Urteil des VG Sigmaringen vom 31.01.2017

syrien, illegale ausreise, asylg, amnesty international

VG Sigmaringen Urteil vom 31.1.2017, A 3 K 4482/16
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an wehrpflichtige Syrer wegen illegaler Ausreise,
längeren Auslandsaufenthalts und Asylantragstellung in Deutschland; Verfolgung von
Anhängern der Opposition; Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei Bestimmung zur
Teilnahme an Kriegshandlungen; (keine) inländische Fluchtalternative für Rückkehrer
Leitsätze
Jedenfalls wehrpflichtige Syrer haben gem. § 3 Abs. 4 AsylG Anspruch auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft. Ihnen droht bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit Verfolgung - im Hinblick auf die illegale Ausreise, den längeren Auslandsaufenthalt und die
Asylantragstellung in Deutschland jedenfalls wegen zugesicherter politischer Verfolgung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b
Abs. 1 Nr. 5 AsylG) und - wegen ihrer Wehrdienstpflichtigkeit - aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 1 4 AsylG).
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10.10.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2 Der Kläger ist – bestätigt durch einen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden:
Bundesamt) auf seine Echtheit hin verifizierten syrischen Reisepass – syrischer Staatsangehöriger aus
Damaskus. Er verließ eigenen Angaben zufolge am 05.01.2016 sein Heimatland und reiste am 21.02.2016
in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Kläger stellte am 06.04.2016 einen Asylantrag. Als Transitländer
gab er im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 23.09.2016 an: Libanon, Türkei, Griechenland,
Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich. Bestätigt wird der Reiseverlauf teilweise durch zwei
EURODAC-Treffer bzgl. Ungarn und Griechenland: HR2511-11-10-8/52684-16 und GR2LE11041. Im
Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt beschränkte der Kläger seinen Asylantrag auf die
Schutztatbestände des internationalen Schutzes (§§ 3, 4 AsylG).
3 Zu seinen Fluchtgründen führte er aus: „Ich bin 18 Jahre alt, alle Leute in meinem Alter werden inzwischen
eingezogen. Dann wird man nach Aleppo an die Front geschickt und sehr wahrscheinlich stirbt man dort
relativ schnell. Wenn man nicht für das Regime kämpft, kommen irgendwelche anderen Milizen und nehmen
einen mit zum Kämpfen. Ein weiterer Grund sind die dauernden Schikanen an den Checkpoints. Außerdem
gab es keine Möglichkeit mehr die Schule zu beenden und eine Berufsausbildung zu machen. Ich möchte
aber für meine Zukunft eine gute Ausbildung haben. Ein Freund von mir ist zwangsrekrutiert worden. Zwei
Wochen nach seiner Rekrutierung ist er in Sayda Zaineb getötet worden.“
4 Mit Bescheid vom 10.10.2016 – zugestellt am 15.10.2016 – erkannte das Bundesamt dem Kläger den
subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Hinsichtlich der versagten
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führte das Bundesamt aus, der Kläger habe durch seinen
Sachvortrag eine Kausalität zwischen möglichen Verfolgungshandlungen und den Anknüpfungsmerkmalen
des § 3b AsylG trotz entsprechender Nachfragen nicht ausreichend substantiieren können. Eine solche sei
auch aus sonstigen Gründen nicht ersichtlich. Weder gehöre der Kläger einer besonders vulnerablen Gruppe
an, noch habe er vor seiner Ausreise eine exponierte Funktion innegehabt, was beides die Befürchtung
begründen würde, dass ihm nunmehr bei Rückkehr – trotz einer fehlenden Vorverfolgung – mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG drohten. Soweit der Kläger geltend
mache, dass er aus Furcht vor der Einberufung zum Wehrdienst sein Heimatland verlassen habe, habe er
dies auch auf Nachfrage weder konkret noch substantiiert darlegen können. Ebenso hätten keine geeigneten
Beweismittel vorgelegt werden können, die eine begründete Furcht diesbezüglich unterstreichen würden.
5 Der Kläger hat am 20.10.2016 die vorliegende Klage erhoben. Zu ihrer Begründung verweist er zunächst
auf die derzeitige Bürgerkriegssituation in seinem Heimatland sowie seine Angaben im Rahmen der
persönlichen Anhörung. Daraus sei abzuleiten, dass allein aufgrund der illegalen Ausreise, des längeren
Auslandsaufenthalts sowie der Asylantragstellung in Deutschland davon auszugehen sei, dass die
Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorlägen. Ergänzend verweist der Kläger auf
das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 06.07.2016 (Az. RN 11 K 16.30889), dessen Inhalt er
zum Gegenstand des Sach- und Rechtsvortrags im vorliegenden Verfahren macht. Ergänzend verweist er
ferner auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 08.07.2016 (Az. 1 K 1922/16. TR), einen
Gerichtsbescheid der Kammer vom 09.08.2016 (Az. A 3 K 2286/16) sowie auf das Urteil des
Verwaltungsgerichts Meiningen vom 30.08.2016 (Az. 1 K 20284/16 ME).
6 Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
7
den Bescheid der Beklagten vom 10.10.2016 hinsichtlich der Ziff. 2 aufzuheben und die Beklagte zu
verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
8 Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
9
die Klage abzuweisen.
10 Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
11 Mit Schriftsatz vom 10.11.2016 hat der Kläger auf Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.
12 Dem Gericht lagen die Behördenakten der Beklagten vor. Darauf, wie auch auf den Inhalt der Gerichtsakte,
wird wegen weiterer Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
13 Mit dem Einverständnis der Beteiligten entscheidet die Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2
VwGO).
14 Die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage ist zulässig und
begründet. Der Kläger hat zum gem. § 77 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der
Entscheidung des Gerichts einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1
AsylG. Soweit der Bescheid der Beklagten vom 10.10.2016 dem entgegensteht, verletzt er den Kläger in
seinen Rechten und ist daher aufzuheben, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO.
I.
1.
15 Gem. § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling im
Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist. Hiernach ist Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 28. Juni 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953-II, S. 560) unter
anderem, wer sich wegen begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität,
politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes
(Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch
nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG
genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung konkretisiert § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, der Art. 10
Abs. 1 lit. e) Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (im Nachfolgenden: QRL) in nationales Recht umsetzt,
dahingehend, dass hierunter insbesondere zu verstehen ist, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die
die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine
Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser
Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
2.
16 Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG, der Art. 9 QRL in nationales Recht
umgesetzt hat, Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine
schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von
denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953)
keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen,
einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person
davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3a Abs. 2 AsylG, der
Regelbeispiele einer Verfolgung i. S. d. Abs. 1 benennt (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11.
Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 6), können als Verfolgung unter anderem die Anwendung physischer oder
psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), eine unverhältnismäßige oder diskriminierende
Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes
mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG)
und die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn
der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3
Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG), gelten.
17 Eine Verfolgungshandlung setzt grundsätzlich einen gezielten, aktiven Eingriff in ein geschütztes
Rechtsgut voraus (BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 - juris Rn. 22 = NVwZ 2010, 982, 983
unter Verweis auf BVerfG, Entscheidungen vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - juris Rn. 43 = BVerfGE
80, 315 = NVwZ 1990, 151, 152). Das heißt, zwischen den in den § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung
eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1
AsylG genannten Verfolgungsgründen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG, der Art. 9 Abs. 3 QRL entspricht,
eine Verknüpfung bestehen, die Verfolgung muss „wegen“ bestimmter Verfolgungsgründe drohen. Auf die
subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht an, sondern vielmehr auf die objektiven
Auswirkungen für den/die Betroffenen. Dabei genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG ein
wesentlicher Faktor für die Verfolgungshandlung ist und insoweit eine erkennbare Gerichtetheit der
Maßnahme besteht (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 3a AsylG Rn. 7 m. w. N.).
18 Diese Zielgerichtetheit muss sich nicht nur auf die asylerheblichen Merkmale bzw. auf die
Verfolgungsgründe i.S. von Art. 10 QRL, an die die Handlung anknüpfen muss, beziehen, sondern auch auf
die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C
52.07 - juris Rn. 22 = NVwZ 2010, 982, 983 f. unter Auseinandersetzung mit Art. 9 Abs. 3 QRL).
19 Bei allen Verfolgungsgründen ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG, der Art. 10 Abs. 2 QRL in nationales Recht
umsetzt, bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist,
unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen. Es genügt vielmehr, dass
ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
3.
20 Ob eine politische Verfolgung (oder eine andere, in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannte Verfolgung) droht, ist
anhand einer Prognose zu beurteilen, die von einer zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung
gestellten Lebenssachverhaltes auszugehen und die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei
einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum
Gegenstand hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 - juris Rn. 13 m.w.N. = BVerwGE 85,
12).
a)
21 Ausgangspunkt für die Prognoseentscheidung ist zunächst das bisherige Schicksal des Asylsuchenden.
22 Nach Art. 4 Abs. 4 QRL, der keine nationale Entsprechung hat, ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits
verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder
einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, in diesem Zusammenhang ein ernsthafter Hinweis
darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr
läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der
Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung ist
bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung des Merkmals „begründete Furcht“ weiterhin zu
beachten, auch wenn auf sie - anders als nach § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG in der bis zum 30.11.2013
gültigen Fassung - in §§ 3 ff. AsylG oder § 60 AufenthG nicht ausdrücklich Bezug genommen wird (Zeitler,
in: HTK-AuslR, Stand: 01.04.2016, § 3 AsylG, zu Abs. 1 Nr. 3.2).
b)
23 Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG, der Art. 5 Abs. 1, 2 QRL in
nationales Recht umsetzt, auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein
Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer
bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Für subjektive
Nachfluchttatbestände, die bereits während eines Erstverfahrens oder durch das Erstverfahren verwirklicht
worden sind, greift damit keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als
bei der Asylanerkennung - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten
Überzeugung beruhen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 - juris Rn. 26). Erst
für nach dem erfolglosen Abschluss des Erstverfahrens selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein
Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (vgl. § 28 Abs. 2 AsylG;
BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27/07 - juris Rn. 14 = BVerwGE 133, 31).
24 Auch soweit die begründete Furcht vor Verfolgung auf Nachfluchttatbeständen beruht, genügt es bei der
Prüfung der Verfolgungsgründe, wenn der Antragsteller befürchten muss, dass ihm diese Merkmale von
seinem Verfolger zugeschrieben werden (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Der Gesetzgeber hat mit der Einführung
des § 28 Abs. 1a AsylG die entsprechenden Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 und 2 QRL umgesetzt und hiermit
zugleich die grundsätzliche Relevanz von Nachfluchttatbeständen klargestellt. Der beachtliche
Nachfluchttatbestand ist damit kein Ausnahmetatbestand, sondern ebenso wie der Vorfluchtgrund ein
Regelfall des § 3 AsylG (vgl. auch VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RO 11 K 16.30707 - juris Rn.
22).
25 Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht
vor Verfolgung vor, wenn ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu
bleiben oder dorthin zurückzukehren (vgl. VGH BW, Urteil vom 19.09.2013 - A 11 S 689/13 - juris Rn. 16
ff.). Der aus dem Tatbestandsmerkmal „... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ...“ des Art. 2 lit. d)
QRL abzuleitende Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit orientiert sich an der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die
tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32 = NVwZ 2013, 936,
940). Er setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten
und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht
besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine
qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller
festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser
Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht
vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.02.1988 - 9 C 32.87 - juris Rn. 16
= DVBl. 1988, 653; BVerwG, Urteil vom 15.03.1988 - 9 C 278.86 - juris Rn. 23 = BVerwGE 79, 143).
4.
26 Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Asylsuchende vielfach befindet, genügt es bei
alledem, dass er die Gefahr politischer Verfolgung glaubhaft macht (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C
109.84 - juris Rn. 16 = NVwZ 1985, 658, 660). Ihm obliegt es dabei, unter Angaben genauer Einzelheiten
einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei
verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht
zuzumuten ist, im Herkunftsstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urteil vom
24.03.1987 - 9 C 321.85 - juris Rn. 9 = NVwZ 1987, 701 und Beschluss vom 26.10.1989 - 9 B 405.89 -
juris Rn. 8 = InfAuslR 1990, 38, 39). Das Gericht muss auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung
von der Wahrheit des von einem Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus der er seine
Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 - juris Rn. 3 =
NVwZ 1990, 171).
II.
27 Ausgehend hiervon steht dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft i. S. d. § 3 Abs. 4 AsylG zu. Dies ergibt sich
zum einen - entsprechend der bisherigen Kammerrechtsprechung - aus dem Umstand der illegalen Ausreise
aus Syrien, der Asylantragstellung in Deutschland und dem längeren Auslandsaufenthalt hier sowie zum
anderen aus dem Umstand der Wehrpflichtigkeit des Klägers.
28 Im Einzelnen:
29 Der Kläger ist zwar nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist (dazu unter 1.). Ihm droht jedoch bei
verständiger Würdigung der gesamten Umstände unter Heranziehung des oben wiedergegebenen
Prüfungsmaßstabs, der allgemeinen Erkenntnislage zu Syrien und der hierzu ergangenen aktuellen
Rechtsprechung im Falle der hypothetischen Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
Verfolgung, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat zurückzukehren (dazu unter 2.).
1.
30 Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung
durch den syrischen Staat oder durch nichtstaatliche Akteure wegen eines Anknüpfungsmerkmals der §§ 3
Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 AsylG hat der Kläger weder beim Bundesamt noch im Klageverfahren substantiiert
geltend gemacht.
31 Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger einerseits vorgetragen, dass er aus Syrien
geflohen sei, weil er seine Heranziehung zum Wehrdienst durch die Regierung bzw. durch Rebellengruppen
oder sonstige militärische Akteure in Syrien befürchtete bzw. andererseits, dass er (wohl als potentiell
Wehrpflichtiger bzw. weil er lange Haare hatte) an den Checkpoints Schikanen ausgesetzt gewesen sei.
32 Die insoweit in Betracht kommende Vorverfolgung gem. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG hat der Kläger hiermit
allerdings nicht glaubhaft gemacht. Denn er hat nicht vorgetragen, vor seiner Flucht konkret zum
Wehrdienst einberufen oder zur Teilnahme an kriegerischen Handlungen bestimmt worden zu sein.
Vielmehr hat er lediglich befürchtet, dass ihm derartiges in Zukunft drohen könnte. Eine
Vorverfolgung ist
hierin aber nicht zu erblicken. Auch die allgemeine Lage in Syrien, explizit das allgemeine Kriegsgeschehen
und die Gefahr der diesbezüglichen Betroffenheit, begründet keine Vorverfolgung im zitierten Sinne
(ebenso VG Trier, Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR - juris Rn. 30).
2.
33 Unzutreffend geht die Beklagte im angegriffenen Bescheid hingegen davon aus, dass der Kläger keine
stichhaltigen Gründe dafür vorgelegt habe, dass aufgrund von Nachfluchttatbeständen i. S. d. § 28 Abs. 1,
1a AsylG eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegt. Ebendies ist nach Einschätzung der Kammer der
Fall und rechtfertigt die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dem
Kläger droht aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nach Abwägung aller
bekannten Umstände bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
Verfolgung – im Hinblick auf seine illegale Ausreise, seinen längeren Auslandsaufenthalt und die damit
zusammenhängende Asylantragstellung im westeuropäischen Ausland – jedenfalls wegen zugeschriebener
politischer Überzeugung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, dazu unter a)) und – aufgrund seiner
Wehrdienstpflichtigkeit – wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3a Abs. 1 i. V.
m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, dazu unter b)), die eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar
erscheinen lässt.
a)
34 Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger illegal aus Syrien ausgereist ist. Denn für alle männlichen
Syrer im Alter von 18 und 42 Jahre besteht eine Ausreisegenehmigungspflicht, auch wenn - was bei dem
Kläger schon nicht der Fall ist - der Wehrdienst bereits abgeleistet wurde (vgl. die Auskunft des Deutschen
Orient-Instituts an das OVG RP vom 08.11.2016, S. 2, abrufbar über MILo). Dieser Einschätzung steht
auch nicht entgegen, dass der Kläger - am 29.01.1998 geboren - ausweislich seiner Angaben vor dem
Bundesamt bereits vor Erreichen des 18. Lebensjahres, nämlich am 05.01.2016 aus Syrien ausgereist ist.
Denn das Erreichen seiner Volljährigkeit stand unmittelbar bevor, sodass bei lebensnaher
Betrachtungsweise davon auszugehen ist, dass der Kläger an Checkpoints wie ein Volljähriger (und damit
Wehrpflichtiger) behandelt worden wäre (vgl. insoweit die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG
Düsseldorf vom 02.01.2017, GZ 508-9-516.80/48808, Antwort 3 k), wonach auch ein Wehrdienstentzug
durch „illegale“ Ausreise von nicht gemusterten bzw. nicht einberufenen Wehrpflichtigen durch Geldbuße
oder Gefängnis bestraft wird). Hierfür spricht auch, dass der Kläger selbst vorgetragen hat, an Checkpoints
Schikanen ausgesetzt gewesen zu sein. Hinzu kommt, dass nach Erkenntnissen des Austrian Centre for
Country of Origin and Asylum Research and Documentation - unter Auswertung zahlreicher
Erkenntnisquellen von Nichtregierungsorganisationen und mehrerer UN-Stellen - auch Kinder von allen
Bürgerkriegsparteien (einschließlich mit dem Regime verbündeter Kampfgruppen) zwangsrekrutiert werden
(vgl. ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation:
Anfragebeantwortung zu Syrien: Rekrutierung von Minderjährigen [a-9689], 22. Juni 2016, abrufbar unter
http://www.ecoi.net/local_link/325792/465709_de.html).
aa)
(1)
35 Die Kammer ist in ihrer Spruchpraxis (durch den/die damals zuständigen Einzelrichter) bislang davon
ausgegangen, dass syrischen Staatsangehörigen bei und wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und
längerem Auslandsaufenthalt im Falle der Wiedereinreise nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
eine an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 3
AsylG droht (etwa: VG Sigmaringen, Urteil vom 24.02.2015 - A 3 K 3612/14 - n.v.; ebenso VG
Sigmaringen, Urteil vom 19.08.2014 - A 5 K 1631/14 - n.v.; VG Karlsruhe, Urteil vom 13.08.2013 - A 8 K
2987/10 - abrufbar unter www.asyl.net; VG Freiburg, Urteil vom 12.09.2013 - A 5 K 529/12 - n.v.). Sie
hatte sich dabei im Wesentlichen die tatsächlichen Feststellungen etwa des Verwaltungsgerichts Stuttgart
(Urteil vom 15.03.2013 - A 7 K 2987/12 - juris sowie Urteil vom 20.03.2013 - A 7 K 1754/12 - juris) zu
eigen gemacht, nachdem seitens der Beklagten gestellte Anträge auf Zulassung der Berufung vom
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt worden waren (vgl. Beschlüsse vom 29.05.2013 -
A 11 S 930/13 - und vom 19.06.2013 - A 11 S 927/13 -; Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 -
jeweils juris; Beschluss vom 11.11.2013 - A 11 S 2143/13 - n.v.).
36 Der VGH Baden-Württemberg hatte seinerseits die auch in der (früheren) Entscheidungspraxis der
Beklagten herangezogenen Sachverhaltsfeststellungen des OVG Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt
(Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris), wo es - wenn auch ohne Bezug zur
Flüchtlingseigenschaft - u.a. hieß:
37
„(…) Zwar war es - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend ausführt - schon vor Ausbruch
der Unruhen ständige Praxis, nach einem längeren Auslandsaufenthalt Zurückkehrende einem
eingehenden Verhör durch syrische Sicherheitskräfte zu unterziehen, das sich über mehrere Stunden
hinziehen konnte. Richtig ist auch - wie der Bescheid ebenfalls zutreffend ausführt -, dass bei einer
Verbringung der Person in ein Haft- oder Verhörzentrum der Geheimdienste die Gefahr von Folter und
menschenrechtswidriger Behandlung drohte, wobei diese Verhöre unter Folter auch zur Erpressung von
Informationen über syrische Oppositionelle im Ausland und zur Erzwingung von "Geständnissen" der
inhaftierten Person dienten. Auch das Auswärtige Amt bestätigte schon für die Zeit vor Ausbruch der
Unruhen, dass Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwendeten,
wobei die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlungen in den Verhörzentralen der
Sicherheitsdienste als besonders hoch einzustufen sei.
38
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik
Syrien vom 27. September 2010, S. 16.
39
Es lagen jedoch bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Unruhen keine Erkenntnisse vor, dass mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit für jedweden rückkehrenden Asylbewerber die Gefahr der Überstellung in
ein derartiges geheimdienstliches Haft- oder Verhörzentrum verbunden war. In ständiger Rechtsprechung
hat der erkennende Senat entschieden, dass unpolitischen Rückkehrern keine solche Gefahr drohte, weil
den syrischen Behörden bekannt war, dass die illegale Ausreise und das Stellen eines Asylantrags
regelmäßig kein Ausdruck politischer Opposition zum syrischen Regime war, sondern aus wirtschaftlichen
Gründen zur Erlangung eines gesicherten Aufenthaltsstatus erfolgten.
40
Zuletzt noch zu Beginn der gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Beschluss vom 24. Mai 2011 - 14 A
1186/11.A -, NRWE Rn. 9 f., für die Gefahr politischer Verfolgung.
41
Für die Zeit nach Ausbruch der Unruhen berichtet Amnesty International, dass Folter und andere
Misshandlung verbreitet und straflos in Polizeistationen und geheimdienstlichen Haftzentren angewandt
würden.
42
Amnesty International: End human rights violations in Syria, Amnesty International Submission to the UN
Universal Periodic Review, October 2011, Juli 2011, S. 6.
43
Seit Ausbruch der Unruhen sind Tausende verhaftet worden. Es liegen Erkenntnisse vor, dass Verhaftete
gefoltert oder sonst misshandelt wurden, um "Geständnisse" zu erlangen, insbesondere dass man im Sold
ausländischer Agenten stehe, oder um Namen von Teilnehmern an Protesten zu gewinnen. Verbreitet
wird geohrfeigt, geschlagen und getreten, oft wiederholt und über lange Zeiträume, teils mit Händen und
Füßen, teils mit Holzknüppeln, Kabeln oder Gewehrkolben. Angewandt werden auch Elektroschocks, oder
es werden Zigaretten auf dem Körper des Verhafteten ausgedrückt.
44
Amnesty International, Deadly Detention. Deaths in custody amid popular protest in Syria, August 2011,
S. 9 f., auch zu weiteren Foltermethoden wie Aufhängen an Handgelenken oder Fußknöcheln, zum
sogenannten Deutschen Stuhl zur Überdehnung des Rückgrats und Zusammenpressung von Hals und
Gliedmaßen und zur Autoreifenmethode.
45
Zur Überzeugung des Senats droht gegenwärtig nicht nur politisch Verdächtigen, sondern auch
rückkehrenden Asylbewerbern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verhör unter Anwendung der
vorbeschriebenen Foltermethoden. Dies ergibt sich aus der gegenwärtigen allgemeinkundigen Situation in
Syrien. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass das syrische Regime seit Ausbruch der Unruhen im März
2011 mit massiver Waffengewalt gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgeht und dabei
inzwischen über siebentausend Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen in Kauf genommen hat. Das
Regime kämpft um sein politisches - und seine Träger auch um ihr physisches - Überleben.
46
Die abschiebungsrelevante Besonderheit der gegenwärtigen Unruhen besteht darin, dass sich das Ausland
- bis auf Russland und China - gegen das syrische Regime gestellt hat, die Abdankung des
Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei
fordert. Die besondere Gefahr dieser ausländischen Parteinahme in dem innersyrischen Konflikt besteht
darin, dass auch die Arabische Liga diese Haltung eingenommen hat. Deutschland teilt diese Haltung, hat -
wie viele andere Staaten auch - seinen Botschafter zurückgerufen, beteiligt sich an ständig verschärften
Sanktionen der Europäischen Union und betreibt gegenwärtig die Schaffung einer Kontaktgruppe "der
Freunde eines demokratischen Syriens". Auf dieser außenpolitischen Lage klarer Parteinahme im
innersyrischen Konflikt beruht die vom syrischen Regime vielfach - auch von Präsident Assad - geäußerte
Auffassung, die Unruhen seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Syrien,
47
Vgl. zuletzt die Reden Präsident Assads am 10. und 11. Januar 2012, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
11. Januar 2012, S. 1 f., und vom 12. Januar 2012, S. 6.
48
Bekannt ist weiter, dass Syrien an der hiesigen syrischen Exilopposition ein Interesse hat, da sie sie
geheimdienstlich ausspäht.
49
Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 357 f.; s. auch die kürzlich erfolgte
Ausweisung vierer syrischer Diplomaten wegen der Festnahme zweier syrischer Agenten, die den Auftrag
hatten, syrische Oppositionelle in Deutschland zu beobachten, vgl. die Meldung der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 2.
50
Das ist nunmehr angesichts des Überlebenskampfs des syrischen Regimes und der Intervention aus dem
Ausland in diesem Kampf mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wie oben ausgeführt, gibt es
Erkenntnisse, dass zur Zeit Personen unter Anwendung der Folter verhört werden, um Erkenntnisse über
die innersyrische Opposition zu gewinnen. Deshalb ist es naheliegend, dass auch rückkehrende
Asylbewerber verstärkt unter diesem Gesichtspunkt möglicher Kenntnis von Aktivitäten der Exilszene
verhört werden würden. Je nach den den syrischen Behörden auf Grund geheimdienstlicher Erkenntnisse
bereits vorliegenden Informationen über die Exilszene und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten des
Verhörten, relevante Kenntnis erlangt zu haben, wird bei diesen Verhören auch die Folter eingesetzt
werden, um ein restloses Auspressen aller vorhandenen Informationen zu erreichen. Das ergibt sich aus
der bekannten Rücksichtslosigkeit der syrischen Sicherheitskräfte und der besonderen Situation des
Überlebenskampfs des Regimes vor dem Hintergrund der Intervention aus dem Ausland. Denn schon vor
dem Ausbruch der Unruhen richtete sich das Ausmaß staatlicher Repression am Umfang der Gefährdung
für die Stabilität des Regimes aus.
51
Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik
Syrien vom 27. September 2010, S. 7.
52
Angesichts dieser quantitativ nicht genau abschätzbaren, aber bei der hiesigen großen syrischen
Exilgemeinde,
53
vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2010, S. 358,
54
realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße
Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, ist einem besonnenen
und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten, jetzt als Asylbewerber nach Syrien
zurückzukehren.
(…)
55
Dem Verhör unterliegt jeder rückkehrende Asylbewerber, ebenso dem Verdacht, Kenntnis über die
syrische Exilszene zu haben. Diesem Verdacht wird nunmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jedwedem
Anhalt, der sich aus den bereits vorliegenden Erkenntnissen über die Exilszene und den Aussagen des
Verhafteten ergibt, bis zur vollständigen Abschöpfung des Verhafteten unter der Folter nachgegangen
werden. Daher befindet sich zur Zeit jeder rückkehrende Asylbewerber in der aktuellen Gefahr eigener
Betroffenheit. (…)“
56 In seinem Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - hatte sich der VGH Baden-Württemberg auch
bereits vertieft mit - z.T. noch heute vorgebrachten (etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1
A 10922/16.OVG - juris) Einwänden gegen diese Sichtweise auseinandergesetzt und insbesondere etwa zu
den Verfolgungsressourcen der syrischen Sicherheitskräfte ausgeführt:
57
„(…) Wenn demgegenüber eingewandt wird, mittlerweile habe eine so hohe Zahl von Flüchtlingen das
Land verlassen, die überwiegend in Flüchtlingslagern lebten und somit wohl ganz überwiegend ohne
relevante Kontakte zur inländischen Opposition oder zur Exilopposition blieben, so mag dieses so sein, hat
jedoch ersichtlich nichts mit der Situation der in Deutschland und Europa lebenden Flüchtlinge zu tun.
Denn der von der Beklagten ins Auge gefasste Personenkreis, für den deren Annahme möglicherweise
zutreffen könnte, hält sich vor Ort in der Region, wie etwa in der Türkei, im Libanon oder in Jordanien, in
Flüchtlingslagern auf. Von einer vergleichbaren Situation kann, schon unter dem Aspekt der hohen Zahl
und des möglichen Hintergrundwissens, bei den in Europa sich aufhaltenden Flüchtlingen keine Rede sein.
Jedenfalls lässt sich den Ausführungen der Beklagten nicht entnehmen, dass deren Lage überhaupt im
Wesentlichen vergleichbar sein könnte. Für die syrischen Sicherheitsorgane ist aber in aller Regel aufgrund
der mitgeführten Reisedokumente bei der Einreise ohne weiteres erkennbar, aus welchem Land bzw.
welcher Region der Welt die Einreise erfolgt. Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand, die
syrischen Sicherheitskräfte würden angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen gar nicht mehr über die
erforderlichen Ressourcen verfügen und könnten auch gar kein "Abschöpfungsinteresse" mehr haben,
nicht schlüssig, da diese ohne weiteres nach der Herkunftsregion differenzieren können und im Übrigen
auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen, die in Europa lebenden Flüchtlinge würden etwa massenhaft
gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen durchlaufen. Die Zunahme der Zahl der Flüchtlinge
spricht daher nicht im Ansatz dafür, dass die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr nach längerem
Auslandsaufenthalt - insbesondere auch im westlichen Ausland - ehemals illegal ausgereister Syrer aus
Sicht der syrischen Sicherheitskräfte hinsichtlich einer möglichen Unterstützung von oder Kontakten mit
Regimegegnern, die derzeit auch aus Europa Verstärkung erhalten (vgl. zu Reisebewegungen und
Radikalisierung syrischer Kämpfer auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom
17.07.2013, BT-Drucks. 17/14391), nunmehr kein oder jedenfalls ein signifikant geringeres
Ausforschungsinteresse hervorrufen könnte.
58
Das Vorbringen ist aber auch aus einem anderen Grund unschlüssig und widersprüchlich. Wenn die
Beklagte nach wie vor daran festhält, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG vorliegen und
demgemäß vom Bestehen einer konkreten Gefahr (eines "real risk"), bei der Einreise Opfer einer
Misshandlung oder Folter zu werden, ausgeht, so widerspricht dieses der Annahme, dass den
Sicherheitsbehörden für eine intensive Einreisekontrolle die nötigen Ressourcen fehlen müssen. Etwas
anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn als Grundlage der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
ein grundlegend anderer - schärferer - Prognosemaßstab anzuwenden wäre, was aber nicht der Fall ist
(vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 110 ff., 129).“
59 Zur Frage der Gerichtetheit der Verfolgung auf ein asyl- bzw. flüchtlingsrechtlich relevantes
Anknüpfungsmerkmal hat der VGH Baden-Württemberg (a. a. O. juris Rn. 6) sodann ausgeführt:
60
„Was die - jedenfalls sinngemäß - in diesem Zusammenhang erhobenen Einwände der Beklagten gegen die
Annahme des Verwaltungsgerichts, die Maßnahmen der Sicherheitskräfte knüpften an ein asyl- bzw.
flüchtlingsrelevantes Merkmal an, betrifft, ist auch nach den Ausführungen im Zulassungsantrag für den
Senat nach wie vor (vgl. Senatsbeschluss vom 29.05.2013 - A 11 S 930/13) nicht ansatzweise ersichtlich,
dass es ein realistisches anderes Erklärungsmuster geben könnte, zumal die besondere Intensität der
Eingriffe, von der die Beklagte selbst ausgeht, wenn sie sogar drohende Folter festgestellt hat, die
bestehende Gerichtetheit indizieren kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -
NVwZ 2009, 1035). Eine abweichende Einordnung wäre gegebenenfalls dann gerechtfertigt, wenn die
Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu
dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines
diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, einer besonderen Begründung
bedürfte. Wenn die Beklagte einräumt, die erforderliche Gerichtetheit von staatlichen Maßnahmen sei
zwar im Grundsatz durchaus zu bejahen, wenn es auch nur um die Aufklärung des Verdachts einer
abweichenden politischen Gesinnung gehe, aber darauf abstellt, dass in der vorliegenden Konstellation nur
eine Vorstufe der Ermittlungen vorliege und es lediglich um Vorfeldmaßnahmen gehe, so ist eine derartige
Differenzierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht angelegt (vgl. Beschlüsse vom
10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 <340>, und vom 20.12.1989 - 2 BvR 958/86 - BVerfGE 81,
142 <151>, Kammerbeschlüsse vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772, vom 28.02.1992 - 2
BvR 1608/90 - InfAuslR 1992, 215 <218>, vom 28.01.1993 - 2 BvR 1803/92 - InfAuslR 1993, 142
<144>, m.w.N., und vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96 - AuAS 1997, 6) und auch in der Sache für den
Senat nicht nachzuvollziehen, von der mangelnden Praktikabilität einmal ganz abgesehen. Gerade im
Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um
jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet,
liegt es vielmehr nahe, dass dieses gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils von einer potentiellen
Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht. Wenn es nach dem
tatsächlichen Ausgangspunkt der Beklagten jeden treffen kann, bei der Einreise Opfer von
Misshandlungen bis zur Folter zu werden, so bestätigt dies gerade, dass die Sicherheitsorgane - wenn
auch sicherlich völlig undifferenziert - pauschal eine Nähe, wenn nicht gar eine Verbundenheit mit der
Exilszene zunächst unterstellen und die Maßnahmen objektiv auf eine regimefeindliche Haltung gerichtet
sind. Andernfalls würden sie in einer Weise selektiv vorgehen, die es nicht rechtfertigen würde, von einem
bei jedem Einreisenden bestehenden realen Risiko von Misshandlung oder Folter auszugehen, sondern nur
dann, wenn bei den Einreisewilligen zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale festgestellt
werden könnten. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren grundsätzlichen Klärung in rechtlicher
Hinsicht. Bei dieser Ausgangslage stellt sich auch die Frage nach einem möglichen Politmalus nicht mehr.
(…)
61
Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss
vom 21.02.2006 - 1 B 107.05 - juris) danach differenzieren will, ob die Ausreise freiwillig oder im Wege
der Abschiebung erfolgt, und sie die Betroffenen auf die freiwillige Ausreise verweisen will, weil hierdurch
im Falle dieser Art der Rückkehr eine Verfolgung vermieden werden könne, so lässt der Senat offen, ob
dieser Verweis mit den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie vereinbar ist. (…) … die Argumentation der
Beklagten [ist] in tatsächlicher Hinsicht auch nicht nachzuvollziehen; sie entbehrt ausreichend dargelegter
tatsächlicher Grundlagen. Denn allein der Umstand, dass im Falle der freiwilligen Ausreise die Betroffenen
sich gegebenenfalls erst bei der Auslandsvertretung die erforderlichen Papiere besorgen müssen und dabei
die staatlichen Stellen Syriens Kenntnis über den bisherigen Auslandsaufenthalt erlangen werden, lässt
nicht die Schlussfolgerung zu, es bestehe dann später bei der Einreise kein Abschöpfungsinteresse mehr.
Die Beklagte geht von der nicht zutreffenden Annahme aus, dieses Interesse bestehe nur in Bezug auf die
Tatsache eines Auslandsaufenthalts in einem bestimmten ausländischen Staat an sich. Dieses
Erkenntnisinteresse können die Sicherheitsbehörden aber ohne weiteres bei der Einreise durch die
Kontrolle der Papiere ohne intensive Befragung befriedigen. Hierzu bedurfte und bedarf es keiner
"peinlichen" Verhöre. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Auslandsvertretungen
aus diplomatischen Gründen in ihren Räumlichkeiten derartige Befragungsmethoden anwenden könnten
und anwenden würden, weshalb auch insoweit weiterreichende Erkenntnisse nur im Zuge der Einreise zu
gewinnen sind. Sollte die Auslandsvertretung bei einer allgemeinen Befragung keine Erkenntnisse zu
Kontakten mit der Exilszene gewinnen, so ist auch aus ihrer Sicht nichts darüber ausgesagt, ob solche
nicht doch bestanden und - naheliegend - verschwiegen werden, weshalb dann durchaus gute Gründe für
weitere Befragungen bei der Einreise - dann aber mit anderen Methoden - bestehen können. Bei dieser
Ausgangslage könnte die Vorsprache auf der Auslandsvertretung sogar ein gefahrerhöhendes Moment
darstellen, da die Sicherheitskräfte dadurch erst auf die Betreffenden und ihren Aufenthaltsort
aufmerksam gemacht werden.
62
Ungeachtet dessen setzt die Argumentation der Beklagten ein Maß an rationalem Verhalten und
abgestimmter Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden voraus, das im Falle Syriens gerade nicht ohne
weiteres vorausgesetzt werden kann. Die Annahme der Beklagten, die freiwillige Einreise sei - im
Gegensatz zu einer Abschiebung - mit keinem beachtlichen Verfolgungsrisiko verbunden, erweist sich
hiernach als Spekulation. (…)“
63 Bereits im Beschluss vom 19.06.2013 (- A 11 S 927/13 - juris Rn. 14 ff.) hatte der VGH Baden-
Württemberg zur Gerichtetheit ausgeführt:
64
„(…) Geht man von den oben zitierten tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts
Nordrhein-Westfalen (wie auch denen des Verwaltungsgerichts, das sich auch auf ein Urteil des OVG
Sachsen-Anhalt vom 18.07.2012 stützt) aus, so ist nach der vorgenannten Rechtsprechung die Annahme
einer fehlenden Gerichtetheit nicht nachzuvollziehen. Wenn die syrischen Behörden Rückkehrer "bis zur
vollständigen Abschöpfung" verhören, um Informationen von Aktivitäten der Exilszene zu gewinnen, so
wäre es völlig lebensfremd anzunehmen, dass sie nicht zunächst davon ausgehen, die Betroffenen hätten
im Ausland Kontakte zur Exilszene und deren Akteuren gehabt. Denn ohne derartige Kontakte ist nicht
vorstellbar, dass sie über wichtige Informationen verfügen können. Völlig allgemein gehaltene
Informationen hingegen, die jedermann auch ohne näheren Kontakt zur Exilszene gewinnen konnte,
können für die syrischen Behörden nicht von Interesse sein und wären völlig belanglos, wenn, wie das
Oberverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt hat, der syrische Geheimdienst die Exilszene ohnehin
ausspäht, da diese dann dem Geheimdienst auch ohne Befragung von Rückkehrern bekannt sein werden.
(…) Die auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts wie aber auch des
Verwaltungsgerichts (im angegriffenen Urteil) vorzunehmende wertende Gesamtbetrachtung des
Vorgehens, die - worauf die Beklagte zutreffend hinweist - rein objektiv zu sein hat und gerade nicht auf
die Motive des Verfolgers abstellen darf (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -
BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.> und vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 <334 f.>), ist
eindeutig. (…)
65
Die schließlich in rechtlicher Hinsicht aufgeworfene Frage, "ob für die Feststellung der zur Anerkennung
von Asylrecht bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nötigen Anknüpfung bei einer drohenden
Gefährdung genügt, dass hinter der drohenden Vorgehensweise das Aufklärungsinteresse steht, ob es sich
um einen zu bekämpfenden Opponenten handelt", ist nach der oben genannten Rechtsprechung geklärt
und zu bejahen (vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.1990 - 2 BvR 933/90 - NVwZ 1991, 772).
Im Übrigen würde sich diese nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach der syrische Staat
die hier infrage stehenden Handlungen der Rückkehrer - wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung
und der längere Auslandsaufenthalt - als Ausdruck einer von der Ideologie abweichenden Gesinnung
ansehe, auch nicht stellen. (…)“
66 Es besteht keinerlei Veranlassung, von der Sichtweise des VGH Baden-Württemberg abzuweichen. Nach
wie vor gilt, dass zum Komplex der erforderlichen Gerichtetheit keine weiteren Erfolg versprechenden
Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, vielmehr keine naheliegende(re)n Deutungsmöglichkeiten vorhanden
sind, die auf das Fehlen dieser Gerichtetheit führen würden. Sofern das OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom
16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG - n. v.) aus Erkenntnisquellen, wonach der syrische Staat Rückkehrer
wahllos-routinemäßig („routinely“) und damit ohne bekannten politischen Hintergrund abschöpfe, schließt,
dass kein Bezug zu einer politischen Überzeugung bestünde, vermag die Kammer dem angesichts der
eindeutigen Ausführungen des VGH Baden-Württemberg unter Heranziehung der Rechtsprechung des
BVerfG nicht zu folgen. Denn explizit genügt, dass die Frage der politischen Überzeugung mit der
Informationsabschöpfung gerade erst (aus Sicht des syrischen Staates) „geklärt“ werden soll, was
zwanglos das Erfordernis einer massenhaften Befragung und ggf. Inhaftierung auch unpolitischer/nicht-
oppositioneller Rückkehrer mit einschließt.
67 Diese Sichtweise mit der daran anknüpfenden Rechtsfolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
unabhängig von einem individuellen Vorverfolgungsschicksal teilten u. a. auch die meisten
Oberverwaltungsgerichte anderer Bundesländer (vgl. z.B. nur HessVGH, Beschluss vom 27.01.2014 - 3 A
917/13.Z.A - juris = AuAS 2014, 80; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.01.2014 - OVG 3 N 91.13
- juris = AuAS 2014, 82; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 24.04.2014 - 2 L 16/13 - abrufbar
unter www.asyl.net). Insbesondere das OVG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 - juris)
war unter umfänglicher Auswertung aller verfügbaren Erkenntnismittel in einer überwiegend begründeten
Gesamtschau zu dem Ergebnis umfassend gelangt, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche
Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße
unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die
Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie
abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt. Grundlage
dieser Gesamtschau war dabei eine genaue Analyse der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des
generellen Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und anderen
europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, eine Betrachtung der umfassenden Beobachtung
von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch die verschiedenen syrischen Geheimdienste sowie die
Berücksichtigung der Eskalation der innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 und des Umgangs
der syrischen Behörden in Syrien (insbesondere seit Beginn des Jahres 2012) mit Personen, die aus Sicht
der syrischen Behörden verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen.
68 Dem entsprach bis zum Frühjahr 2016 auch die - gerichtsbekannte - Entscheidungspraxis des Bundesamts
(vgl. exemplarisch nur die bei SächsOVG, Beschluss vom 28.04.2015 - 5 A 498/13.A - juris, dokumentierte
Abhilfe), die sich u.a. auf den zuletzt am 17.02.2012 in Gestalt eines „Ad hoc-Berichts“ über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien aktualisierten Lagebericht des Auswärtigen
Amtes stützte. Dort hieß es u.a., die Gefahr körperlicher und seelischer Misshandlung sei in den
Verhörzentralen der Sicherheitsdienste als „besonders hoch“ einzustufen; vieles deute darauf hin, dass im
Zuge der Bekämpfung der Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Shabbiha-Miliz vom Regime
eine Art „carte blanche“ erhalten hätten, und es komme regelmäßig und systematisch zu willkürlichen
Verhaftungen (S. 10 f.).
69 Lebensfremd erscheint demgegenüber die Annahme des OVG Rheinland-Pfalz im Urteil vom 16.12.2016
(Az. 1 K 10922/16.OVG - n. v.), rückkehrende Syrer könnten bei ihrer Wiedereinreise den syrischen
Sicherheitsbehörden im Falle einer drohenden Befragung die Anhörungsniederschrift vor dem Bundesamt,
den Bundesamtsbescheid und die ggf. hierauf ergangenen verwaltungsgerichtlichen Urteile vorlegen, um
zu dokumentieren, dass sie nicht gegen das Regime, sondern allein vor dem Bürgerkrieg geflüchtet seien.
Schon praktisch wird dies kaum realisierbar sein; jedenfalls spricht nichts dafür, dass sich die syrischen
Geheimdienste mit derartigen Unterlagen zufrieden geben würden. Vielmehr gehen die oben zitierten
Erkenntnisquellen von einer umfassenden Informationsabschöpfung (gerade auch über die oppositionelle
Exilszene) aus, über die die vorzeigbaren Unterlagen nichts aussagen (können).
(2)
70 Zur Überzeugung der Kammer hat sich an der Verfolgungsgefahr bzw. an den tatsächlichen Grundlagen für
eine diesbezügliche Prognose für syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger illegal ausgereist sind, um
Asyl nachgesucht haben und sich für längere Zeit (hier: seit mehr als einem Jahr) im - westeuropäischen -
Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aufgehalten haben, nichts Wesentliches (zum
Besseren) geändert. Zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts
ist noch immer davon auszugehen, dass rückkehrenden Syrern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an
ein asylerhebliches Merkmal anknüpfende Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG droht.
71 Maßgeblich für die diesbezügliche Überzeugungsbildung der Kammer ist in erster Linie eine Gesamtschau
der hierzu verfügbaren Erkenntnismittel unter Berücksichtigung der unvermeidlichen Unwägbarkeiten bei
Prognoseentscheidungen auf schmaler bzw. nicht vollends aufklärbarer Erkenntnisgrundlage.
72 Insoweit macht sich die Kammer die Ausführungen der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Sigmaringen
(Urteil vom 23.11.2016 - A 5 K 1495/16 - juris Rn. 67 ff.) zu den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln zu
eigen und zum Gegenstand dieses Urteils. Diese hat ausgeführt:
73
(a) Das
UK Home Office (Country Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5
und 8) knüpft auch aktuell weiter an die Country Guidance-Leitentscheidung des Upper Tribunal vom
20.12.2012 (UKUT 00426 (IAC), abrufbar unter: https://tribunalsdecisions.service.gov.uk/utiac/2012-ukut-
426) an, in der es das Gericht unter Auswertung von 642 Erkenntnismitteln für beachtlich wahrscheinlich
(„real risk“) erachtet hat, dass ein abgelehnter Asylbewerber oder zwangsweise Zurückgeführter - sofern
er nicht zu den Unterstützern des Assad-Regimes zu rechnen sei - grundsätzlich bei seiner Ankunft wegen
einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung Verhaftung, Gewahrsam und dabei ernsthafte
körperliche Misshandlung zu befürchten hat, weshalb die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei.
Ausweislich der Pending country guideline cases list des Courts and Tribunals Judiciary (abrufbar unter
https://www.judiciary.gov.uk/about-the-judiciary/who-are-the-judiciary/judicial-roles/tribunals/tribunal-
decisions/immigration-asylum-chamber/) sind derzeit beim Upper Tribunal keine Verfahren anhängig, die zu
einer weiteren Leitentscheidung führen könnten. Das UK Home Office betont in diesem Zusammenhang
auch die weitere (negative) Entwicklung in Syrien seit Ergehen der Leitentscheidung des Upper Tribunal
und hält an den dortigen Feststellungen fest; Umfang und Verbreitung von Menschenrechtsverstößen in
Syrien hätten zugenommen. Zwischenzeitlich sei sogar davon auszugehen, dass selbst tatsächliche oder
vermeintliche Assad-Unterstützer in Abhängigkeit von ihrem Aufenthaltsort begründete Verfolgungsfurcht
geltend machen könnten. Die sich weiter zuspitzende humanitäre Krise habe zur Folge, dass eine
Rückführung für die meisten Rückkehrer eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde.
74
(b) Der
UNHCR, dessen Berichten besonderes Gewicht zukommt, da er gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art.
2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. 1969 II S. 1293)
zur Überwachung der Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention berufen ist, hält es in seinen
Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen
(HCR/PC/SYR/01; 4. aktualisierte Fassung, November 2015, dort insbes. S. 24 f.), für „wahrscheinlich, dass
die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen, da
sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK haben“. Für viele
aus Syrien geflohene Zivilisten bestehe der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der
direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für
die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition sei es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder
drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines „persönlichen Ausgewähltseins“ abziele. Syrischen
Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen
seien, könne beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß
einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt werde, oder aufgrund ihrer religiösen
Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft
oder das Dorf kontrolliere, aus dem die Betroffenen stammten. In diesem Zusammenhang begrüßt der
UNHCR in den Erwägungen die zunehmende Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten von
Asylsuchenden aus Syrien durch die Mitgliedstaaten der EU in den Jahren 2014 und 2015, insbesondere
im Vergleich zu 2013, als die meisten EU-Staaten Syrern überwiegend subsidiären Schutz gewährt
hätten. Der UNHCR betont bei alledem insbesondere auch wie folgt die Auswirkungen des in Syrien
herrschenden Konflikts und der dortigen Gewalt auf die Zivilbevölkerung (a.a.O., S. 12 ff., hier ohne
Nachweise, Hervorhebung im Original):
75
„(…) Eine sich verstärkende Besonderheit des Konflikts ist der Umstand, dass die verschiedenen
Konfliktparteien oftmals größeren Personengruppen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen bzw.
ethnischen Gruppen sowie ganzen Städten, Dörfern und Wohngebieten, eine
politische Meinung
unterstellen. So sind die Mitglieder größerer Einheiten, ohne dass sie individuell ausgewählt werden,
aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Unterstützung einer gegnerischen Konfliktpartei zum
Ziel von Gegenschlägen verschiedener Akteure geworden, einschließlich Streitkräften der Regierung, ISIS
und bewaffneter oppositioneller Gruppen. Laut übereinstimmenden Berichten sind ganze Gemeinden,
denen eine bestimmte politische Meinung oder die Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei
unterstellt wird, von Luftangriffen, Beschießungen, Belagerungen, Selbstmordattentaten und
Autobomben, willkürlichen Verhaftungen, Geiselnahmen, Folterungen, Vergewaltigungen und sonstigen
Formen sexueller Gewalt und extralegalen Hinrichtungen betroffen. Die Annahme, dass eine Person eine
bestimmte politische Meinung hat, oder eine bestimmte Konfliktpartei unterstützt, basiert oft nur auf
wenig mehr als der physischen Anwesenheit dieser Person in einem bestimmten Gebiet oder ihrer
Abstammung aus diesem Gebiet oder auf ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund oder ihrer
Stammeszugehörigkeit. Es besteht die große und reale Gefahr eines Schadens und diese ist keineswegs
durch den Umstand gemindert, dass ein Verletzungsvorsatz nicht speziell auf die betreffende Person
gerichtet ist. (…)“
76
Für den Fall, dass Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis geprüft würden, konturiert
der UNHCR bestimmte, nicht unbedingt abschließende Risikoprofile (S. 25 f.; z.B. Personen, die tatsächlich
oder vermeintlich Konfliktparteien unterstützen oder opponieren, Angehörige bestimmter Berufsgruppen,
religiöser oder ethnischer Minderheiten, schutzlose Frauen und risikobehaftete Kinder, palästinensische
Flüchtlinge). Auch z.B. das UK Home Office betont aber hierauf bezogen, dass seine Grundannahmen zur
Gefährdungslage von Rückkehrern nicht auf diese Personengruppen beschränkt seien (Country
Information and Guidance; Syria: the Syrian Civil War, 19.08.2016, S. 5 unter Nr. 2.3.2).
77
(c) Die
Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic bei der
Generalversammlung der Vereinten Nationen führt in ihrem Bericht vom 11.08.2016 (A/HRC/33/55,
abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/57d015fd4.html) u.a. aus (hier wiedergegeben in der
sinngemäßen Übersetzung des VG Trier aus seinem Urteil vom 07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -,
Asylmagazin 2016, 383):
78
„75. Zivilisten, vor allem Männer im wehrfähigen Alter, verschwinden nach wie vor von den Straßen
Syriens. Zehntausende Syrer werden vermisst, viele sind unter solchen Umständen verschwunden, die
eine Gewaltanwendung nahe legen. (…)
79
77. Nach einem Muster, das im März 2011 erstmals auftauchte und bis heute anhält, werden Syrer durch
Staatsorgane verhaftet oder entführt und verschwinden dann aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Angehörige berichten regelmäßig über 'verschwundene' Verwandte zwischen 2011 und 2015. Zu den
Orten, an denen Verhaftungen oder Entführungen für gewöhnlich stattfinden, gehören Checkpoints,
Krankenhäuser, Arbeitsstätten und Wohnungen.
80
78. Während des gesamten Bestehens der Kommission haben Syrer über ihre panische Angst davor
erzählt, mitgenommen zu werden und zu 'verschwinden', wenn sie Checkpoints der Regierung passieren
müssen. Einige Frauen wiesen darauf hin, dass der entscheidende Auslöser für ihre Flucht darin lag, dass
ihre erwachsenen Söhne zunehmend dem Risiko ausgesetzt waren, an den Checkpoints festgehalten zu
werden. Diese Furcht ist wohlbegründet: Viele Syrer beklagen verschwundene Familienangehörige,
nachdem diese von Regierungskräften verhaftet oder entführt wurden. (…)
81
79. Andere Opfer verschwanden während ihrer Inhaftierung, als sie von einem bekannten Gefängnis zu
einem unbekannten Ort verbracht wurden.“
82
(d)
Amnesty international beschreibt im Jahresbericht 2016 (amnesty report 2016, abrufbar unter
www.amnesty.de/jahresbericht/2016/syrien) die Intensität des weiter andauernden internen bewaffneten
Konflikts in Syrien. Die Regierungskräfte führten u.a. wahllose Angriffe durch und wählten bewusst auch
Zivilpersonen als Ziele, indem sie Wohngebiete und Gesundheitseinrichtungen mit Artillerie, Mörsern,
Fassbomben und mutmaßlich chemischen Kampfmitteln bombardierten und rechtswidrig Menschen
töteten. Zu Fällen des Verschwindenlassens, Folter, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen und
Inhaftierungen führt der Bericht unter Anführung von Beispielsfällen aus:
83
„(…) Die staatlichen Sicherheitskräfte hielten nach wie vor Tausende Menschen ohne Anklageerhebung
über lange Zeit in Untersuchungshaft. Viele von ihnen waren unter Bedingungen inhaftiert, die den
Tatbestand des Verschwindenlassens erfüllten. Zehntausende Menschen, die seit Ausbruch des Konflikts
im Jahr 2011 inhaftiert worden waren, blieben "verschwunden". Unter ihnen befanden sich friedliche
Regierungskritiker und -gegner sowie Familienangehörige, die anstelle ihrer von den Behörden gesuchten
Angehörigen inhaftiert worden waren. (…)
84
Folter und andere Misshandlungen von Inhaftierten in Gefängnissen sowie durch den staatlichen
Sicherheitsdienst und die Geheimdienste waren auch 2015 weit verbreitet und wurden systematisch
angewendet, was erneut zu vielen Todesfällen in Gewahrsam führte. (…)
85
Zehntausende Zivilpersonen, darunter auch friedliche Aktivisten, wurden von Sicherheitskräften der
Regierung festgenommen. Viele von ihnen verbrachten lange Zeiträume in Untersuchungshaft, wo sie
gefoltert und anderweitig misshandelt wurden. Andere erhielten unfaire Prozesse vor dem Antiterror-
Gericht oder militärischen Feldgerichten. (…)“
86
In einem weiteren Bericht vom 18.08.2016 (‘It breaks the human - torture, disease and death in Syria´s
prison, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/) beschreibt
amnesty
international auf der Grundlage von Interviews mit 65 Betroffenen die Verhältnisse in syrischen
Gefängnissen, insbesondere die erniedrigenden Verhörpraktiken der syrischen Behörden. Amnesty
international schätzt, dass im Zeitraum zwischen 2011 und 2015 17.723 Menschen getötet worden seien,
wobei die tatsächlichen Zahlen unter Berücksichtigung entsprechender Dunkelziffern wohl noch höher
seien (die
Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, deren Angaben womöglich nicht immer
unbesehen übernommen werden können, beziffert die Zahl der in den Gefängnissen der syrischen
Regierung seit Ausbruch der Kampfhandlungen im Jahr 2011 getöteten auf mindestens 60.000, vgl.
Süddeutsche Zeitung vom 23.05.2016). Die meisten der 65 interviewten Inhaftierten hätten zumindest
einen Todesfall während des Gewahrsams miterlebt; alle seien gefoltert oder anderweitig misshandelt
worden.
87
(e) In ähnlicher Weise dokumentiert auch
Human Rights Watch (If the Dead Could Speak - Mass Deaths
and Torture in Syria’s Detention Facilities, 16.12.2016, abrufbar unter
https://www.hrw.org/de/news/2015/12/16/syrien-die-geschichten-hinter-den-fotos-getoeteter-gefangener)
unter Mitwirkung forensischer Pathologen exemplarisch Fälle von Verhaftungen durch die syrischen
Geheimdienste und die Misshandlungen und Foltermaßnahmen in der Haft. Der Bericht untersucht mehr
als 28.000 von etwa 53.000 Fotos, die ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ aus Syrien
herausgeschmuggelt haben soll und die im Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten. Auf diesen Bildern
seien allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene abgebildet, die in Haft oder
nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in einem Militärkrankenhaus verstorben seien. Die meisten
davon seien in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert gewesen. Ihre Leichen seien
in mindestens zwei Militärkrankenhäuser in Damaskus überstellt worden. Pathologen hätten bei einzelnen
Bildern etwa eindeutige Zeichen gefunden für verschiedene Formen von Folter, Hungertod, Ersticken,
stumpfe Gewalteinwirkung und in einem Fall eine Kopfwunde, aus der ersichtlich sei, dass das Opfer aus
kurzer Entfernung erschossen worden sei. In diesen Einrichtungen Festgehaltene hätten auf Befragen z.B.
berichtet, dass sie in stark überbelegten Zellen gesessen, kaum Luft bekommen und so wenig Nahrung
erhalten hätten, dass sie deutlich geschwächt worden seien; oftmals hätten sie sich nicht waschen dürfen,
sodass sich Haut- und andere ansteckende Krankheiten verbreitet hätten, die nicht angemessen behandelt
worden seien. In den Augen von Human Rights Watch besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen auf
den ‚Caesar‘-Fotos systematisch und in großem Umfang ausgehungert, geschlagen und gefoltert worden
sind.
88
(f) Auch das
U.S. State Department (Country Report on Human Rights Practices for 2015, Syria, passim,
abrufbar unter: http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?
year=2015&dlid=252947) berichtet über die von Human Rights Watch analysierten ‚Caesar‘-Fotos und
beschreibt eindrücklich die Art und den - zugenommenen - Umfang der in Syrien verbreiteten
Menschenrechtsverstöße (vgl. insbes. S. 2, 5, 8, 14, 22 des Reports in der pdf-Version). Willkürliche und
ungesetzliche Tötungen, Foltermaßnahmen und das Verschwindenlassen von Personen (auch von
Familienangehörigen) sind danach weit verbreitet. Regierungskräfte würden einschlägigen Berichten
zufolge in tausenden von glaubhaft geschilderten Fällen weiterhin Folter und Vergewaltigungen - auch bei
Kindern - einsetzen, v.a. in Gewahrsamszentren, an Kontrollpunkten oder aber etwa in Einrichtungen der
Luftwaffe, etwa im Militärflughafen Mezzeh in Damaskus.“
89 Schließlich kommt der Bericht der Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab
Republic des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 03.02.2016 (Az. A/HRC/31/CRP.1) unter
Auswertung von insgesamt 621 Interviews sinngemäß zu folgender Einschätzung hinsichtlich der Folgen
einer möglichen „informatorischen Befragung“ durch das syrische Regime: Häftlinge, die von der Regierung
festgehalten wurden, wurden zu Tode geschlagen oder starben infolge von Folterverletzungen. Andere
starben als Folge unmenschlicher Lebensbedingungen. Die Regierung hat Verbrechen gegen die
Menschlichkeit in Form von (physischer) Vernichtung, Mord, Vergewaltigung oder anderen Formen sexueller
Gewalt, Folter, (unberechtigter) Freiheitsstrafe, erzwungenem Verschwinden und anderen unmenschlichen
Handlungen begangen. Basierend auf demselben Verhalten wurden auch Kriegsverbrechen begangen.
(3)
90 Bei der gebotenen Gesamtschau der vorstehend exemplarisch referierten und sonst verfügbaren
Erkenntnismittel gelangt die Kammer zu der Überzeugung, dass tatsächlichen oder vermeintlichen
Anhängern der syrischen Oppositionsbewegung sowie ihren Angehörigen mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit auch weiterhin konkret willkürliche Inhaftierungen zu menschenunwürdigen
Bedingungen, Misshandlungen, Folter und auch willkürliche Tötungen und damit relevante
Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG in extremer Ausprägung drohen. Diese richten sich gegen all
diejenigen, die seitens der syrischen Sicherheitskräfte - und sei es auch zu Unrecht - verdächtigt werden,
sich dem Regime gegenüber nicht loyal und treu zu verhalten oder gar oppositionellen Kräften in
irgendeiner Weise nahe zu stehen. Das syrische Regime hegt offenkundig ein beachtliches
Verfolgungsinteresse selbst gegenüber Personen, die sich im Zusammenhang mit den bewaffneten
Auseinandersetzungen im Land nicht positionieren (wollen) oder schlicht passiv verhalten. Das illustrieren
in eindrücklicher Weise beispielsweise Aussagen von Präsident Assad selbst, der in einer Rede im Juli 2015
deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass das Land denen vorbehalten sein solle, die es beschützten
(wiedergegeben im Fact-Finding Report des
Finnish Immigration Service vom 23.08.2016, Syria: Military
Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, S. 7,
abrufbar unter http://www.migri.fi/download/69645_Report_Military_Service_ Final.pdf?a92be5b59febd388;
den Schlussfolgerungen im Bericht zufolge besteht deshalb - ggf. selbst nach Beendigung der kriegerischen
Auseinandersetzungen - für diejenigen, die das Land verlassen hätten, das Risiko, nicht mehr zurückkehren
zu können).
91 Die Kammer ist auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel und in Übereinstimmung mit der
bisherigen Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (s.o. II. 2. a) aa) (1)) auch der Überzeugung, dass
nicht nur solchen Syrern seitens des syrischen Regimes im Falle einer Rückkehr Verfolgungshandlungen der
vorstehend beschriebenen Art und Intensität drohen, bei denen konkrete Anhaltspunkte für eine
individuelle oppositionelle Haltung erkennbar sind (oder die bereits vorverfolgt waren), sondern dass - von
Einzelfällen offensichtlicher Unterstützer des Assad-Regimes abgesehen - nach wie vor alle Syrer, die illegal
aus Syrien ausgereist sind und (jedenfalls) in Deutschland um Schutz nachgesucht - und diesen schließlich
in Gestalt von subsidiärem Schutz auch zugesprochen bekommen - sowie sich dort länger aufgehalten
haben, bei Rückkehr grundsätzlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit derartige Verfolgungshandlungen in
Gestalt einer Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit zu gewärtigen haben. Dieser Einschätzung
liegt die auf die bereits zitierten Erkenntnisse gestützte Prämisse zugrunde, dass die syrische Regierung
weiterhin ein ausgeprägtes Interesse an Aktivitäten der Exilopposition im Ausland hegt und diese
ausforscht und überwacht, dass eine Rückkehr nach Syrien ohne Kenntniserlangung der syrischen
Behörden für die rechtliche Würdigung nicht unterstellt werden kann und dass es bei einer solchen
Rückkehr verdachtsunabhängig zu Befragungen zur Abschöpfung von Informationen u.a. über die Exilszene
mit der beachtlichen Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter sowie zu willkürlichen
und rechtsstaatswidrigen exekutiven Strafmaßnahmen kommen wird.
92 Noch immer - z.T. sogar verstärkt - ist davon auszugehen, dass die syrischen Nachrichtendienste syrische
Oppositionelle im Ausland als Bedrohung ansehen und nach ihren Möglichkeiten beobachten. Das hat das
Verwaltungsgericht Trier in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 07.10.2016 (Az. 1 K 5093/16.TR
- juris = Asylmagazin 2016, 383), auf dessen Begründung insoweit ergänzend verwiesen wird, unter
Auswertung der hierzu verfügbaren Erkenntnisse aus den aktuellen Verfassungsschutzberichten des
Bundes und einzelner Länder umfänglich dargestellt. Danach verfügen die syrischen Nachrichtendienste
ungeachtet des Bürgerkriegs und damit einhergehender Auflösungserscheinungen in Teilen des
Machtapparates unverändert über leistungsfähige Strukturen; ihr Aufgabenschwerpunkt ist die
Ausforschung von Gegnern des syrischen Regimes, zu denen auch die breit gefächerte säkulare und
kurdische Opposition zählen (vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 263
f.). Sie haben augenscheinlich ein starkes Interesse am Verbleib bekannter Oppositioneller und an deren
Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Die Ausforschung persönlicher Umstände kann dann zur Repression gegen
spätere Rückkehrer oder gegen in der Heimat verbliebene Verwandte genutzt werden (vgl. Sächsisches
Staatsministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236). Dabei können der Einschätzung der
hessischen Behörden zufolge (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport, Verfassungsschutz in
Hessen, Bericht 2015, S. 162) insbesondere Flüchtlinge und deren Familie in der Heimat ausgespäht
werden, gegebenenfalls versuchen fremde Nachrichtendienste, sie als menschliche Quelle zu gewinnen;
darüber hinaus sei nicht auszuschließen, dass ausländische Nachrichtendienste daran interessiert seien,
Informationen über bestimmte Flüchtlingsgruppen und das Agieren der in den Herkunftsländern
verbliebenen Opposition zu erhalten.
93 Auch der vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration herausgegebene
Verfassungsschutzbericht 2015 des Landes Baden-Württemberg (dort S. 268 und 271) betont, dass u.a.
Syrien im Jahr 2015 insbesondere durch die geheimdienstliche Überwachung (ehemaliger) Landsleute, die
im deutschen Exil leben, in Erscheinung getreten sei; die syrischen Dienste seien gezielt auch zur
Überwachung tatsächlicher oder vermuteter regimekritischer Bestrebungen im Ausland eingesetzt worden.
94 Bei der anzustellenden Prognose einer Verfolgungsgefahr für den Fall einer Rückkehr sind Szenarien
zugrunde zu legen, die - sofern man davon im hier zu diskutierenden Zusammenhang überhaupt sprechen
kann - von „zumutbaren“ Heimreiserouten ausgehen. Solche (legalen) Rückkehrmöglichkeiten existieren
faktisch nur über von der Regierung kontrollierte Flughäfen oder offizielle Grenzstationen (ebenso etwa
das österreichische Bundesverwaltungsgericht, statt vieler: BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170
2013874-1/5E -, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at), sodass eine Einreise nach Syrien für Rückkehrer aus
Westeuropa ohne Kenntniserlangung der syrischen Behörden nicht möglich ist. Dabei ist für die
Grenzbeamten aus den mitzuführenden Dokumenten in jedem Fall ersichtlich, dass sich die Betroffenen
zuvor im westlichen Ausland, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben (so
schon VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - juris Rn. 8).
95 Mithin ist (wegen des seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge landesweit zugesprochenen
subsidiären Schutzes: hypothetisch) näher zu betrachten, wie sich eine Ankunft und die Einreisekontrollen
primär auf einem internationalen Flughafen Syriens oder aber an einem sonstigen offiziellen
Grenzübertrittspunkt (von denen nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nur wenige tatsächlich
offen sind, vgl. Auskunft vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf, Az. 508-9-516.80/48840) näher gestalten
würden.
96 Für den Fall einer solchen Rückkehr etwa über den Flughafen Damaskus ist mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es verdachtsunabhängig zu obligatorischen Befragungen
kommen wird. Diese Annahme stützt sich auf den Befund, dass eine Gemengelage ganz unterschiedlicher
Motive ein Informationsinteresse der syrischen Sicherheitskräfte begründet, das sich bei einer Rückkehr aus
Westeuropa, insbesondere Deutschland, realisieren wird. U.a. mit Blick auf die derartigen Rückkehrern
jeweils vorzuhaltende illegale Ausreise, den längeren Aufenthalt in einem Exilstaat für Oppositionelle und
auch vor dem Hintergrund der weiteren extremen Eskalation des Konflikts in Syrien und dem damit
einhergehenden „Freibrief“ zu einer - straflosen - skrupellosen Behandlung auch nur potenziell
Verdächtiger, ist davon auszugehen, dass Rückkehrern sehr pauschal eine ggf. nur vermeintliche Untreue
zum Regime oder gar eine Regimegegnerschaft bzw. die Nähe zu einer solchen unterstellt wird.
97 Die zitierten Erkenntnisquellen lassen auch hinreichend sicher darauf schließen, dass es im Zuge einer
möglichen „informatorischen Befragung“ von Rückkehrern aus Westeuropa durch das syrische Regime zu
Verfolgungshandlungen i. S. d. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2 AsylG kommen wird/würde. Ergänzend
macht sich die Kammer die Ausführungen des VG Meiningen (a.a.O. juris Rn. 45; i. Erg. ebenso z.B. VG
Münster, Urteil vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A - juris Rn. 30 ff.) zur Annahme einer derartigen,
wahrscheinlichen Verfolgungshandlung zu Eigen:
98
„(…) Dass gerade Rückkehrern eine Regimegegnerschaft bzw. eine Nähe zu einer solchen höchst
wahrscheinlich unterstellt werden wird, ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Aufgrund der Einstellung
des syrischen Regimes gegenüber dem westlichen Ausland, welches sich deutlich in der
Staatengemeinschaft gegen das Regime Assad ausgesprochen hat und daher als zutiefst feindlich
empfunden wird, wird dieses aller Voraussicht nach Syrern, die in dieses feindliche Ausland geflüchtet sind,
per se eine feindliche Gesinnung unterstellen. Die Tatsache, dass syrische Flüchtende diese Reise ins
westliche Ausland auf sich nehmen, dürfte der syrischen Staatsspitze zeigen, dass diese zum syrischen
Staat und seinem Einfluss deutlichen Abstand gewinnen wollen, was für diesen gleichbedeutend mit
Regimegegnerschaft sein dürfte. Nachdem viele oppositionelle Gruppierungen sich zunächst im Ausland
formiert haben, so vor allem der Syrische Nationalkongress (SNC - vgl. hierzu Kristin Hellberg,
"Brennpunkt Syrien: Einblicke in ein verschlossenes Land", Herder 2012, S. 96 ff.) und vom Ausland
gesteuert erscheinen oder der syrische Staat zumindest diesen Verdacht hegen muss und ihn auch auf das
westliche Ausland erstreckt, ist es nur sehr wahrscheinlich und aus Sicht der syrischen Machthaber
konsequent, die mit der Flucht ins westliche Ausland gezeigte zumindest regimekritische, jedenfalls aus
Sicht des syrischen Regimes nicht staatstreue Haltung zu ahnden und gleichzeitig das abzuschöpfen, was
von der rückkehrenden Person abgeschöpft werden kann, nämlich Informationsgewinnung über Syrer mit
regimegegnerischem Auftreten oder Unterstützungshandlungen im westlichen Ausland. Zudem erzeugt
der syrische Staat mit solcher Machtdemonstration auch abschreckende Wirkung und verhindert den
vermuteten Informationsfluss von westlichen Unterstützern des Aufstandes zu den im Inland
Verbliebenen. (…)
99
Für eine erhöhte Gefährdung der Rückkehrer spricht auch die Tatsache, dass das syrische Regime gerade
das westliche Ausland für die Unruhen im Land verantwortlich macht bzw. dies offiziell so darstellt
(Spiegel online - 05.02.2013, Interview mit Syriens Vize-Außenminister). Ein Aufenthalt im westlichen
Ausland wird in den Augen der syrischen Sicherheitskräfte bereits auch wegen des Erlebens westlicher
bzw. unabhängigerer Medienberichterstattung über das Geschehen in Syrien und der Gefahr des
Kontaktes mit regimegegnerischen Bestrebungen und Ansichten zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen,
das ein Eingreifen erfordert. Denn erkennbar beharrt der syrische Machtapparat auf dem
Meinungsmonopol und steuert entsprechend die Berichterstattung über die Ereignisse im Land.
Rückkehrer stellen bereits aus diesem Grund ein Risiko der Unterwanderung der Absichten des syrischen
Regimes im Hinblick auf ein gesteuertes Bild von der Lage im Land und in der Welt dar.“
100 Zu derselben Einschätzung gelangt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Schnellrecherche vom
10.09.2015 zum Thema Reflexverfolgung unter Auswertung der derzeitigen Erkenntnismittel,
insbesondere unter Bezugnahme auf eine Übersicht des irischen Refugee Documentation Centre vom
26.03.2013 sowie den Protection Considerations des UNHCR zu Syrien vom 27.10.2014 (abrufbar unter
https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/ syrien/150908-syr-
reflexverfolgung.pdf). Danach würden Personen unter Druck gesetzt, indem ihre Familienangehörigen
Repressionen ausgesetzt, insbesondere verhaftet und gefoltert würden. So würden ganze Familien,
Stämme, religiöse und ethnische Gruppen, sowie Städte und Dörfer zum Ziel von Vergeltungsaktionen.
Betroffen seien beispielsweise Familienangehörige von mutmaßlichen Protestierenden, Aktivistinnen und
Aktivisten, Mitglieder von Oppositionsparteien und bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppierungen,
Dienstverweigerer und Überläufer. Durch die Reflexverfolgung sei es zu „willkürlichen Festnahmen,
Isolationshaft, Folter und anderen Misshandlungen, sexueller Gewalt sowie standrechtlichen
Hinrichtungen“ gekommen (dies ebenfalls als allgemeine Erkenntnisquelle wertend VG Osnabrück, Urteil
vom 05.12.2016 - 7 A 35/16 - juris Rn. 71 sowie VG Ansbach, Urteil vom 19.10.2016 - AN 9 K 16.30460 -
juris Rn. 25).
101 Inhaftierungen nach freiem Ermessen werden auch dadurch gefördert, dass der syrische Staat mit dem
„Gesetz Nr. 55“ vom 21. April 2011 bestimmt, dass eine Inhaftierung ohne konkreten Vorwurf oder gar
eine förmliche Anklage für die Dauer von bis zu 60 Tagen möglich ist (vgl. VG Ansbach, Urteil vom
19.10.2016 – AN 9 K 16.30460 – juris Rn. 29).
102 Auf der Grundlage und unter Ausschöpfung all dieser Erkenntnisse und Einschätzungen erscheint der
Kammer eine Rückkehr in den Heimatstaat für Angehörige der vorstehend näher umrissenen
Personengruppe - und damit auch für den Kläger - aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig
denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände
unzumutbar. Es drohen mit überwiegender und damit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im dargelegten
Sinne nicht nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder eine Vielzahl einzelner Übergriffe.
Vielmehr stellt sich die Gefahrenlage mit Blick auf die in quantitativer Hinsicht zu erwartenden
Eingriffshandlungen so dar, dass für jeden aus Deutschland nach Syrien zurückkehrenden Asylbewerber
mit den genannten Eigenschaften nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres auch die aktuelle
Gefahr eigener Betroffenheit besteht.
(4)
103 Gegenteilige Erkenntnisse, die darauf schließen ließen, dass sich die Lage für potentielle Rückkehrer nach
Syrien „entspannt“ hätte und mithin eine Furcht vor Verfolgung nicht mehr begründet wäre, hat die
Kammer nicht.
104 So rechtfertigt etwa der Umstand, dass die syrische Regierung seit April 2015 wieder vermehrt Pässe
ausstellt und damit Ausreisen erleichtert, keine abweichende Beurteilung und insbesondere nicht den
(spekulativen) Schluss, deshalb sei zugleich das Maß einer etwaigen Rückkehrgefährdung entscheidend
relativiert.
105 Die Auskunft der Deutschen Botschaft in Beirut an das Bundesamt vom 03.02.2016 gibt hierzu die über
Nachrichtenagenturen verbreitete Mitteilung der syrischen Botschaft in Jordanien wieder, wonach allein
dort jeden Monat 10.000 syrische Pässe neu ausgestellt oder verlängert würden; einen solchen Pass
erhalte bei Bezahlung grundsätzlich jeder Syrer. Die syrische Botschaft in Berlin habe dem Auswärtigen
Amt mitgeteilt, im Jahr 2015 insgesamt 6.314 Pässe verlängert und knapp 2.000 neu ausgestellt zu haben
(Vergleichszahl für 2010: 1.894 neue Pässe und 1.365 Verlängerungen). Ergänzend und „unbestätigt zu
möglichen Motiven“ heißt es in der Auskunft der Botschaft Beirut weiter:
106 „Die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes hatte sich im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter
verschlechtert, worauf damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit RUS und IRN,
steigende Inflation, Verfall von Infrastruktur, Verluste von Wirtschaftsräumen (Grenzübergangs Nassib,
Ölfelder) hindeuten. Letztlich liegen der Botschaft Beirut aber keine konkreten Erkenntnisse zur
Verwendung syrischer, staatlicher Einnahmen vor. Es ist zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus
Passgebühren dem allgemeinen, syrischen Staatshaushalt zu Gute kommen.“
107 Auch entsprechenden Presseberichten lassen sich Informationen zur Passausstellungspraxis der syrischen
Behörden entnehmen (zusammengefasst wiedergegeben in einem im Verfahren 3 K 368/16 an das
Verwaltungsgericht des Saarlandes gerichteten Schriftsatz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge
vom 16.09.2016, abrufbar über MILo). Dem Tagesspiegel vom 26.10.2015 und vom 05.11.2015 zufolge
würden etwa 3.000 Pässe täglich ausgestellt, 829.000 seit Jahresbeginn 2015. Die gleichzeitig stark
gestiegenen Passgebühren für Syrer im Ausland hätten der Staatskasse in Damaskus seither mehr als eine
halbe Milliarde Dollar eingebracht; die syrische Regierung nutze die Ausstellung der Pässe als wichtige
Einnahmequelle. Ein in diesem Bericht zitierter türkischer Migrationsforscher ordnete die neue Praxis als
„politischen Schritt“ ein, um die Flüchtlingskrise in Europa weiter anzuheizen.
108 Wenn aber sämtliche Schlussfolgerungen aus der Passausstellungspraxis der syrischen Behörden
zwangsläufig spekulativ bleiben müssen und wenn selbst die Botschaft in Beirut hierbei primär - plausible
und nachvollziehbare - fiskalische Erwägungen und Motive als möglich ansieht oder gar vermutet, kann
diesen Umständen keine valide Aussagekraft für eine abweichende Beurteilung der Rückkehrgefährdung
beigemessen werden (ebenso etwa VG Köln, Urteil vom 25.10.2016 - 20 K 2890/16.A -; VG Münster, Urteil
vom 13.10.2016 - 8 K 2127/16.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016 - 3 K 7501/16.A -; VG Schleswig,
Urteil vom 06.10.2016 - 12 A 651/16 -; VG Regensburg, Urteil vom 29.06.2016 - RN 11 K 16.30666 -
jeweils juris). Bemerkenswerterweise hat das Auswärtige Amt auch in seiner Auskunft an das VG Augsburg
vom 02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) noch die Auffassung vertreten, u.a. wegen fehlender
Erfahrungswerte in Bezug auf aktuelle - bereits damals ausgesetzte - Rückführungen sei es derzeit nicht
möglich, zu beurteilen, ob die Ausstellung eines Reisepasses ein Indiz für oder gegen ein
Verfolgungsinteresse sei.
109 Die Kammer sieht auch keine Anhaltspunkte im Tatsächlichen für die - gleichfalls spekulative - Annahme,
dem syrischen Staat ermangele es zwischenzeitlich an den erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten für
(systematische) Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Rückkehrern, was zum Ausschluss der staatlichen
Verfolgung wegen Verlusts der staatlichen Hoheitsgewalt führen würde (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom
10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - juris Rn. 56 = BVerfGE 80, 315). Zum Einen deuten schon die derzeitigen
militärischen Erfolge der von Russland unterstützten und z.T. „entlasteten“ Regierungskräfte darauf nicht
hin (vgl. hierzu die ausführlichen Darlegungen des VG Trier in seinem bereits mehrfach zitierten Urteil vom
07.10.2016 - 1 K 5093/16.TR -, a.a.O., die sich die Kammer auch insoweit zu eigen macht), wobei hinzu
kommt, dass es für Befragungen der hier in Rede stehenden Art keiner großen Ressourcen bedarf (VG
Saarland, Urteil vom 11.11.2016 - 3 K 583/16 - juris Rn. 28; vgl. im Übrigen auch VG Meiningen, Urteil vom
01.07.2016 - 1 K 20205/16 Me - juris Rn. 49 f.). Zum Anderen würde eine solche Annahme in unzulässiger
Weise auf der Hypothese aufbauen (müssen), die nach Europa geflüchteten Syrer würden massenhaft
gleichzeitig zurückkehren und die Einreisekontrollen (ggf. am Flughafen) durchlaufen (vgl. hierzu abermals
bereits VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2013 - A 11 S 2046/13 - juris Rn. 4).
110 Auch soweit ansatzweise Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Rückkehrgefährdung Asylsuchender
bzw. subsidiär Schutzberechtigter verfügbar sind, fehlt diesen die Aussagekraft, um darauf gestützt
„vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen“ einen Heimreiseversuch
(hypothetisch) anzusinnen. Die hierzu vorliegenden Äußerungen des Auswärtigen Amtes sind bloße
Negativ-Auskünfte ohne verlässlichen und weiterführenden Gehalt. Dem Auswärtigen Amt war es wegen
der Lage in Syrien nicht mehr möglich, seine Lageberichte - wie sonst üblich - in regelmäßigen
Zeitabständen zu aktualisieren; der letzte reguläre Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage
in der Arabischen Republik Syrien vom 27.09.2010 datiert aus der Zeit vor den im Frühjahr 2011
aufgeflammten Unruhen, seither hat das Auswärtige Amt nur einen einzigen „Ad hoc-Bericht“ (vom
17.02.2012) veröffentlicht. Die Deutsche Botschaft Damaskus hat den operativen Dienstbetrieb auf
unbestimmte Zeit eingestellt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge vom 08.03.2012). In der Auskunft der Botschaft in Beirut vom 03.02.2016 heißt es, dem
Auswärtigen Amt lägen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund des
vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe bzw. Sanktionen zu erleiden hätten. Abgesehen von
dem Umstand, dass hierbei allein auf den Auslandsaufenthalt abgestellt und nicht - wie geboten - weiter
differenziert wird, ergibt sich daraus nur, dass Erkenntnisse - sei es mangels Referenzfällen, sei es wegen
der lagebedingten Einschränkungen der Tätigkeit der diplomatischen Vertretung vor Ort - schlicht nicht zu
erlangen sind (a. A., dies nämlich einseitig zulasten des dortigen Klägers wertend, OVG Rheinland-Pfalz,
Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG - n.v.). Ergänzend heißt es nur, es seien Fälle bekannt, bei
denen Rückkehrer nach Syrien befragt worden, zeitweilig inhaftiert worden oder dauerhaft verschwunden
seien, was „überwiegend“ in einem Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise
Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) oder in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten
Militärdienst stehe. Die aktuelle Auskunft des Auswärtigen Amts an das Oberverwaltungsgericht
Schleswig-Holstein vom 07.11.2016 verhält sich hierzu noch knapper, wenn es dort nur noch heißt, das
Auswärtige Amt habe „keine Kenntnisse zu systematischen Befragungen von unverfolgt ausgereisten
Asylbewerbern nach Rückkehr nach Syrien“, und wenn dort wiederholt wird, dass keine Erkenntnisse dazu
vorlägen, dass „ausschließlich aufgrund eines vorausgegangenen Auslandsaufenthalts“ Rückkehrer nach
Syrien Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien. Schließlich lässt die jüngste diesbezügliche Auskunft des
Auswärtigen Amtes (vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf, Az. 508-9-516.80/48840) eher den Schluss
zu, dass die (oben zitierten, aktuellen) Erkenntnisse der Nichtregierungsorganisationen stichhaltig sind: So
gebe es (weiterhin) Berichte über Befragungen des syrischen Regimes nach einer Rückkehr aus dem
Ausland. Das AA könne (aber) zum Inhalt derartiger Befragungen keine Aussage machen. Zu einer
systematischen Anwendung von schwerwiegenden Eingriffen in die Rechtsgüter Leben, körperliche
Unversehrtheit oder physische Freiheit bei derartigen Befragungen lägen keine Erkenntnisse vor. Das AA
habe auch keine Erkenntnisse in dem Sinne, dass unabhängig von bestimmten Verdachtsmomenten jeder
Rückkehrer deshalb gefährdet sei, weil er als mögliche Informationsquelle zur Exilszene in Frage komme.
Nach Kenntnis des AA müssten politisch nicht aktive Syrer(innen) kurdischer Volkszugehörigkeit nicht mit
Eingriffen rechnen, die allein an ihre Volkszugehörigkeit anknüpften. Allerdings sei nicht auszuschließen,
dass einzelne arabischstämmige Syrer sich mit Vergeltungsmaßnahmen für die von der PYD begangenen
Menschenrechtsverletzungen an arabischen Bevölkerungsteilen rächen wollten und dafür kurdische Syrer
angriffen. Zwar seien Personen, die mit keiner oppositionellen Gruppe oder in Oppositionsgebieten aktiven
zivilgesellschaftlichen Organisation in Verbindung gebracht würden, keinen systematischen Eingriffen in die
Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit oder physische Freiheit oder ähnlich gravierende Übergriffe
bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien ausgesetzt. Wenn Rückkehrer aber in Gebiete einreisen
würden, deren Einwohner vom Regime pauschal als „Terroristen“ bezeichnet, ausgehungert und mit
schweren Waffen angegriffen würden, sei mit derartigen Eingriffen zu rechnen.
111 Die vorstehend konturierte Auskunftslage des Auswärtigen Amtes entspricht im Wesentlichen noch immer
seinen Einschätzungen zu Beginn der Unruhen in Syrien und stellt mithin keine tragfähige Grundlage für
eine nunmehr abweichende Lagebeurteilung dar. Schon in seiner Auskunft an das VG Augsburg vom
02.11.2011 (Gz. 508-516.80/47062) hatte es mitgeteilt, eine Asylantragstellung oder der längerfristige
Auslandsaufenthalt seien nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes
bislang
[
Hervorhebung im
Original] für sich allein genommen kein Grund für Verhaftung oder Repressalien gewesen; es werde aber
darauf hingewiesen, dass wegen fehlender Rückführungen keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich
eines etwaigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten
Asylbewerbern vorlägen (vgl. dazu bereits OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.07.2012 - 3 L 147/12 -,
juris). Die jüngste (dargestellte) Auskunft bestätigt sogar - jedenfalls in Teilen - die Möglichkeit
systematischer Eingriffe, wobei sie aufgrund der unzureichenden Beurteilungsgrundlage wie die anderen
Auskünfte ebenfalls zurückhaltend zu bewerten ist.
112 Schließlich ergibt sich eine „positivere“ Beurteilung der Lage für (potentielle) Rückkehrer nicht aufgrund
eines Interviews des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, welches dieser Ende 2015 im tschechischen
Fernsehen gab und worin er erklärte, dass es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute
Syrer“ handele, es aber „natürlich … eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe (zitiert nach OVG
Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG - n.v.). Denn diese Aussage steht in
diametralem Widerspruch zu früheren Interviews, wonach der syrische Bürgerkrieg eine vom Ausland
gesteuerte bzw. veranlasste Verschwörung gegen Syrien sei (vgl. die Erkenntnisse des OVG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A - juris Rn. 37 sowie des VG Meiningen, a. a. O. Rn. 45)
und führt allenfalls zu einem non liquet hinsichtlich der insoweit verfügbaren Erkenntnismittel (a. A.,
nämlich dies einseitig zulasten des dortigen Klägers wertend, denn die entgegenstehenden Interviews als
„eine bloße Mutmaßung“ abtuend OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -
n.v.).
bb)
113 Die nach dem Vorstehenden zu befürchtenden Verfolgungsmaßnahmen bei einer unterstellten Rückkehr
nach Syrien knüpfen auch an in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG aufgezählte asylerhebliche
Merkmale an, nämlich an die politische Überzeugung der jeweiligen Betroffenen; jedenfalls würden die
syrischen Sicherheitskräfte bei den im Fall einer Rückkehr anstehenden Befragungen den Betroffenen - wie
dargelegt - eine Nähe zur Oppositionsbewegung unterstellen oder darauf zumindest aufbauen und diesen
damit entsprechende Merkmale zuschreiben (§ 3b Abs. 2 AsylG); dies legt schon die extreme Intensität der
zu befürchtenden Eingriffe nahe, ein anderes realistisches Erklärungsmuster ist für die Kammer nicht
ersichtlich.
b)
114 Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund beachtlicher Furcht vor Verfolgung ist ferner -
selbstständig tragend - aufgrund des Umstands anzunehmen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach
Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum Wehrdienst eingezogen und sodann zur Teilnahme an den
Kriegshandlungen bestimmt würde.
115 In seinem Leiturteil zum US-amerikanischen Deserteur Shepherd hat der EuGH (Urteil vom 26.02.2015 -
Rs. C-472/13 - NVwZ 2015, 575 Rz. 46) zur Handhabung und Auslegung des Art. 9 Abs. 2 lit. e) QRL (a.
F.), der Grundlage der Bestimmung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist, folgende grundlegenden Ausführungen
getätigt: „Nach alledem [sind] die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der RL 2004/83/EG dahin
auszulegen,
116 - dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen,
117 - dass sie den Fall betreffen, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die
Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der die Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft begehrende Ast. nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt
wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner
Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung
leisten würde,
118 - dass sie nicht ausschließlich Fälle betreffen, in denen feststeht, dass bereits Kriegsverbrechen begangen
wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten, sondern auch solche, in
denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Ast. darzulegen vermag, dass solche
Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden,
119 - dass die allein den innerstaatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle obliegende
Tatsachenwürdigung zur Einordnung der bei dem in Rede stehenden Dienst bestehenden Situation auf ein
Bündel von Indizien zu stützen ist, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände –
insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung
über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Ast. – zu
belegen, dass die bei diesem Dienst bestehende Situation die Begehung der behaupteten
Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt,
120 - dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine
militärische Intervention auf Grund eines Mandats des Sicherheitsrats der Organisation der Vereinten
Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet und dass
der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden und
121 - dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Ast. erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten
Kriegsverbrechen zu entgehen, so dass der Umstand, dass er kein Verfahren zur Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der RL 2004/83/EG
ausschließt, sofern der Ast. nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges
Verfahren zur Verfügung stand.“
122 Ausgehend hiervon ist im Falle des Klägers von einer Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1, 2 Nr. 5 AsylG
auszugehen:
123 Ausweislich der SFH-Länderanalyse zu Syrien aus den Jahren 2014 und 2015 besteht in Syrien gem. Art.
40 der syrischen Verfassung für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und mindestens
42 Jahren eine Militärdienstpflicht.
124 „Von der Wehrpflicht ausgenommen sind Einzelkinder und Männer mit medizinischen Einschränkungen. Es
gibt keine Möglichkeit für einen Ersatzdienst. Wehrdienstverweigerung wird gemäß dem Military Penal
Code von 1950, der 1973 angepasst wurde, bestraft. In Artikel 68 ist festgehalten, dass mit einer
Haftstrafe von einem bis sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft
wird, wer sich der Einberufung entzieht. Wer das Land ohne eine Adresse zu hinterlassen verlässt und
sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße
bestraft. Gemäß Artikel 101 wird Desertion mit fünf Jahren Haft oder mit fünf bis zehn Jahren Haft
bestraft, wenn der Deserteur das Land verlässt. Deserteure, die militärisches Material mitgenommen
haben, die in Kriegszeiten oder während des Kampfs desertierten oder bereits früher desertiert sind,
werden mit 15 Jahren Haft bestraft. In Artikel 102 ist festgehalten, dass ein Deserteur, der im Angesicht
des Feindes desertiert, mit lebenslanger Haft bestraft wird. Exekution ist entsprechend Artikel 102 bei
Überlaufen zum Feind und gem. Artikel 105 bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen.
125 Seit Herbst 2014 hat die syrische Armee Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten auf der
Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren verstärkt. Dort wo die
syrische Regierung die Kontrolle hat, sind die administrativen Strukturen noch intakt und
wehrdienstpflichtige Männer erhalten Einberufungsbefehle. Auch intern Vertriebene werden an ihren
neuen Aufenthaltsorten registriert und in den Militärdienst aufgeboten. Prinzipiell rekrutiert das syrische
Regime alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund. Syrischen Männern im
wehrfähigen Alter der Jahrgänge 1985 - 1991 ist seit dem 20.10.2014 durch ein Verbot der General
Mobilisation Administration des Verteidigungsministeriums die Ausreise verboten, so dass diese seither
nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben.“ (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien:
Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.07.2014, S. 1 f., abrufbar unter:
https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/syrien-
rekrutierung-durch-die-syrische-armee.pdf; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die
syrische Armee, 28.03.2015, S. 4; abrufbar unter:
https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/syrien/150328-syr-
mobilisierung.pdf; ähnlich die Auskunft des AA vom 02.01.2017 an das VG Düsseldorf, Az. 508-9-
516.80/48808: „Syrische Männer müssen sich im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren
lassen und sind laut Gesetz bis zum Alter von 42 Jahren wehrpflichtig. Andere Quellen (ACCORD) gehen
davon aus, dass die Wehrpflicht in der Praxis bis zum 50. Lebensjahr ausgeweitet wird… Nach Kenntnis
des Auswärtigen Amtes ist es kaum möglich, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Wehrpflichtige Männer,
die auf den Einberufungsbescheid nicht reagieren, werden von Mitarbeitern des Geheimdienstes abgeholt
und zwangsrekrutiert... Dem Auswärtigen Amt sind Berichte bekannt, nach denen auch Reservisten zum
Militärdienst eingezogen werden… Wehrdienstentzug wird gesetzlich mit einer Haftstrafe von einem bis
sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren Kriegszeiten bestraft… Berichten zufolge kann
auch ein Wehrdienstentzug durch „illegale“ Ausreise von nicht gemusterten bzw. nicht einberufenen
Wehrpflichtigen durch Geldbuße oder Gefängnis bestraft werden… In Syrien besteht keine Möglichkeit der
Wehrdienstverweigerung, auch die Möglichkeit eines (zivilen) Ersatzdienstes gibt es nicht… Es gibt in
Syrien keine Möglichkeit, sich dem Militärdienst durch sicher zu erreichende inländische
Fluchtalternativen, d.h. verfolgungsfreie Teile Syriens, zu entziehen… Grundsätzlich sind weite Teile
Syriens von teils hochintensiven Kampfhandlungen betroffen. Gefechtsfelder verlagern sich, so dass nicht
mit absoluter Gewissheit vorausgesagt werden kann, wie sich die Lage in bestimmten Landstrichen
weiterentwickelt. Sichere Rückzugsgebiete gibt es nicht… Auch in den von Rebellen kontrollierten
Gebieten soll es gelegentlich zu Zwangsrekrutierung von Männern kommen, insbesondere durch
extremistische Gruppen. Auch der IS nimmt Zwangsrekrutierungen vor.“); z. T. weitergehend noch die
Einschätzung des österr. BVwG, Erkenntnis vom 16.04.2015 - W170 2013874-1/5E -, abrufbar unter
www.ris.bka.gv.at: „Das Überlaufen zum Feind sei mit der Exekution strafbar (…). De facto komme
Desertion einem Todesurteil gleich, das oftmals unmittelbar vollstreckt werde (…). Grundwehrdiener
würden mit Zwangsmaßnahmen zum Einsatz gezwungen, syrischen Soldaten drohe bei der Weigerung
gegen die Protestierenden vorzugehen, Haft und Folter (…). Desertierte syrische Soldaten würden
berichten, dass sie gezwungen worden seien, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter
Frauen und Kinder, zu schießen. Eine große Anzahl von Soldaten sei getötet worden, als sie sich
geweigert hätten auf Zivilisten zu schießen.“; ähnlich das schweizerische Bundesverwaltungsgericht in
seinem Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - (BVGE 2015/3): „6.7.2 Diesbezüglich stellt sich gestützt
auf die geltende Praxis (vgl. E. 5.7 5.9) die Frage, welche Behandlung Dienstverweigerer und Deserteure
seitens der staatlichen syrischen Behörden zu erwarten haben. Wie bereits ausgeführt wurde (E. 6.2.1),
geht aus einer Vielzahl von Berichten hervor, dass die staatlichen syrischen Sicherheitskräfte seit dem
Ausbruch des Konflikts im März 2011 gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner mit größter
Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorgehen. Das syrische Militärstrafrecht sieht nach Erkenntnissen des
Bundesverwaltungsgerichts für verschiedene Abstufungen der Entziehung von der militärischen
Dienstpflicht unterschiedliche Strafmaße vor. Diese variieren zwischen kürzeren Freiheitsstrafen
(beispielsweise zwei Monate bis ein Jahr bei Nichterscheinen nach einem militärischen Aufgebot in
Friedenszeiten, wenn der Dienstpflichtige innerhalb von 15 Tagen nach dem festgesetzten Termin bei
seiner Einheit erscheint; Art. 102 Abs. 1 des syrischen Gesetzes über den Militärdienst vom 3. Mai 2007,
vgl. < http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Law/2007/kk_30_2007.htm >, abgerufen am 12.12.2014)
über lange Haft (so etwa von fünf bis zehn Jahren bei Desertion ins Ausland; Art. 101 Abs. 2 des syrischen
Militärstrafgesetzes [syrMStG] vom 13. März 1950 in der Fassung vom 17. Juli 1979, vgl. <
http://parliament.sy/forms/uploads/laws/Decree/00002365.tif >, abgerufen am 12.12.2014) bis zur
Todesstrafe (bei Desertion mit Überlaufen zum Feind; Art. 102 Abs. 1 syrMStG). Abgesehen von diesem
gesetzlichen Strafrahmen geht allerdings aus zahlreichen Berichten hervor, dass Personen, die sich dem
Dienst in der staatlichen syrischen Armee entzogen haben etwa, weil sie sich den Aufständischen
anschließen wollten oder in der gegebenen Bürgerkriegssituation als Staatsfeinde und als potenzielle
gegnerische Kombattanten aufgefasst werden seit dem Jahr 2011 in großer Zahl nicht nur von
Inhaftierung, sondern auch von Folter und außergerichtlicher Hinrichtung betroffen sind (vgl. Da-
vis/Taylor/Murphy, Gender, conscription and protection, and the war in Syria, in: Forced Migration Review
Nr. 47/2014, S. 35 ff.; HRW, « By All Means Necessary ». Individual and Command Responsibility for
Crimes against Humanity in Syria, Dezember 2011, S. 62 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Syrien:
Rekrutierung durch die syrische Armee, Bern 2014, S. 3 f.; UK Home Office, Operational Guidance Note:
Syria, vom 21. Februar 2014, Ziff. 3.20.4 ff. mit weiteren Nachweisen).“).
126 Zur Einberufungspraxis von Reservisten führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe aus:
127 „Im Oktober 2014 intensivierte das syrische Regime an verschiedenen Orten des Landes die Mobilisierung
von Reservisten. Die syrische Armee und die regierungstreuen Milizen etablierten neue Checkpoints und
intensivierten Razzien im öffentlichen und privaten Bereich, um diejenigen Reservisten zu finden, die sich
bis dahin dem Dienst entzogen haben.Im Oktober 2014 begann das Regime in Hama mit einer
Generalmobilmachung aller Reservisten, die nach 1984 geboren sind. Über 1.500 Männer wurden
innerhalb von vier Tagen an Checkpoints verhaftet. Eine ähnliche Operation fand in Homs statt, dort
wurden 1.200 Männer verhaftet. Eine weitere Generalmobilmachung begann am 27. Oktober in Deir ez-
Zour. Gemäß dem
Institute for the Study of War (ISW) zirkulieren an den Checkpoints der syrischen
Armee Listen mit über 70.000 Namen von Personen, die als Reservisten eingezogen werden sollen.“
(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 3).
128 Zur intensivierten Suche nach Deserteuren und Männern, die sich dem Militärdienst entzogen haben, führt
die Schweizerische Flüchtlingshilfe aus:
129 „Zusätzlich zur Mobilisierung der Reservisten intensivierte das Regime die Suche nach Refraktären, jungen
Männern, die sich dem Militärdienst entzogen haben. Es wurden mobile Checkpoints errichtet und die
Sicherheitsdienste führten anhand von Listen, die auch an Checkpoints und an der Grenze genutzt
werden, Razzien durch. Diese Maßnahmen wurden in allen vom Regime kontrollierten Gebieten
durchgeführt, von Aleppo im Norden bis nach Daraa im Süden des Landes und von Latakia und Tartus an
der Küste bis nach al Hasaka im Osten des Landes.“ (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung
in die syrische Armee, S. 3).
130 Diese Erkenntnisse decken sich mit jenen des Deutschen Orient-Instituts (Auskunft an das OVG Schleswig-
Holstein vom 08.11.2016, S. 2, abrufbar über MILo):
131 „Besonders männliche syrische Staatsangehörige sehen sich nach einer Wiedereinreise in das durch die
syrische Regierung kontrollierte Gebiet wenn älter als 18 Jahre der Einberufung in den Wehrdienst
gegenüber, welcher je nach Eignung und Bedarf zwischen einem und drei Jahren besteht. Die aktuelle
Lage hat das Ableisten der Wehrpflicht allerdings sehr gefährlich werden lassen, da die Streitkräfte in
weiten Teilen des Landes Im Kampfeinsatz sind und die Ausbildungszeit enorm verkürzt wurde. Wurde der
Wehrdienst also nicht vor der Ausreise abgelegt, so kann dies von Seiten der syrischen Regierung verlangt
werden. Diente die Ausreise unter anderem dem Zweck, sich dem Wehrdienst zu entziehen (z.B. durch
Flucht oder Bestechung eines direkten Vorgesetzten), so hat dies eine harte Bestrafung, bis hin zur
Todesstrafe, aber oft auch Folter, zur Folge. Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet wurde, kommt
es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem After von 42 Jahren erneut
eingezogen werden. Auch Einwohner palästinensischer Abstammung, zumeist 1948 nach Syrien geflohen
und dort nun in dritter Generation wohnhaft, wurden Berichten zufolge vermehrt eingezogen.“
132 Im Falle der Auffindung von Deserteuren und Wehrdienstentziehern droht diesen menschenunwürdige
Haft:
133 „Wie bereits von der SFH beschrieben, werden Deserteure und Personen, die sich dem Militärdienst
entzogen haben, inhaftiert und verurteilt. In Haft kommt es zu Folter und Menschenrechtsorganisationen
berichten über Exekutionen von Deserteuren. Auch Familienangehörige werden verhaftet oder von den
syrischen Behörden unter Druck gesetzt.Männer, die von den Sicherheitsdiensten aufgegriffen werden,
werden meistens vom militärischen Sicherheitsdienst oder dem Luftwaffen-Sicherheitsdienst verhaftet.
Einige werden vor das Militärgericht al-Qaboun in Damaskus gestellt. Das
Office of the United Nations
High Commissioner for Human Rights (OHCHR) hat bei beiden Sicherheitsdiensten Fälle von Folter
dokumentiert. Einige der Verhafteten werden vom Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt, bevor sie
eingezogen werden, andere werden verwarnt und direkt in den Militärdienst geschickt. Viele Männer, die
im Rahmen dieser Maßnahmen einberufen werden, erhalten eine nur sehr begrenzte militärische
Ausbildung und werden zum Teil innerhalb nur weniger Tage an die Front geschickt. Es ist nach wie vor
möglich, sich der Einberufung in den Militärdienst zu entziehen. Gemäß dem ISW verlangen Milizen der
National Defense Force, die Checkpoints für die Regierung bewachen, bis zu 600.000 syrische Pfund
(3.300 US-Dollar) von den Einberufenen, damit sie sich vom Militärdienst freikaufen können.“
(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, S. 4).
134 Die syrische Armee hat nach allgemeiner Erkenntnislage im Bürgerkrieg Kriegsverbrechen i. S. d. § 3 Abs. 2
Nr. 1 AsylG begangen. Insoweit macht sich die Kammer wiederum die Ausführungen des VG Meiningen im
Urteil vom 01.07.2016 (Az. 1 K 20205/16 Me - juris Rn. 31 ff. = InfAuslR 2016, 402) zu eigen, wonach
aufgrund zahlreicher Berichte von Nichtregierungsorganisationen gesichert sei, dass das syrische Militär (u.
a. in Rebellengebieten) willkürlich zivile Objekte angreife, Zivilisten außerhalb von Kampfhandlungen z. T.
massenhaft töte, Vernichtungswaffen und geächtete Kriegswaffen (sog. Streu- bzw. Fassbomben,
Clusterbombs) einsetze sowie mit Granatgeschossen, Brandbomben und ballistischen Raketen auf
Wohngebiete und Krankenhäuser ziele. Diese Einschätzung entspricht dem - mit zahlreichen Beispielen
untermauerten - Bericht der internationalen unabhängigen Untersuchungskommission zur
Menschenrechtslage in Syrien vom 11.02.2016, Az. A/HRC/31/68, dessen (englischsprachiger)
Zusammenfassung sinngemäß Folgendes zu entnehmen ist:
135 „Während der Krieg in das sechste Jahr eintritt, sind seine Schrecken allgegenwärtig und fortwährend
präsent. Das Leben der syrischen Bevölkerung wurde verwüstet; sie erlebt die Zerstörung und
Verwüstung ihres Landes. Im Zuge des verstärkten Konflikts bleiben Zivilisten die primären Opfer und sind
oft Gegenstand bewusster Angriffe der kriegführenden Parteien. Ungeheuerliche Verletzungen der
Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts ereignen sich unvermindert, verschärft durch krasse
Straflosigkeit…Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden weiterhin von Regierungskräften und vom
islamischen Staat im Irak und von Al-Sham (ISIS) begangen. Kriegsverbrechen durch die Kriegführenden
sind weit verbreitet…“
136 All dies schließt der Bericht aus folgenden, näher beschriebenen Umständen: Zerstörung ziviler
Einrichtungen (Wohn- und Geschäftsgebäude, Schulen, öffentliche Anlagen/Einrichtungen, Krankenhäuser
und andere medizinische Einrichtungen, Luftschläge gegen ausschließlich zivilgenutzte Gegenden mit
zahlreichen zivilen Opfern), Belagerung und Aushungerung (mehrheitlich von oppositioneller Bevölkerung)
bewohnter Gegenden, Verhinderung des humanitären Zugangs, ungezügelt erfolgende Kriegsverbrechen,
wobei explizit auch dem syrischen Regime Derartiges zur Last gelegt wird.
137 Aus alledem schließt die Kammer, dass im Hinblick auf syrische Wehrdienstpflichtige eine Sachlage vorliegt,
die eine Verfolgungshandlung i. S. d. Art. 9 Abs. 2 lit. e) QRL 2004/83/EG (dem § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG
entspricht) begründet. Denn Wehrdienstpflichtige erfüllen alle Voraussetzungen, wie sie der EuGH in
seiner Leitentscheidung zu § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG vom 26.2.2015 (Rs. C-472/13 - Shepherd - juris =
NVwZ 2015, 575) aufgestellt/eingefordert hat. Insbesondere ist mit beachtlicher (hoher)
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Angehörige der syrischen Armee an Kriegsverbrechen i. S. d. §
3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG (jedenfalls mittelbar) beteiligt sind/wären.
138 Die Verweigerung des Militärdienstes knüpft auch an das Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung
i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 2 Nr. 5 AsylG an. Denn ein Regime, das den Krieg unter Verletzung
humanitärer Rechtsregeln führt, sieht im Verweigerer einen Oppositionellen, so dass die ihm drohende
Strafverfolgung oder sonstige Bestrafung Verfolgung darstellt (EuGH, C-175, 176, 178, 179/08, Slg. 2010,
I-1532 = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rn. 70 – Abdullah; zitiert nach Marx, NVwZ 2015, 579, 582;
wie hier VG Sigmaringen, Urteil vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 - juris Rn. 119 mit Verweis auf VG
Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 - juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A
5162/16 - juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - a.a.O.: „Die
politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und
Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen
Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig
behandelt werden.“).
139 Sofern das OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG - n.v.) - hiervon abweichend -
vertritt, dass keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Konnexität/Gerichtetheit zwischen
Verfolgungshandlung und Anknüpfungsmerkmal bestünde, weil von der Rekrutierung in die syrische Armee
prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund betroffen seien und
hinsichtlich der Wehrdienstpflichtigen nicht erkennbar sei, dass sich aus der Wehrdienstentziehung allein
ein sog. Politmalus ergebe, folgt die erkennende Kammer dem explizit nicht. Denn die Kammer vermag
keinen Unterschied zwischen Deserteuren, bzgl. derer wohl auch das OVG Rheinland-Pfalz eine
Gerichtetheit i. S. d. § 3a Abs. 3 AsylG annehmen will, und (noch nicht desertierten)
Wehrdienstpflichtigen/Rekruten zu erkennen. Letztere haben sich (ggü. ersteren) lediglich vor ihrer
Einberufung bereits dem Wehrdienst entzogen. Dass das syrische Regime hierin ein
Unterscheidungskriterium erblicken und Wehrdienstentzieher ggü. Deserteuren signifikant „besser“ (i. S. v.
völkerrechtmäßiger) behandeln würde, ist den zitierten Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Schließlich
spricht auch nicht die massenhafte Desertion bzw. Wehrdienstentziehung gegen die Zuschreibung eines
Anknüpfungsmerkmals. Vielmehr schlägt die Desertion bzw. Wehrdienstentziehung auf jeden einzelnen
Betroffenen durch, denn - wie das OVG Rheinland-Pfalz selbst ausführt - besteht ein erhebliches
Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee, sodass ein Interesse gerade an jedem einzelnen
Wehrdienstpflichtigen anzunehmen ist.
c)
140 Internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG kann der Kläger nicht erlangen. Bereits aus der Gewährung
subsidiären Schutzes durch die Beklagte folgt mit Blick auf § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG,
dass vom ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich in irgendeinem Landesteil Syriens
aufzuhalten. Dies stimmt auch mit der aktuellen Erkenntnislage weiterhin überein (vgl. nur die Auskunft
der Botschaft Beirut vom 03.02.2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Ohnehin droht die
vorstehend bezeichnete Verfolgungsgefahr aber auch bereits bei der Einreise. Insoweit macht sich die
Kammer die Erwägungen des VG Trier im Urteil vom 07.10.2016 (Az. 1 K 5093/16.TR - juris Rn. 84 =
Asylmagazin 2016, 383) zu Eigen. So geht auch das Auswärtige Amt (sinngemäß) in seiner jüngsten
Einschätzung davon aus, dass eine inländische Fluchtalternative nicht besteht (vgl. die bereits zitierte
Auskunft an das VG Düsseldorf vom 01.02.2017, Az. 508-9-516.80/48808: „Grundsätzlich sind weite Teile
Syriens von teils hochintensiven Kampfhandlungen betroffen. Gefechtsfelder verlagern sich, so dass nicht
mit absoluter Gewissheit vorausgesagt werden kann, wie sich die Lage in bestimmten Landstrichen weiter
entwickelt. Sichere Rückzugsgebiete gibt es nicht.“).
III.
141 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht
erhoben.