlich des Klägers zu 1) wird u.a. eine Schussverletzung am rechten
Ellenbogen angeführt.
8 Bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Neumünster am ...11.2015 gaben der
Bruder G. N. des Klägers zu 1) und seine Ehegattin unter anderem an, dass der Angriff auf den Kläger zu 1)
erfolgt sei, während sie selbst sich in Schweden befanden. Nach der in der Behördenakte zum Asylverfahren
des G. N. enthaltenen Mitteilung der schwedischen Migrationsbehörde wurde deren Asylantrag im April
2014 abgelehnt. Die Abschiebung nach Albanien erfolgte am ...04.2014.
9 In seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Bramsche gab ein anderer Bruder des
Klägers zu 1) – G. N. – an, der Übergriff auf seinen Bruder habe sich im Jahre 2014 ereignet.
10 Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom ...2016 die Anträge auf
Durchführung weiterer Asylverfahren ab. Es stellte des Weiteren fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, forderte die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland
innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte ihnen die Abschiebung
nach Albanien an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurden auf 36 Monate befristet. Der
Bescheid wurde den Klägern am ...2016 (Bl. 117 d. Behördenakte) zugestellt. Wegen der Begründung wird
auf diesen Bezug genommen.
11 Die Kläger haben beim erkennenden Gericht am ...2016 die vorliegende Klage erhoben. Wegen der
Begründung wird die Klageschrift und die Klagebegründungsschriftsätze Bezug genommen.
12 Die Kläger zu 1)-3) beantragen,
13 die Beklagte zu verpflichten, den Klägern zu 1) bis 3) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
14 hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Klägern zu 1) bis 3) den subsidiären Schutzstatus
zuzuerkennen,
15 weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dass bei den Klägern zu 1) bis 3) Abschiebungsverbote gem.
§ 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Albanien bestehen und
16 die in Ziff. 3 des Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung, hilfsweise die darin enthaltene
Zielstaatsbestimmung (Albanien) aufzuheben,
17 und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ...2016 aufzuheben, soweit er dem
entgegensteht und
18 das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsgebot (Ziff. 4 des Bescheides) auf null zu befristen.
19 Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
20 Mit Beschluss des erkennenden Gerichts vom ...08.2016 (Az.: A 4 K .../16) wurde auf den Eilantrag der
Kläger die aufschiebende Wirkung dieser Klage teilweise angeordnet. Mit Beschluss vom ...08.2016 hat die
Kammer den vorliegenden Rechtsstreit dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
Mit Prozesserklärung vom ...07.2016 hat die Beklagte den verfahrensgegenständlichen Bescheid hinsichtlich
des Klägers zu 4) aufgehoben und den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt. Die Kläger zu 1) und 2) als
die gesetzlichen Vertreter des Klägers zu 4) erklärten in der mündlichen Verhandlung vor der Stellung der
Anträge, dass sie sich dieser Teilerledigungserklärung anschließen. In der mündlichen Verhandlung wurden
die Kläger zu 1) und 2) informatorisch angehört und die Verletzung am rechten Arm des Klägers in
Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses der Anhörung und des Augenscheins wird auf die
Sitzungsniederschrift (Bl. 105-115 der Gerichtsakte) Bezug genommen.
21 Dem Gericht liegen die Gerichtsakten im Verfahren A 4 K 649/16 sowie Ausdrucke der Behördenakten des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus den Asylverfahren der Kläger sowie der Brüder des Klägers zu
1) – G. und G. N. – vor. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22 1. Zur Entscheidung ist nach § 76 Abs. 1 AsylG der Einzelrichter berufen, auf welchen der Rechtsstreit zur
Entscheidung übertragen wurde.
23 2. Das Gericht kann entscheiden, obwohl die Beklagte zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist,
nachdem in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und
entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
24 3. Soweit der Rechtsstreit hinsichtlich des Klägers zu 4) übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, ist das
Verfahren analog § 92 Abs. 2 VwGO einzustellen (BVerwG, Urteil vom 29.11.1988 – 1 C 75.86 –, NVwZ
1989, 765 <768>).
25 4. Die zulässige Klage ist hinsichtlich der Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des
subsidiären Schutzes und Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten unbegründet, da die
Kläger zu 1)-3) hierauf keinen Anspruch haben (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
26 a. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität,
politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des
Herkunftslands befindet (§ 3 Abs. 1 AsylG). Diese Voraussetzungen liegen bei den Klägerin zu 1)-3) nicht
vor.
27 Mit Art. 1 des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20.10.2015 (BGBl. 2015 I, S. 17...) hat die
Bundesrepublik Deutschland Albanien als sicheren Herkunftsstaat eingestuft (vgl. Anlage II zu § 29a Abs. 1
AsylG). Nach § 29a Abs. 1 AsylG ist der Asylantrag eines Ausländers aus einem Staat im Sinne des Art. 16a
Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Herkunftsstaat) als offensichtlich unbegründet abzulehnen, es sei
denn, die vom Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm
abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht (vgl. zur Einstufung
Albaniens als sicherer Herkunftsstaat ausführlich und überzeugend: VG Berlin, Beschluss vom 09.12.2015 –
7 L 603.14 A –, juris; VG Berlin, Beschluss vom 20.01.2016 – 33 L 357.15 A –, juris).
28 Durchgreifende verfassungsrechtliche oder europarechtliche Bedenken gegen die Einstufung der Republik
Albanien als sicherer Herkunftsstaat sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Die Qualifizierung des Antrags
auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und – insofern bestandskräftig – Anerkennung als
Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet ist außerdem im vorliegenden Fall schon deswegen rechtlich
nicht zu beanstanden, weil es – unabhängig von der Einstufung des Herkunftsstaats als sicher – bei den
Klägern auf der Hand liegt, dass ihnen nach ihrem Vortrag und nach den Erkenntnissen über das
Herkunftsland offensichtlich keine politische Verfolgung droht.
29 Die von den Klägern angeführte Blutrachefehde geht nicht vom Staat Albanien aus, wird von diesem auch
nicht befürwortet oder gefördert und ist diesem in keiner Weise zurechenbar. Insoweit verweist das Gericht
zunächst auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge
und folgt dieser Begründung (§ 77 Abs. 2 AsylG).
30 b. Auch soweit von den Klägern zu 1)-3) die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1
AsylG begehrt wird, folgt das Gericht den zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid (§ 77 Abs.
2 AsylG).
31 Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht
hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden – wie die Todesstrafe, Folter oder
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung
des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder
innerstaatlichen bewaffneten Konflikts – droht (§ 4 Abs. 1 AsylG). Derartiges ist nicht ersichtlich.
32 Die Kläger haben keine substantiierten konkreten Gründe vorgetragen, welche die Annahme eines
Anspruchs auf subsidiären Schutz begründen könnten, da die von ihnen angeführte Blutfehde keinen der in
§ 4 Abs. 1 AsylG aufgeführten Tatbestände erfüllt. Insbesondere liegt kein landesweiter oder eine Region
betreffender Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH,
Urteil vom 30.01.2014 – Rs. C-285/12 Diakité –, CELEX-Nr.: 62012CJ0285, Rn. 21 ff.; BVerwG, Urteil vom
05.05.2009 – 10 C 21/08 –, Buchholz 451.902 Europ. Ausl- u Asylrecht Nr. 33, Rn. 12 ff.).
33 c. Das Bestehen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge bei den Klägern zu 1)-3) zutreffend abgelehnt.
34 Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK
ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Ein – hier einzig in Betracht kommender – Verstoß gegen Art. 3
EMRK ist nicht ersichtlich. Schlechte humanitäre Verhältnisse als solche können nur unter besonderen
Voraussetzungen ausnahmsweise als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein,
wenn diese ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines
innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht-staatlicher Akteure, die dem Staat
zurechenbar sind, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will, beruhen.
Ganz außerordentliche individuelle Umstände müssen dagegen hinzutreten, um schlechte humanitäre
Bedingungen im Zielgebiet, wenn diese nicht überwiegend auf Handlungen der genannten Akteure
zurückzuführen sind, als "Behandlung" im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren (VGH Baden-
Württemberg, Urteil vom 24.7.2013 – A 11 S 697/13 –, juris).
35 Hinsichtlich der humanitären Bedingungen und der wirtschaftlichen Lage bleibt festzustellen, dass in der
Republik Albanien ein – auch ethnischen Minderheiten zugängliches – Sozialhilfesystem besteht (AA, Bericht
über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Albanien (Stand: Mai 2016), S. 13 f.; VG Aachen,
Urteil vom 16.10.2014 – 1 K 1201/14 A –, juris).
36 Soweit die Kläger zu 1)-3) auf die aus ihrer Sicht gebotene Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß §
60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger zu 4) verweisen, ist dies unerheblich, da § 60 Abs. 5 AufenthG
lediglich zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote der EMRK umfasst (BVerwG, Urteil vom 11.11.1997 – 9 C
13.96 –, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 9) und ein zielstaatsbezogener Eingriff in Art. 8 EMRK durch
eine etwaige Abschiebung der Kläger zu 1)-3) nicht ersichtlich ist (vgl. hierzu Armbruster, in: HTK-AuslR, §
60 AufenthG – zu Abs. 5 - Art. 8 EMRK). Die Entscheidung des VG Stuttgart (Beschluss vom 07.04.2016 – A
8 K 1531/16 –) gebietet keine andere Bewertung, da sich nach Auffassung des Gerichts die Frage der
Erhaltung der ehelichen bzw. familiären Gemeinschaft erst auf der nachgelagerten Ebene der
Durchführbarkeit der Abschiebung stellt.
37 d. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht bei den Klägern zu 1)-3) nicht.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat
abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit besteht. Dabei sind solche Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe, welcher
der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu
berücksichtigen (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Es muss sich daher um eine bestehende individuelle Gefahr
handeln (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt (Hrsg.), AuslR, 11. Aufl., 2016, § 60 AufenthG Rn. 53). Das
Vorliegen einer solchen ist im Wege einer Gefahrenprognose zu ermitteln, wobei das erkennende Gericht
Überzeugungsgewissheit erlangen muss (BVerwG, Beschluss vom 8.2.2011 – 10 B 1/11 –, Buchholz
402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 43). Derartiges ist mit Blick auf die bisherigen Ausführungen und
Feststellungen nicht ersichtlich. Die Kläger haben nichts vorgetragen, was auf eine Gefahr im Sinne des § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG schließen ließe.
38 aa. Dass die Kläger zu 1)-3), aufgrund einer Blutfehde im Heimatland einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG ausgesetzt wären, konnte auch in der mündlichen Verhandlung nicht zur Überzeugung des
Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) festgestellt werden. Ist – wie im vorliegenden Fall – der Sachverhalt
soweit ermittelt, dass alle ernsthaft in Betracht kommenden Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind,
entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen
Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO). Ziel dieser Würdigung des Gesamtergebnisses und insbesondere der
verfügbaren Beweis- und Erkenntnismittel ist die Begründung der richterlichen Überzeugung über das
Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen bestimmter erheblicher Umstände. Es ist demgemäß zu erkennen, wie stark
oder schwach die einzelnen Umstände und Elemente des Prozessstoffs auf das Vorhandensein bzw. Nicht-
Vorhandensein der behaupteten Tatsache hinweisen, wobei das aus seiner Lebens- und Welterfahrung
gewonnene Erfahrungswissen und die Erfahrungssätze des erkennenden Richters den Maßstab bilden (vgl.
BVerwG, Urteil vom 25.03.1971 – VIII C 24.70 –, BVerwGE 38, 10 <12>). Dabei ergänzen das dem Gericht
bekannte Wissen über allgemein offenkundige Tatsachen bzw. die aus der amtlichen Tätigkeit gewonnenen
Kenntnisse diesen Maßstab der Beweiswürdigung (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108
VwGO Rn. 16 (Stand: April 2013), m.w.N.).
39 Je größer unter Anwendung dieses Maßstabs die Zahl der übereinstimmenden und je geringer die Zahl der
differierenden Merkmale unter den, den Prozessstoff bildenden, Elementen ist, desto größer ist die
Allgemeingültigkeit einer Hypothese, und umso geringer ist die Zufälligkeit der Ähnlichkeit, Gleichartigkeit
oder Identität in Bezug auf ein einzelnes Merkmal (Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108
VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.). Dabei unterliegt die Überzeugungsbildung des Gerichts seiner
„Freiheit“, d.h. einer richterlichen Einschätzungsprärogative (Stuhlfauth, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth,
VwGO, 6. Aufl., 2014, § 108 Rn. 10). Diese findet ihre Grenze in den Denkgesetzen, dem Willkürverbot und
in dem Gebot der vollständigen Würdigung des gesamten Prozessstoffs (BVerwG, Beschluss vom 17.10.2012
– 8 B 47/12 –, NVwZ-RR 2013, 97 <100>). In diesem Rahmen ist das Gericht berechtigt, auf jedes
Einzelelement des Prozessstoffs zurückzugreifen, andererseits aber auch verpflichtet, das Gesamtergebnis
des Verfahrens auszuschöpfen (statt vieler BVerwG, Urteil vom 14.06.1985 – 6 C 33/82 –, Buchholz 310 §
108 VwGO Nr. 169; Beschluss vom 21.01.2014 – 10 B 3/14 –, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 81).
40 Das erkennende Gericht muss demnach alle geeigneten Erkenntnismittel nutzen, wobei eine Verletzung der
gerichtlichen Aufklärungspflicht regelmäßig dann nicht vorliegt, wenn das Gericht den nach seiner
Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Sachverhalt aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme für
aufgeklärt hält und die – wie hier zumindest im vorbereitenden Verfahren – sachkundig vertretenen
Verfahrensbeteiligten keine Beweisanträge gestellt oder im vorbereitenden Verfahren angekündigt haben
(BVerwG, Urteil vom 27.07.1983 – 9 C 541.82 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 146; Beschluss vom
10.10.2013 – 10 B 19.13 –, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 67).
41 Bilden – wie im vorliegenden Fall – Aussagen natürlicher Personen über Wahrnehmungen und Erlebnisse die
einzigen Mittel zur Sachverhaltsermittlung, sind diese im Wege der Aussageanalyse dahingehend zu
würdigen, ob sie glaubhaft sind, d.h. ob sie Tatsachen schildern, hinsichtlich derer das Gericht überzeugt ist,
dass sie sich – wie sie im Verwaltungsverfahren und im Prozess vorgebracht wurden – zugetragen haben
(vgl. Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 108 VwGO Rn. 13 (Stand: April 2013), m.w.N.).
42 Kein anderer Maßstab kann für die Angaben der Kläger zu 1) und 2) gelten, da im Asylverfahren hinsichtlich
des Flucht- oder Verfolgungsschicksals des Asylsuchenden regelmäßig als einziges Erkenntnismittel die
Angaben des oder der Asylsuchenden als „Zeuge in eigener Sache“ in Betracht kommen, so gesteigerte
Bedeutung erfahren (BVerwG, Beschluss vom 10.05.2002 – 1 B 392.01 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr.
259; Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109.84 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32) und damit auf ihre
Glaubhaftigkeit hin zu überprüfen und zu würdigen sind.
43 Gegenstand der Prüfung der Glaubhaftigkeit, welche in Ermangelung anderer Ermittlungsansätze
aufgerufen ist, ist die Frage, ob die Angaben hinsichtlich eines bestimmten tatsächlichen Geschehens
zutreffen oder nicht. Dabei ist zunächst zu unterstellen, dass die Aussage weder wahr noch falsch ist; es
sind auf Grundlage eines Glaubhaftigkeitswerts von Null weitere Hypothesen zu bilden, was von
ausschlaggebender Bedeutung für die Methodik der Glaubhaftigkeitsprüfung ist (sog. „Nullhypothese“, vgl.
hierzu m.w.N. BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; zu deren
Anwendbarkeit außerhalb des Strafprozesses LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG
584/11 –, BeckRS 2012, 70690; zu deren Bedeutung für die richterliche Beweiswürdigung BGH, Urteil vom
27.03.2003 – 1 StR 524/02 –, NStZ-RR 2003, 206 <208>).
44 Ergibt sich, dass diese Hypothese, die Aussage sei weder wahr noch falsch, nicht zutreffen kann, bspw. weil
sich die Aussage durch genügend Qualitätsmerkmale auszeichnet, die den Schluss rechtfertigen, dass sie der
Wahrheit entspricht, d.h. die „Nullhypothese“ mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung
stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre
Aussage handelt (BGH, Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98 – NJW 1999, 2746 <2747>; OLG Stuttgart,
Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506; VG Meiningen, Beschluss vom 08.12.2011 – 6 D
60012/11 Me –, juris)
45 Dabei sind nur alle im konkreten Einzelfall ernsthaft in Betracht kommenden Erklärungsansätze in der
Aussageanalyse zu berücksichtigen (Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014,
Rn. 295). Insbesondere ist das Gericht nicht gehalten, „ins Blaue hinein“ ohne tatsächliche Anhaltspunkte
nach möglichen Ansätzen ohne auch nur eine ansatzweise Tatsachengrundlage zu suchen, um diesen
nachzugehen (vgl. zur sog. „Ausforschung“ durch das Gericht bspw. BVerwG, Beschluss vom 15. Februar
2008 – 5 B 196.07 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 362; Beschluss vom 05.10.1990 – 4 B 249.89 –,
Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 6; Beschluss vom 29.03.1995 – 11 B 21.95 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1
VwGO Nr. 266; vgl. zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.05.2016 – 5 S 1443/14 –, juris).
46 Demnach ist in einem ersten Schritt von der Hypothese auszugehen, dass Aussagen über Erlebtes und
Nicht-Erlebtes sich in ihrer Qualität unterscheiden (sog. „Undeutsch-Hypothese“, vgl. zum Ganzen
Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 283 ff.), sodass die Aussage
zunächst inhaltsorientiert und sodann merkmalsorientiert dahingehend überprüft werden kann, ob sie
Merkmale bzw. Anzeichen enthält, die für ihre Glaubhaftigkeit sprechen (OLG Stuttgart, Urteil vom
08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506).
47 Als solche sog. „Realitäts-“oder „Glaubhaftigkeitsanzeichen“ kommen insbesondere ein Detailreichtum,
Angaben zu im Hintergrund stehenden Umständen, eine nicht chronologische und unpräzise – gleichwohl
inhaltlich ausführliche – Erzählweise im Gegensatz zur Wiedergabe angelernter oder ausgedachter
Informationen in Betracht (vgl. bspw. BVerwG, Urteil vom 19.07.2006 – 2 WD 13/05 –, NVwZ-RR 2007,
182; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.12.2011 – L 6 VG 584/11 –, BeckRS 2012, 70690;
Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 370 ff. und 409 ff.).
48 Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs fehlt es den Angaben der Kläger zu 1) und 2) an inhaltlichen
Glaubhaftigkeitsmerkmalen. Die Schilderung des gesamten Geschehens um das, die – vermeintliche –
Blutfehde auslösende Ereignis bleibt vage und abstrakt, ohne konkrete Details oder Anhaltspunkte für einen
Bericht über selbst erlebte Ereignisse zu enthalten, welche vom Kläger zu 1) jedoch hätten erwartet
werden können. Auch die von ihm angefertigte und als Anlage zur Sitzungsniederschrift genommene
Skizze, welche aus einem am Ende leicht gebogenen Strich besteht, auf welchem zwei Punkte
eingezeichnet sind, entbehrt jeglicher belastbarer Details zur Stellung der Fahrzeuge oder zu ihrem
räumlichen Verhältnis. Zwar kann auf spontane Aufforderung keine detailgenaue Zeichnung erwartet
werden, wohl aber eine Skizze, welche – ggf. durch ergänzende Erläuterung – die eigenen Angaben einer
zumindest ansatzweisen Überprüfbarkeit zuführt.
49 Als ein sog. strukturelles Glaubhaftigkeitsmerkmal kommt eine inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Angaben
– beispielsweise im Vergleich zu früheren Angaben – hinsichtlich des Kerngeschehens in Betracht (OLG
Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –, NJW 2006, 3506 <3507>; vgl. auch BVerwG, Urteil vom
19.07.2006 – 2 WD 13/05 –, NVwZ-RR 2007, 182). Diesem liegt die Hypothese zugrunde, dass in
erlebnisbasierten Aussagen Konstanz und Inkonstanz für unterschiedliche Aspekte in unterschiedlicher
Weise zu erwarten ist. Konstanz ist insbesondere bei der Schilderung des zentralen Kerngeschehens,
Benennung der unmittelbar am Kerngeschehen beteiligten Personen oder der Benennung von unmittelbar
handlungsrelevanten Gegenständen zu erwarten (vgl. zum Ganzen Bender/Nack/Treuer,
Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl., 2014, Rn. 446 f.). Zwar ist der Begriff des „Kerngeschehens“
einzelfallbezogen hinsichtlich der für den Berichtenden subjektiv zentrale Bedeutung einnehmenden
Aspekte individuell und ggf. neu zu bestimmen (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 08.12.2005 – 4 Ws 163/05 –,
NJW 2006, 3506 <3507>). Unter Zugrundelegung dieser Hypothese spricht demnach nichts für die
Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers zu 1) und letztlich auch der Klägerin zu 2).
50 So erinnerte sich der Kläger zu 1) hinsichtlich des die angebliche Blutfehde auslösenden Ereignisses nicht
von sich aus daran, dass nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren nicht nur der S. erschossen,
sondern auch der M. von einer Kugel getroffen worden ist. Auch gab der Kläger zu 1) in der mündlichen
Verhandlung an, dass der M. lediglich zufällig vorbeigegangen sei, während er in der in der Anhörung beim
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angab, dass der M. beim Mord dabei gewesen sei. Ein Vergessen
des zweiten Opfers des Vorfalls erscheint mit Blick darauf, dass diesem nach den Angaben des Klägers zu 1)
im Verwaltungsverfahren eine Anwesenheit und letztlich auch eine Beteiligung im vorgebrachten
Blutfehdekonflikt zukommen, nicht plausibel.
51 Ferner hat der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren angegeben, dass er die Täter aufgrund ihrer
Maskierung und des Tragens von Mützen nicht habe erkennen können, während er in der mündlichen
Verhandlung angab, dass er sich im Fahrzeug seines Freundes geduckt habe und nur sein Freund über die
Spiegel das Geschehen habe wahrnehmen können. Überdies gab der Kläger zu 1) im Verwaltungsverfahren
an, dass die Täter ihr Fahrzeug angehalten, dieses verlassen und dann auf ihn und seinen Bekannten
geschossen hätten. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger zu 1) jedoch an, dass das Fahrzeug bis
auf zwei Meter an sie herangefahren sei und die Schützen aus dem Fahrzeug heraus geschossen hätten.
Diese Angaben sind in sich widersprüchlich. Ferner stehen sie in Widerspruch zu der angefertigten Skizze,
welche selbst ungeachtet ihrer Ungenauigkeit einen nicht nur unerheblichen Abstand der Fahrzeuge
zueinander erkennen lässt.
52 Auch hat der Kläger zu 1) in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass der S. sein Gewehr gezogen
habe, während er in der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angab, dass er das
Gewehr erst geholt habe. Andererseits fehlt es in den Ausführungen im Verwaltungsverfahren an der
Angabe von weiteren Schüssen auf das Haus mittels eines Sturmgewehrs vom Typ „Kalaschnikow“ durch
den Bruder des S., während der Kläger zu 1) dies in der mündlichen Verhandlung jedoch hervorbrachte.
Auch die Angabe gegenüber dem Gericht, dass der Kläger zu 1) mit seinem Vater geflüchtet sei, steht in
Widerspruch zu seinen Angaben im Verwaltungsverfahren, nach denen nur sein Vater geflüchtet sei.
53 Andererseits gab der Kläger zu 1) in der mündlichen Verhandlung an, dass sich sein Vater nach fünf Tagen
gestellt habe, während er im Verwaltungsverfahren angab, dass dies bereits nach zwei Tagen erfolgt sei.
Auch stimmen die genannten Daten des Vorfalls (im Verwaltungsverfahren 19.03.2007, in der mündlichen
Verhandlung 23.03.2007) nicht miteinander überein. Diese Widersprüche können auch nicht etwa mit
Erinnerungslücken erklärt werden, da die übrigen Ausführungen bezüglich einzelner Daten präzise sind und
vom Kläger zu 1) nicht erst auf Nachfrage des Gerichts, sondern von sich aus angegeben wurden.
54 Auch die Angaben des Klägers zu 1) zum Angriff während der Fahrt aus dem Krankenhaus mit seinem
Bekannten entbehren jeglicher struktureller Realitätskennzeichen, welche dem Gericht hinsichtlich der
Glaubhaftigkeit Überzeugungsgewissheit vermitteln könnten. Der Kläger zu 1) gab an, dass sich der Vorfall
im Januar 2015 ereignet habe, während die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung – wie auch die
Brüder des Klägers zu 1) in ihren Asylverfahren – angab, dass dieser Übergriff sich „vor zwei Jahren“, also im
Jahr 2014 ereignet habe. Zwar steht die Angabe des Klägers zu 1) im Verwaltungsverfahren, wonach sich
der Übergriff „im Januar“ ereignet habe, nicht per se in Widerspruch zu den Angaben der Klägerin zu 2) und
seiner Brüder, zumal auch die Unterschiede in der Jahresangabe auf bloßem Irrtum beruhen könnten. Auf
Nachfrage des Gericht, wo sich die Brüder des Klägers zu 1) zum Zeitpunkt des Vorfalls befunden hätten,
gab die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung jedoch an, dass sie glaube, dass diese „zu Hause“
gewesen seien. Dies steht in Widerspruch zu den Angaben des G. N. in seinem Asylverfahren, wonach sich
seine Familie zum Zeitpunkt des Vorfalls in Schweden aufgehalten habe.
55 Zwar lassen diese Widersprüche nicht den Schluss zu, dass die Kläger zu 1) und 2) unwahr vorgetragen
hätten; sie vermögen es jedoch nicht, dem Gericht dahingehend Überzeugungsgewissheit zu vermitteln,
dass lediglich die Angaben der Kläger zu 1) und 2) mit der Wahrheit übereinstimmen könnten.
56 Schließlich hat das Gericht auch keine Überzeugungsgewissheit dahingehend erlangen können, dass die
Verletzung am Ellenbogen des Klägers zu 1) tatsächlich von einer Schusswunde herrührt. Abgesehen davon,
dass der Kläger zu 1) – trotz fehlender Verletzung, welche als Projektilaustrittswunde in Betracht kommen
könnte – angegeben hat, dass bei der Wundversorgung keine Metallteile oder projektilähnlichen Splitter aus
der Wunde herausgeholt wurden, vermag auch nicht das ärztliche Attest betreffend den Kläger zu 1) eine
auch nur ansatzweise Gewissheit dahingehend zu vermitteln, dass es sich um eine Schusswunde aus dem
vermeintlichen Angriff im Jahr 2014 bzw. 2015 handeln könnte, da diese Angabe – wie der Kläger zu 1) auf
Nachfrage des Einzelrichters selbst angab – letztlich von ihm selbst stammte.
57 bb. Selbst wenn die Angaben der Kläger zu 1) und 2) zuträfen, würde die von ihnen vorgebrachte Blutfehde
nicht zur Annahme einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gereichen.
58 Zum einen haben nach den Angaben des Klägers zu 1) seine älteren – und insofern nach den Regeln des
„Kanun“ vorrangig als Familienoberhäupter bedrohten – Brüder ihre Wohnungen nicht nur verlassen, wenn
es sich nicht vermeiden ließ, sondern auch, um alltägliche Besorgungen wie den regelmäßigen Einkauf zu
erledigen. Dies indiziert, dass die Blutfehde – so sie bestand – zumindest nicht oder nicht mehr in derselben
Intensität besteht, wie von den Klägern vorgebracht wird. Hierauf deutet auch der Umstand hin, dass die
Kläger lediglich einen Übergriff auf sie vorzubringen vermögen und im Übrigen nur einen einmaligen Vorfall,
der – angeblich – eine Beobachtung durch einen Onkel des S. zum Gegenstand hatte, anführen. Dies vermag
es zwar nicht, dem Gericht dahingehend Überzeugungsgewissheit zu vermitteln, dass keinesfalls eine
Blutfehde bestehen könnte. Maßgeblich ist jedoch allein, ob das Gericht hinsichtlich des Bestehens einer
Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Überzeugungsgewissheit erlangt, wozu die Angaben der
Kläger indes nicht gereichen.
59 Zum anderen haben die Kläger sich nicht bemüht, in einem anderen Landesteil Schutz zu suchen, was
unbeschadet der vorangegangenen Ausführungen für sich genommen zur Verneinung eines
Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt. Die Hauptstadt Tirana ist – vorbehaltlich
hartnäckiger Verfolgung – aufgrund der Bevölkerungsdichte dazu geeignet, eine gewisse Anonymität und so
einen Grad an Unauffindbarkeit zu vermitteln (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der
Republik Albanien (Stand: Mai 2016), S. 11). Dies steht nicht in Widerspruch zu den Erkenntnissen im
Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 13.07.2016, nach welchem größere Städte wie Tirana
deswegen keinen Schutz bieten könnten, weil Zuziehende sich häufig in einem Stadtteil niederließen, in
dem bereits andere Personen aus ihrem Clan lebten (SFH, Albanien: Blutrache, Auskunft der SFH-
Länderanalyse vom 23.07.2016, S. 8 f.), da es zur Disposition der jeweils Betroffenen steht, wo sie sich
niederlassen und wieviel sie gegenüber Dritten von ihrer Vergangenheit preisgeben. Dass im Falle der Kläger
eine – im Lagebericht des Auswärtigen Amtes angeführte – „hartnäckige“ Verfolgung vorläge oder zu
besorgen wäre, ist weder ersichtlich noch vorgebracht worden. Vielmehr sprechen die Angaben des Klägers
zu 1), wonach es keine weiteren Übergriffe gegeben hat, eher dagegen. Ferner handelt es sich nach den
Angaben des Klägers zu 1) bei der gegnerischen Familie eher um „normale Leute“ ohne besondere Stellung
oder Position. Insofern fehlt es an einer das gesamte Heimatland der Kläger betreffenden Gefahr. Dies wurde
auch auf Nachfrage des Gerichts von den Klägern nicht in Abrede gestellt. Sie gaben lediglich an, dass sie
nicht gewusst hätten, wohin sie sonst als in ihr Heimatdorf hätten gehen sollen, als sie aus Schweden nach
Albanien zurückkehrten.
60 Im Übrigen ist anhand der vorhandenen Erkenntnismittel ersichtlich, dass viele Familien sich in eine Art der
Isolation aus dem subjektiven Empfinden heraus, dass die jeweils andere Familie ihr nach ihrem Leben
trachtet, zurückziehen, obwohl es objektiv keine Bedrohungen gegeben hat (AA, Bericht über die asyl- und
abschieberelevante Lage in der Republik Albanien (Stand: Mai 2016), S. 11). Unter Berücksichtigung dieses
Umstands in einer Gesamtschau mit den Angaben der Kläger im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren
drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass die Kläger nicht primär wegen der von ihnen vorgebrachten
Blutfehde, sondern vordergründig wegen des Gesundheitszustands ihres Sohnes – des Klägers zu 4) – und
ihrer allgemeinen Lebenssituation ihr Heimatland verlassen haben; wie die Kläger zu 1) und 2) zum Ende
der mündlichen Verhandlung auch selbst übereinstimmend angaben. Die rechtliche Bedeutung der
Erkrankung des Klägers zu 4) wird aufgrund der (teilweisen) Aufhebung des verfahrensgegenständlichen
Bescheids in einem gesonderten Verfahren zu klären sein. Aufgrund der Einstellung des Verfahrens
hinsichtlich des Klägers zu 4) ist sein Zustand im vorliegenden Verfahren unerheblich.
61 5. Auch soweit die Änderung der Befristungsentscheidung hinsichtlich des gesetzlichen Einreise- und
Aufenthaltsverbots begehrt wird, bleibt die – insofern als Verpflichtungsklage statthafte (vgl. zur statthaften
Verfahrensart Bauer, in: Renner/Bergmann/Dienelt (Hrsg.), AuslR, 10. Aufl. 2013, § 11 AufenthG Rn. 59) –
Klage ohne Erfolg. Die Befristungsentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig
und verletzt die Kläger zu 1)-3) nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 bzw. Satz 2 VwGO).
62 a. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG begegnet keinen
Bedenken. Die Länge der Frist wird bei einer Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG
nach der nunmehr geltenden Gesetzeslage nach behördlichem Ermessen bestimmt (vgl. VG Sigmaringen,
Urteil vom 23.02.2016 – 4 K 5326/14 –; so unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung auch die
Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/4097, S. 36). Die Länge der Frist darf dabei fünf Jahre nur überschreiten,
wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von
ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (§ 11 Abs. 3
AufenthG), was vorliegend nicht gegeben ist. Die Beklagte hat das ihr gesetzlich eingeräumte Ermessen
offensichtlich erkannt und sich bei dessen Ausübung nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Im
Falle einer Befristung nach einer Aufenthaltsbeendigung wegen aufenthaltsrechtlicher Verstöße verfolgt die
Befristung den Zweck, zu verdeutlichen, dass eine Nichtrespektierung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen
nicht sanktionslos hingenommen wird und ein generell nicht kalkulierbares Risiko beinhaltet (vgl. Maor, in:
Kluth/Heusch (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 20 (Stand:
01.11.2015)). Insbesondere sind die Wertungen des § 11 Abs. 6 AufenthG zu einer Wiedereinreisesperre
wegen der Verletzung der Ausreisepflicht zu beachten (vgl. zum Ganzen auch VG Sigmaringen, Urteil vom
23.02.2016 – 4 K 5326/14 –). Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs begegnet die Befristungsentscheidung
keinen rechtlichen Bedenken.
63 b. Sofern das Gericht – entsprechend der früheren Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.2.2012 – 1
C 7.11 –, BVerwGE 142, 29 <45 f.>) – zu eigenen Ermessensentscheidungen hinsichtlich der Fristlänge
befugt und berufen wäre (zur neuen Rechtslage VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.12.2015 – 11 S
1857/15 –, juris und VG Sigmaringen, Urteil vom 23.02.2016 – 4 K 5326/14 –), würden diese mit Blick auf
die obigen Ausführungen den behördlichen Ermessensentscheidungen im Ergebnis entsprechen. Das Gericht
legt hierzu bei der Befristungsentscheidung zum angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot den
Fristrahmen von fünf Jahren – was 60 Monaten entspricht – zugrunde und erachtet mangels ersichtlicher
abschiebungsspezifischer Verkürzungs- oder Verlängerungsgründe – wie besonderen Bindungen in das
Bundesgebiet, einer fehlenden Mitwirkung im Verwaltungsverfahren oder ausländerrechtlicher oder
ausländerrechtlich relevanter Verstöße mit insofern eigener Relevanz – im vorliegenden Fall eine Fristlänge
im mittleren Bereich des gesetzlichen Fristrahmens von 36 Monaten als sachgerecht. Dabei berücksichtigt
das Gericht, dass die Kläger zu 1)-3) bereits in Schweden erfolglos ein Asylverfahren betrieben haben.
64 6. Bezüglich der im Bescheid enthaltenen Abschiebungsandrohung, welche auf §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG
fußt, bestehen nach alledem keine rechtlichen Bedenken, nachdem das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge den Asylantrag insgesamt als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat (§§ 29a, 30 AsylG).
65 7. Die Kostenentscheidung erfolgt auf Grundlage der §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1, 159 Satz 1 VwGO in
Verbindung mit § 100 ZPO unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO,
wonach im Falle der übereinstimmenden Erledigung des Rechtsstreits das Gericht nach billigem Ermessen
über die Kosten des Verfahrens entscheidet (vgl. zur Kostenentscheidung bei teilweiser Hauptsacherledigung
Olbertz, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Vorb. zu § 154 VwGO Rn. 26 (Stand: Oktober 2005)).
66 Der Kostenanteil des Klägers zu 4) beträgt dabei ¼ der Gesamtkosten, da gem. § 30 Abs. 1 GKG in
Klageverfahren nach dem Asylgesetz der Gegenstandswert 5.000 Euro beträgt, welcher sich in Verfahren, in
denen mehrere natürliche Personen beteiligt sind, für jede weitere Person um 1.000 Euro erhöht (§ 30 Abs.
1 Satz 2 GKG). Damit beträgt der Gegenstandswert im vorliegenden Verfahren bei vier Klägern 8.000 Euro.
Bei vier Klägern beträgt der Anteil je Kläger damit ¼.
67 Hinsichtlich des Kostenanteils des Klägers zu 4) liegt die Kostenlast beim Beklagten, worüber das Gericht
nach billigem Ermessen entscheidet. Zur weiteren Begründung wird auf die Ausführungen im Eilbeschluss
des erkennenden Gerichts vom 27.04.2016 (Az.: A 4 K 649/16) Bezug genommen, wonach beim Kläger zu
4) kein Asylfolgeantrag vorliegen dürfte (S. 5 des Beschlusses). Dass die Klage des Klägers zu 4) jedenfalls
mit Blick auf die Anträge auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Gewährung
subsidiären Schutzes – wie auch bei den Klägern zu 1)-3) aus denselben Gründen – voraussichtlich
unbegründet sein dürfte, ist dabei unerheblich. Im Übrigen wäre dies als Veränderung hinsichtlich eines
Bruchteils des Kostenanteils von ¼ als geringfügig im Sinne des § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO anzusehen;
besondere Billigkeitsgründe sind nicht ersichtlich, da bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hätte erkennen können und wohl auch erkennen müssen, dass es sich beim Asylantrag des Klägers zu 4)
nicht um einen Asylfolge-, sondern einen Asylerstantrag gehandelt haben dürfte (vgl. zur Geringfügigkeit
eines Kostenteils BVerwG, Urteil vom 29.11.1988 – 1 C 75.86 –, NVwZ 1989, 765 <768>; HessVGH,
Beschluss vom 03.02.1987 – Ga 42 G 7654/84 T –, DVBl. 956; siehe zu § 34a BVerfGG BVerfG, Beschluss
vom 10.02.1987 – 2 BvR 397/82 u.a. –, NJW 1987, 2571). Dabei kommt es im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren – anders als im Zivilprozess gem. § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO – mangels entsprechender Regelung in §
155 VwGO nicht darauf an, ob keine oder nur geringfügig höhere Kosten veranlasst wurden (Olbertz, in:
Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 155 VwGO Rn. 9 (Stand: Oktober 2005)).
68 Im Übrigen unterliegen die Kläger zu 1) bis 3), nachdem das Gericht wie geschehen entschieden hat, sodass
sie den auf sich entfallenden Kostenteil gem. §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO tragen.
69 8. Dieses Urteil ist in entsprechender Anwendung § 158 Abs. 2 VwGO hinsichtlich der darin enthaltenen
Kostenentscheidung unanfechtbar, soweit in diesem die Kosten im Umfang des Kostenanteils des Klägers zu
4) von ¼ der Gesamtkosten aufgrund der Einstellung des Verfahrens wegen der übereinstimmenden
Erledigungserklärungen der Beklagten auferlegt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
16.03.1994 – 6 S 1591/92 –, juris), denn die Erwägungen, von denen der Gesetzgeber sich bei dem in § 158
Abs. 2 VwGO angeordneten Rechtsmittelausschluss hat leiten lassen, beanspruchen unabhängig davon
Beachtung, ob sich die Hauptsache teilweise oder vollständig erledigt hat (BVerwG, Beschluss vom
07.08.1998 – 4 B 75.98 –, NVwZ-RR 1999, 407 <408>).