Urteil des VG Sigmaringen vom 23.01.2017

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VG Sigmaringen Urteil vom 23.1.2017, 1 K 5304/15
Einkommen des Auszubildenden; Einkommensteuerbescheid
Leitsätze
Liegt im Zeitpunkt der Entscheidung über den Förderungsantrag ein Einkommensteuerbescheid für den
Auszubildenden vor, was in Betracht kommt, wenn sich der Entscheidungsprozess über eine längere Zeit
hinzieht, ist dieser für die Ermittlung des Einkommens des Auszubildenden zugrunde zu legen. § 24 Abs. 4
BAföG findet entsprechende Anwendung.
Tenor
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für den Bewilligungszeitraum 10/2014 bis 09/2015
Ausbildungsförderung in Höhe von 62,00 EUR monatlich zu bewilligen. Die angefochtenen Bescheide werden
aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin trägt 9/10, der Beklagte trägt 1/10 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt die Bewilligung von Ausbildungsförderung.
2 Die Klägerin nahm nach Abschluss eines Studiums der Psychologie (Diplom) nach der Bescheinigung ihrer
Ausbildungsstätte nach § 9 BAföG am 01.09.2012 eine postgraduale Ausbildung in der Fachrichtung
Psychotherapie mit dem Hauptfach Verhaltenstherapie und dem Studienziel Approbation („staatl. Heilkunde
Psychotherapie) an der ... Akademie für ... ... auf. In den Bewilligungszeiträumen 10/2012 bis 09/2013 und
10/2013 bis 09/2014 erhielt sie Ausbildungsförderung.
3 Am 30.09.2014 stellte sie einen Weiterförderungsantrag.
4 Mit Bescheid vom 16.01.2015 lehnte der Beklagte den Förderungsantrag für den Bewilligungszeitraum
10/2014 bis 09/2015 ab. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin könne ihren Gesamtbedarf in Höhe von
670,00 EUR durch anzurechnendes eigenes Einkommen in Höhe von 477,45 EUR und anzurechnendes
Einkommen ihrer Eltern decken.
5 Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein. Sie trug im Wesentlichen vor, dass ihr eigenes Einkommen
nicht richtig berücksichtigt worden sei. Sie rügte insbesondere die Nichtberücksichtigung von
Werbungskosten und von Freibeträgen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Sie sei auch
elternunabhängig zu fördern, weil sie ihr Erststudium erfolgreich abgeschlossen habe und ihre Eltern nicht
mehr verpflichtet seien, ihr Unterhalt zu leisten.
6 Das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesamt für Ausbildungsförderung - wies den Widerspruch der
Klägerin mit Bescheid vom 30.11.2015 zurück.
7 Die Klägerin hat am 09.12.2015 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen erhoben. Zur Begründung
trägt sie im Wesentlichen vor, maßgeblich für die Bestimmung ihres anzurechnenden Einkommens seien die
mittlerweile vorliegenden Einkommensteuerbescheide für die Kalenderjahre 2014 und 2015.
8 Die Klägerin beantragt (sachdienlich formuliert),
9
den Bescheid des Beklagten vom 16.01.2015 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums
Stuttgart - Landesamt für Ausbildungsförderung - vom 30.11.2015 aufzuheben und den Beklagten zu
verpflichten, ihr für den Bewilligungszeitraum 10/2014 bis 09/2015 Ausbildungsförderung in gesetzlicher
Höhe zu bewilligen.
10 Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
11 die Klage abzuweisen.
12 Zur Begründung führt der Beklagte aus, es lägen keine nachvollziehbaren Angaben von Seiten des Klägerin
vor, die eine andere Berechnung ihres Einkommens als im Verwaltungsverfahren rechtfertigten.
Hauptproblem sei der Wunsch der Klägerin, ihre Einkommensteuerbescheide als Einkommensnachweis für
das im Bewilligungszeitraum erzielte Einkommen zu akzeptieren.
13 Der Kammer haben die Akten der Klägerin beim Beklagten aus dem streitigen Bewilligungszeitraum und die
Widerspruchsakte des Regierungspräsidiums Stuttgart vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird
darauf sowie auf die Akte aus dem Klageverfahren verwiesen.
14 Die Klägerin hat mit Schreiben vom 30.12.2016, der Beklagte hat mit Schreiben vom 12.01.2017 auf die
Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
15 Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2
VwGO).
16 Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine teilweise Förderung
ihrer Ausbildung. Einkommen der Klägerin ist auf ihren Bedarf nicht anzurechnen (1.). Das anzurechnende
Einkommen ihrer Eltern deckt den Bedarf der Klägerin nicht vollständig (2.).
1.
17 Für die Berechnung des auf den Bedarf anzurechnenden eigenen Einkommens der Auszubildenden (§ 11
Abs. 2 Satz 1 BAföG) sind nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BAföG die Einkommensverhältnisse im
Bewilligungszeitraum maßgebend. Dies erfordert, da die Entscheidung bei rechtzeitiger Antragstellung auch
schon vor dem Beginn des Bewilligungszeitraums ergehen sollte, in aller Regel eine Prognose über das
zukünftige Einkommen der Auszubildenden. Die Heranziehung von Einkommensteuerbescheiden scheidet,
da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegen können, regelmäßig aus. Zieht sich die Entscheidung aber
im Einzelfall über einen längeren Zeitraum hin und liegt dann bereits ein bestandskräftiger Steuerbescheid
vor, ist dieser der Entscheidung zugrunde zu legen. Liegt ein bestandskräftiger Steuerbescheid vor, gibt es
keinen Grund für die unterschiedliche Behandlung von Auszubildenden und Eltern bei der Ermittlung deren
Einkommens. Die sachlichen Gesichtspunkte, die dafür maßgeblich sind, bei den Eltern den
Einkommensteuerbescheid für bindend zu erklären, gelten auch für Einkommensteuerbescheid der
Auszubildenden selbst. Den Ämtern für Ausbildungsförderung soll es ermöglicht werden, auf den sachkundig
von den Finanzbehörden ermittelten Grundlagen aufzubauen und sich eigene Ermittlungen und
Berechnungen aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität zu ersparen (vgl. zur Maßgeblichkeit der
Einkommensteuerbescheide in der vorliegenden Fallkonstellation: Ramsauer/Stallbaum,
Bundesausbildungsförderungsgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2016, § 22 Rn. 15). Da sich
Bewilligungszeiträume regelmäßig nicht mit dem Kalender-/Steuerjahr decken, ist das vom Finanzamt
ermittelte Einkommen auch regelmäßig nicht das im Bewilligungszeitraum zugeflossene Einkommen. Hier
bietet es sich an, die Vorschrift des § 24 Abs. 4 BAföG entsprechend anzuwenden, wovon die Kammer
Gebrauch macht. Auf das so ermittelte Monatseinkommen ist der Freibetrag für die Auszubildende selbst
nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG a.F. anzuwenden. Die Vorschrift des § 23 Abs. 3 BAföG, wonach die
Vergütung aus einem Ausbildungsverhältnis davon abweichend voll anzurechnen ist, greift nicht ein. Grund
des Entfalls des Freibetrags ist, dass diese Mittel gewissermaßen zwangsläufig und durch und für die
Ausbildung zufließen, also nicht das Ergebnis besonderer zusätzlicher Anstrengungen sind, die Anerkennung
durch einen Freibetrag verdienen können (Ramsauer/Stallbaum, Bundesausbildungsförderungsgesetz,
Kommentar, 6. Auflage 2016, § 23 Rn. 36). Bei Einkünften aus selbstständiger Tätigkeit kann generell davon
ausgegangen werden, dass sie auf besonderen zusätzlichen Anstrengungen beruhen. Für die Einkünfte aus
unselbstständiger Tätigkeit, die nach Abzug der Sozialpauschale in Höhe von 1,67 EUR monatlich im
Bewilligungszeitraum zu berücksichtigen sind, liegen der Kammer keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie
aus einer Vergütung für das Ausbildungsverhältnis der Klägerin stammen. Etwaige zu berücksichtigende in
den Steuerbescheiden nicht enthaltene Einkünfte aus Kapitalvermögen sind nach den Angaben der Klägerin
in ihrem Förderungsantrag nicht enthalten. Dort sind Bank- und Sparguthaben, einschließlich Guthaben auf
Girokonten in Höhe von 99,76 EUR eingetragen. Sollten daraus Zinsen geflossen sein, lägen sie jedenfalls
unterhalb des Sparer-Pauschbetrags, der bei Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen abzuziehen
wäre. Zu berücksichtigendes Vermögen ist nach den Angaben im Förderungsantrag nicht vorhanden und
wurde im angefochtenen Ablehnungsbescheid auch auf den Bedarf der Klägerin nicht angerechnet.
18
1
Klägerin - Einkommensteuerbescheid 2014
2
Positive Einkünfte nach § 21 Abs. 1 BAföG
10.377,00 EUR
3
Abzug Sozialpauschale 21,3 % (§ 21 Abs. 2 BAföG a.F.)
-2.210,30 EUR
4
Abzug Steuern
0,00 EUR
5
Jahreseinkommen 2014
8.166,70 EUR
6
Monatseinkommen 2014 (1/12 Betrag aus Zeile 5)
680,56 EUR
7
Einkommen 10 bis 12/2014 (3 x Betrag aus Zeile 6)
2.041,68 EUR
2.041,68 EUR
8
9
Klägerin - Einkommensteuerbescheid 2015
10 Positive Einkünfte nach § 21 Abs. 1 BAföG
11 selbstständige Tätigkeit
951,00 EUR
12 unselbstständige Tätigkeit
34,00 EUR
13 Gesamtsumme
985,00 EUR
14 Abzug Sozialpauschale 21,3 % (§ 21 Abs. 2 BAföG a.F.)
-209,81 EUR
15 Jahreseinkommen 2015
775,19 EUR
16 Monatseinkommen 2015 (1/12 von Zeile 15)
64,60 EUR
17 Einkommen 01 bis 09/2015 (9 x Betrag aus Zeile 16)
581,39 EUR
581,39 EUR
18
19
Einkommen der Klägerin im Bewilligungszeitraum
2.623,07 EUR
20 monatliches Einkommen im Bewilligungszeitraum
218,59 EUR
21 Freibetrag nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG a.F.
-255,00 EUR
22 Differenz Zeilen 20 und 21
-36,41 EUR
23
monatlich einzusetzendes Einkommen der Klägerin
0,00 EUR
2.
19 Reicht das eigene Einkommen der Auszubildenden nicht zur Deckung ihres Bedarfs aus, wird darauf nach §
11 Abs. 2 BAföG das Einkommen ihrer Eltern angerechnet. Die Anrechnung des Einkommens der Eltern der
Klägerin könnte hier nur unter den Voraussetzungen des § 11 Abs. 3 Satz 1 BAföG entfallen. Deren
Einkommen bleibt danach nur dann außer Betracht, wenn die Auszubildende 1. ein Abendgymnasium oder
Kolleg besucht oder 2. bei Beginn des Ausbildungsabschnitts das 30. Lebensjahr vollendet hat oder 3. bei
Beginn des Ausbildungsabschnitts nach Vollendung des 18. Lebensjahres fünf Jahre erwerbstätig war oder 4.
bei Beginn des Ausbildungsabschnitts nach Abschluss einer vorhergehenden zumindest dreijährigen
berufsqualifizierenden Ausbildung drei Jahre und im Falle einer kürzeren Ausbildung entsprechend länger
erwerbstätig war. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Klägerin besucht weder ein Gymnasium
oder Kolleg (1.). Sie hatte bei Beginn ihrer derzeitigen Ausbildung das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet.
Die Klägerin wurde am 09.07.1985 geboren. Ihre derzeitige Ausbildung nahm sie aber bereits am
15.09.2012 auf (2.). Für eine Erwerbstätigkeit von fünf Jahren nach Vollendung des 18. Lebensjahres (3.)
bzw. einer Erwerbstätigkeit von drei Jahren nach einer dreijährigen berufsqualifizierten Ausbildung (4.) gibt
es keine Anhaltspunkte. Die Klägerin hat vor der Aufnahme ihrer jetzigen Ausbildung Psychologie studiert.
20 Die Anrechnung des Einkommens der Eltern der Klägerin richtet sich nach §§ 21, 24 und 25 BAföG. Als
Einkommen sind nach § 21 Abs. 1 Satz 1 BAföG hier die Summe der positiven Einkünfte im Sinne des § 2
Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes und sonstige Einnahmen nach § 21 Abs. 3 Nr. 4 BAföG (Vater)
maßgebend, welche sich aus dem Einkommensteuerbescheid ergeben. Maßgeblich ist nach § 24 Abs. 1 BAföG
das Einkommen der Eltern der Klägerin im Jahr 2012, da der streitige Bewilligungszeitraums im Jahr 2014
beginnt.
21 Die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens der Eltern kann den folgenden Tabellen entnommen werden
(vgl. Einkommensberechnung im Bescheid des Studierendenwerks X vom 25.07.2014 für ... ... im
Bewilligungszeitraum 04/2014 bis 03/2015 am Anfang der Förderungsakte der Klägerin aus dem streitigen
Bewilligungszeitraum):
22
1
Mutter der Klägerin - ESt-Bescheid 2012
2
Positive Einkünfte nach § 21 Abs. 1 BAföG
3
Sozialpauschale 21,30 % (§ 21 Abs. 2 BAföG a.F.)
4
Steuern
5
Zwischensumme Einkommen
6
Einkommen monatlich
7
Freibetrag für Einkommensbezieher
8
verbleibendes Einkommen
8
Zusatzfreibetrag § 25 IV Nr. 1 BAföG , 50 %
9
anrechenbar nach Abzug Freibeträge
10 anzurechnen für andere Auszubildende (...)
11
anzurechnendes Einkommen
260,39 EUR
23
1
Vater der Klägerin - ESt-Bescheid 2012
2
Positive Einkünfte nach § 21 Abs. 1 BAföG
3
Einkommen nach § 21 Abs. 3 Nr. 4 BAföG
4
Gesamteinkommen
5
Sozialpauschale 21,30 % aus Zeile 2 (§ 21 Abs. 2 BAföG a.F.)
6
Steuern
7
Zwischensumme Einkommen
8
Einkommen monatlich
9
Freibetrag für Einkommensbezieher
10
verbleibendes Einkommen
11 Zusatzfreibetrag § 25 IV Nr. 1 BAföG , 50 %
12
anrechenbar nach Abzug Freibeträge
13 anzurechnen für andere Auszubildende (...)
14
anzurechnendes Einkommen
348,04 EUR
24 Danach sind 608,43 EUR (260,39 EUR + 348,04 EUR) auf den Bedarf der Klägerin anzurechnen. Der
ungedeckte Bedarf beträgt 61,57 EUR (670,00 EUR - 608,43 EUR). Dieser Betrag ist nach § 51 Abs. 3 BAföG
auf volle Euro aufzurunden, so dass sich ein monatlicher Förderungsbetrag in Höhe von 62,00 EUR ergibt.
3.
25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Die Kammer macht von der Möglichkeit des § 167
Abs. 2 VwGO, das Urteil wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären, keinen Gebrauch. Das
Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.