Urteil des VG Saarlouis vom 26.10.2010

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VG Saarlouis Urteil vom 26.10.2010, 2 K 147/10
Gruppenverfolgung von Yeziden im (Zentral-) Irak (Provinz Ninive)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Gerichtskosten werden nicht erhoben; die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens
trägt der Kläger.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung eines
Betrages in Höhe der sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschlusses ergebenden
Kostenschuld abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger, irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und yezidischer
Religionszugehörigkeit, stellte am 18.11.2009 Asylantrag. Er gab an, er habe zuletzt in
Bahzani gewohnt und sei auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.
Zur Begründung des Asylbegehrens gab der Kläger an, er habe im Jahr 2003 in Mosul ein
Institut besucht, weil er Lehrer habe werden wollen. Das Institut habe er verlassen,
nachdem er einmal auf der Heimfahrt wegen seiner yezidischen Religionszugehörigkeit
bedroht worden sei. Mit einem Freund, der Christ sei, habe er in Mosul am 01.03.2009
einen CD-Laden eröffnet. Um nicht als Angehöriger religiöser Minderheiten aufzufallen,
hätten sie sich die Namen Ahmed und Mohamed gegeben und dreimal am Tag eine CD mit
dem Koran laufen lassen. Nach einem bis eineinhalb Monaten hätten sie einen Drohbrief
bekommen, in dem zwei Patronen gewesen seien und in dem gestanden habe, dass sie
Christ und Yezide seien. In dem Geschäft sei er dann von fünf Personen bedroht worden.
Sein Freund, der das gesehen habe, habe die Polizei benachrichtigt, die daraufhin
erschienen sei und die Leute festgenommen habe. Eine Woche später habe er erfahren,
dass das Geschäft in Brand gesetzt worden sei; außerdem seien Fotos von ihm
aufgehängt worden, auf denen er als Yezide und Terrorist bezeichnet worden sei. Er habe
dann in Bashika ein CD-Geschäft eröffnet. Nach drei bis vier Monaten seien kurdische
Sicherheitskräfte in den Laden gekommen und hätten ihn auf das Revier mitgenommen.
Man habe ihm vorgeworfen, CD’s von Saddam Hussein zu verkaufen und dass er früher
Mitglied der Baath-Partei gewesen sei. Er sei geschlagen worden und habe eine Woche in
der Zelle ohne Essen verbringen müssen. Nach einer Woche sei er freigelassen worden.
Den Laden habe er dann nicht mehr weitergeführt, sondern an seinen yezidischen Freund
verkauft. Im Rahmen der Anhörung wurde der Kläger sodann zu den Inhalten der
yezidischen Religion befragt.
Mit Bescheid vom 09.02.2010 lehnte die Beklagte den Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigter ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht
vorliegen und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung in den Irak zur
Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland auf. Zur Begründung ist unter Darlegung im
Einzelnen ausgeführt, die Berufung auf das Asylgrundrecht sei aufgrund der Einreise auf
dem Landweg – und damit über einen sicheren Drittstaat – ausgeschlossen. Ein Anspruch
auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG bestehe ebenfalls
nicht. Politisch motivierte Verfolgung von Seiten des irakischen Staates sei weder
vorgetragen noch ansonsten ersichtlich. Auch eine politisch motivierte Verfolgung durch
nichtstaatliche Akteure habe der Kläger nicht darlegen können. Zwar seien Yeziden als
religiöse Minderheit im Irak nach wie vor einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt; die
für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte lasse sich indes
nicht mehr feststellen. Die Zahl der Yeziden im Irak liege nach Angaben des Auswärtigen
Amtes Schätzungen zufolge zwischen 200.000 und 600.000. Nach anderen Schätzungen
lebten noch 500.000 Yeziden im Irak. Die Hauptsiedlungsgebiete der Yeziden befänden sich
auf zentralirakischem Gebiet in der Provinz Ninive, dem Jebel Sinjar und der Sheikhan-
Region. Seit den koordinierten Anschlägen auf die yezidische Bevölkerung im August 2007,
bei denen zwei yezidische Dörfer zerstört und über 700 Personen getötet worden seien,
seien keine größeren Anschläge gegen Yeziden mehr bekannt geworden.
Eine individuelle Verfolgungsbetroffenheit habe der Kläger nicht glaubhaft machen können.
Der Abbruch der Ausbildung zum Lehrer aufgrund von Drohungen im Jahr 2003 stehe in
keinem kausalen Zusammenhang mit der Ausreise im Jahr 2009. Soweit er wegen des
Betreibens eines Ladens in Mosul bedroht worden sei, habe er selbst ausgeführt, dass die
Personen, die ihn bedroht hätten, festgenommen worden seien und er den Laden nicht
weitergeführt habe. Absurd sei sein Vorbringen, er sei auf Plakaten als Yezide und Terrorist
bezeichnet worden. Nicht glaubhaft sei seine Darstellung hinsichtlich des in Bashika
eröffneten Geschäftes. Schwer nachvollziehbar sei bereits, dass in einem Ort wie Bashika,
in dem ausschließlich arabisch gesprochen werde und der in Zentralirak liege, kurdische
Sicherheitskräfte in der Lage sein sollten, Personen festzunehmen und festzuhalten. Der
Kläger habe sich auch hinsichtlich der Dauer der angeblichen Inhaftierung widersprochen.
Nicht klar sei auch, warum man ihn eine Woche oder zwei Tage festhalten, schlagen und
ihn dann freilassen sollte. Nicht nachvollziehbar sei, dass er viele Jahre nach dem Sturz des
alten Regimes wegen der früheren Mitgliedschaft in der Baath-Partei noch festgenommen
werden sollte. Selbst wenn man die im Zusammenhang mit den Geschäften geschilderten
Schwierigkeiten als wahr unterstellen wollte, hätte es ausgereicht, das Geschäft zu
schließen, was der Kläger ja auch vor der Ausreise getan habe. Eine Verfolgung aus diesen
Gründen könne daher im Falle einer Rückkehr ausgeschlossen werden.
Europarechtliche Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG
bestünden nicht, selbst wenn man vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten
Konflikts in der Herkunftsregion des Klägers ausgehe. Obwohl die Provinz Ninive, aus der
der Kläger stamme, zu den Regionen mit den meisten Terroranschlägen und höchsten
Opferzahlen zähle, erreiche der Konflikt dort kein so hohes Niveau, dass stichhaltige
Gründe für die Annahme bestünden, der Kläger sei bei einer Rückkehr allein durch seine
Anwesenheit in diesem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens
oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt. Individuelle gefahrerhöhende Umstände habe der
Kläger weder vorgetragen noch seien sie sonst erkennbar. Nationale Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Die allgemeine
Gefahrenlage im Irak habe sich nicht zu einer extremen Gefahr verdichtet. Auch unter
Einbeziehung nicht konfliktbedingter allgemeiner Gefahren wie z. B. einer hohen Kriminalität
oder der schlechten Versorgungslage sei eine extreme Gefahrenlage, die zur
Schutzgewährung führen müsste, nicht festzustellen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die am 16.02.2010 bei Gericht eingegangene Klage.
Zur Begründung ist vorgetragen, der Kläger sei in das Visier sowohl von islamistischen
Kräften als auch von kurdischen Sicherheitskräften geraten. Das Geschäft in Mosul sei in
der Nähe der Universität gelegen gewesen. Dort hätten auch die Plakate gehangen. Der
Kläger und sein Freund hätten Fehler bei der Tarnung ihres Geschäfts gemacht, da sie
kaum Kenntnisse von den Regeln des Islam gehabt hätten. Es sei ihnen nicht bekannt
gewesen, dass das Abspielen von CD’s mit Korantexten nur zu ganz bestimmten Zeiten
erlaubt sei. Außerdem hätten sie sunnitische und schiitische Texte durcheinander
abgespielt, was ebenfalls nicht zulässig und daher verdächtig gewesen sei. Dass der Kläger
später in Bashika von kurdischen Sicherheitskräften belangt worden sei, sei glaubhaft.
Bashika liege in dem zwischen Kurden und Arabern umstrittenen Gebiet, obwohl es offiziell
zur Provinz Ninive gehöre. Die Kurden versuchten, das Gebiet unter ihre Kontrolle zu
bekommen und seien dort auch mit Sicherheitskräften aktiv. Hinsichtlich der Dauer der
Inhaftierung habe es Missverständnisse mit der Dolmetscherin gegeben. Der Kläger habe
von Anfang an gesagt, dass er eine Woche festgehalten worden sei und in den ersten zwei
Tagen kein Essen erhalten habe. Bei dem Vorwurf, er habe in seinem Laden in Bashika
CD’s über Saddam Hussein verkauft, handele es sich um einen Vorwand. Man habe den
Kläger treffen wollen, weil er und sein Vater Mitglieder der Baath-Partei gewesen seien. Der
Vater sei im Bashika-Gebiet der dritte Mann in der Baath-Partei gewesen. Der erste Mann
sei bereits umgebracht worden, der zweite Mann werde ähnlich behandelt wie der Vater
des Klägers. Diese Verfolgungsmaßnahmen hätten sich erst mit zunehmender Präsenz
kurdischer Kräfte im Bashika-Gebiet verstärkt. Der Kläger hat die Kopie eines
Dienstausweises seines Vaters aus dem Jahr 2000 zu den Akten gereicht.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom
09.02.2010 zu verpflichten festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
hilfsweise festzustellen,
dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, Abs. 3
und Abs. 7 Satz 2 AufenthG vorliegen,
weiterhin hilfsweise festzustellen,
dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5, Abs. 7
Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Beschluss vom 03.09.2010 ist dem Kläger zur Durchführung des Klageverfahrens
Prozesskostenhilfe bewilligt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Asyl- und Ausländerakten. Er war ebenso wie die
in der Sitzungsniederschrift näher bezeichneten Teile der Dokumentation Irak Gegenstand
der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §
60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 3 AsylVfG nicht zu. Auch Abschiebungshindernisse nach § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG liegen nicht vor. Der Bescheid des Bundesamtes der Beklagten vom
09.02.2010 ist vielmehr rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113
Abs. 5 VwGO).
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben
werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder
wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung
nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG
vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von
Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die
anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden
Schutzes ergänzend anzuwenden (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Nach § 60 Abs. 1
Satz 4 AufenthG kann eine Verfolgung ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder
Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, oder
c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure
einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht
willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem
Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht
eine innerstaatliche Fluchtalternative.
Wurde der Ausländer bereits im Herkunftsland in diesem Sinne verfolgt, greift zu seinen
Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab ein. Danach ist ihm die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn im Falle seiner Rückkehr die Wiederholung von
Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.
War der Ausländer demgegenüber noch keiner Bedrohung ausgesetzt, ist darauf
abzustellen, ob im Falle der Rückkehr Verfolgung mit beachtlicher, d. h. überwiegender
Wahrscheinlichkeit droht.
Gemessen an diesen rechtlichen Maßstäben steht zur Überzeugung des Gerichts fest,
dass der Kläger vor seiner Ausreise eine von nichtstaatlichen Akteuren ausgehende und an
seine yezidische Religion anknüpfende Bedrohung seines Lebens und seiner körperlichen
Unversehrtheit weder erlitten hat noch unmittelbar befürchten musste.
Die Kammer hat bei der ausführlichen informatorischen Anhörung des Klägers ebenso wie
bereits die Beklagte nicht die Überzeugung gewinnen können, dass das Vorbringen des
Klägers auf realen Gegebenheiten basiert. Vielmehr hat der Kläger zur Überzeugung des
Gerichts zu dem Zweck, eine Betroffenheit in eigener Person wegen seiner yezidischen
Religionszugehörigkeit belegen zu können, eine Verfolgungslegende konstruiert. Zwar mag
es sein, dass der Kläger in einem Laden, in dem CD’s und Musikkassetten verkauft wurden,
gearbeitet hat bzw. einen solchen Laden gemeinsam mit einer weiteren Person geführt
hat. Die von ihm geschilderten Umstände der angeblichen Bedrohung durch fünf Personen
in dem Ladenlokal am Tag nach dem Erhalt eines Drohbriefs sind aber derart unrealistisch
und lebensfremd, dass sie dem Kläger nicht abgenommen werden können. Wenn es
diesen fünf Personen, die dem Kläger angeblich eine Pistole an den Kopf gehalten haben,
darum gegangen wäre – so jedenfalls die Einlassung des Klägers -, ihn mitzunehmen, wäre
es ein Leichtes gewesen, ihn gewaltsam aus dem Ladenlokal in das Auto zu verbringen,
zumal sie ihn angeblich auch gefesselt hatten. Dass der Kläger stattdessen geraume Zeit
in dem Ladengeschäft mit vorgehaltener Waffe an die Wand gedrückt worden sein solle –
der Kläger spricht selbst von ca. 10 Minuten – und dabei ständig aufgefordert worden sein
soll, mitzukommen, erscheint sinnlos und kann deshalb nicht nachvollzogen werden. Der
von dem Kläger geschilderte Ablauf erscheint in zeitlicher Hinsicht umso unwirklicher, wenn
man bedenkt, dass es dem Geschäftspartner des Klägers, der das ganze Geschehen von
außen gesehen haben soll, gelungen sein soll, in der fraglichen Zeit zu Fuß zu einem
Polizeirevier in der Nähe zu gehen und Polizisten dazu zu bewegen, mit einem Polizeiauto
zu dem Ladenlokal zu fahren und dort die Eindringlinge festzunehmen. Eine plausible
Erklärung dafür, weshalb die angeblichen Terroristen sich dann ohne Gegenwehr
festnehmen ließen, ist der Kläger bezeichnenderweise schuldig geblieben. Mit Blick auf die
hier nur beispielhaft geschilderten Ungereimtheiten geht die Kammer daher davon aus,
dass der Kläger den gesamten Vorfall erfunden hat. Dies gilt auch für das damit
zusammenhängende Vorbringen des Klägers, er habe erfahren, dass in dem
Universitätsviertel von Mosul sowie in Moscheen sein Bild ausgehängt worden sei.
Was die weitere Verfolgungsgeschichte des Klägers angeht, er habe in Baschika alsbald
einen weiteren CD-Laden eröffnet, so erscheint diese schon deshalb wenig nachvollziehbar,
weil das gesamte Inventar des ersten CD-Ladens durch einen Brand vernichtet worden sein
soll. Die erstmalige Einlassung im gerichtlichen Verfahren, das Geld für die Neuanschaffung
habe er aus dem Verkauf eines Familienautos, eines VW Passat, erhalten, hält die Kammer
für eine spontane Erfindung. Dass er in diesem Laden von kurdischen Sicherheitskräften
bedroht und festgenommen worden sein will, wobei die Zugehörigkeit seines Vaters zur
Baath-Partei eine Rolle gespielt habe, nimmt ihm die Kammer im Übrigen ebenso wie die
Beklagte nicht ab. Auf die entsprechenden Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid
der Beklagten, die der Kläger nicht hat erschüttern können, wird insoweit Bezug
genommen. Zudem hat der Kläger sein entsprechendes Vorbringen bei seiner
informatorischen Befragung durch das Gericht ersichtlich „passend“ gemacht, um
entsprechende Vorhalte in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten auszuräumen.
Soweit ihm nämlich in dem Bescheid der Beklagten – zu Recht – vorgehalten wird, er habe
von einer Durchsuchung seines Geschäfts, die angesichts des Vorwurfs, er verkaufe CD’s
von Saddam Hussein, nahegelegen habe, nichts erwähnt, hat er bei seiner gerichtlichen
Anhörung nunmehr angegeben, sein Laden sei nach verdächtigen CD’s und Kassetten
durchsucht worden, es sei aber nichts gefunden worden. Dass der Kläger auf diese Weise
versucht, sein Vorbringen „stimmig“ zu machen, bestätigt letztlich die Annahme, dass
auch dieser Teil seiner Verfolgungsgeschichte keinen realen Hintergrund hat.
Die von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung zu den Akten gereichten „Dokumente“
führen weder zu einer anderen Einschätzung, noch geben sie Anlass zu weiteren
Ermittlungen des Gerichts, zumal entsprechende Schriftstücke im Irak nach den
Erkenntnissen der Kammer problemlos beschafft werden können.
Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom
11.04.2010, Seite 37.
Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling unter dem
Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung von Angehörigen der yezidischen
Religionsgemeinschaft im Irak zu.
Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung
setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener
Verfolgung rechtfertigt. Dabei muss die Gesamtzahl der Angehörigen der von den
Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe (hier: Yeziden) ermittelt werden. Weiter
müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungshandlungen gegen die betroffene Gruppe
festgestellt werden, die an ein oder mehrere Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1
AufenthG anknüpfen (hier: yezidischer Glauben). Alle danach gleich gearteten, auf eine
nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen
Verfolgungsmaßnahmen müssen dann zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung
gesetzt werden. Die für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäbe sind auch
anwendbar unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) und
übertragbar auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz
4 AufenthG.
Unter Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Gerichts in dem nach §
77 Abs. 1 AsylVfG für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung fest, dass eine Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak derzeit nicht gegeben
ist. Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte haben
bisher sowohl die Kammer
vgl. zuletzt Urteil vom 12.08.2008 –2 K 122/08-
als auch das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes
Beschluss vom 26.03.2007 -3 A 30/07 –, in dem
ausgehend von der Gesamtzahl der Yeziden im Irak von
475.000 und 137 festgestellten Übergriffen eine
Anschlagsdichte von 1 : 3467 ermittelt worden ist;
verneint und dabei hat es zur Überzeugung des Gerichts auch nach Auswertung neuerer
Erkenntnisse zu verbleiben.
Die Kammer hat in dem erwähnten Urteil
vom 12.08.2008 - 2 K 122/08 -
unter Berücksichtigung der seit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts berichteten
Übergriffe
vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien an VG
Köln vom 26.05.2008; Uwe Brocks – GIGA – Institut für
Nahoststudien – an VG Köln vom 07.09.2007;
Pressemitteilungen der Süddeutschen Zeitung und Neue
Züricher Zeitung vom 16.08.2007 sowie in FAZ vom
14.07.2008
festgestellt, dass sich nach dem Ansatz des Oberverwaltungsgerichts unter Einbeziehung
von weiteren 400 asylerheblichen Übergriffen ein Verhältnis von 537 : 475.000 ergebe. Da
mithin weiter mehr als 99 % der yezidischen Bevölkerung von Übergriffen verschont
blieben, seien die Anforderungen, die an die Annahme einer Regelvermutung zu stellen
seien, nach wie vor nicht erfüllt.
Daran ist auch unter Berücksichtigung der seither berichteten weiteren Übergriffe
vgl. bspw. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom
11.04.2010; Stellungnahme des Europäischen Zentrums
für kurdische Studien (EZKS) vom 17.02.2010
festzuhalten, zumal es ausweislich des der Kammer vorliegenden Erkenntnismaterials zu
(terroristischen) Übergriffen in dem Ausmaß des Vorfalls am 14.08.2007 in Sinjar, bei dem
336 Yeziden ermordet und etwa 1.000 Familien obdachlos geworden seien, nicht mehr
gekommen ist.
Als gesichert erscheinen ungeachtet der weiter einzubeziehenden Dunkelziffer ein
Feuerüberfall am 14.12.2008 auf ein Haus in Sinjar-Stadt mit 7 Toten und ein
Selbstmordattentat ebenfalls in Sinjar-Stadt am 13.08.2009 mit 21 Toten und 32
Verletzten.
Vgl. EZKS vom 17.02.2010, Seite 14.
Selbst wenn man eine zahlenmäßig niedrigere Gruppengröße als in dem erwähnten
Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes von nur 200.000 bis 250.000
Personen zugrunde legen würde und weiter davon ausginge, dass alle berichteten
Maßnahmen gegen die Yeziden verfolgungsrelevant im Sinne der Art. 9 Abs. 1 a) und Abs.
1 b), Art. 9 Abs. 2 a) und Art. 9 Abs. 3 i. V. m. Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie wären,
wäre die bekannt gewordene Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren nicht geeignet,
eine Verfolgung der Yeziden als religiöse Gruppe zu belegen.
Selbst bei Annahme eines zugunsten des Klägers gerundeten Verhältnisses von 600 :
200.000 (Eingriffshandlungen im Verhältnis zur Personengesamtzahl) bleiben weiter mehr
als 99 % der Yeziden von Übergriffen verschont; damit hält das Ausmaß der
Verfolgungshandlungen einen sicheren Abstand zu der kritischen Verfolgungsdichte, wobei
offenbleiben kann, ob diese Grenze angesichts der Gruppengröße bereits bei einer
Verfolgungsdichte von 1/10 erreicht wäre oder erst etwa 1/3 hinreichend wäre.
Vgl. dazu VG Karlsruhe, Urteil vom 09.06.2010 – A 10 K
3473/09 – juris; BVerwGE 101, 123 ff.
Betrachtet man in der Provinz Ninive diejenigen Gebiete, in denen Yeziden vornehmlich
leben (Distrikt Sinjar, Distrikte Sheikhan und Al-Sheikhan, Subdistrikt Baschika) ist zudem,
was die Gefahr von Verfolgungshandlungen angeht, festzuhalten, dass in den Distrikten
Sheikhan und Al-Sheikhan die Sicherheitslage grundsätzlich besser ist als im Distrikt Sinjar.
Vgl. EZKS, Stellungnahme vom 17.02.2010, S. 23.
Der Kläger kann schließlich nicht die Verpflichtung der Beklagen beanspruchen,
festzustellen, dass einer Abschiebung in den Irak Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3
und 7 Satz 2 AufenthG bzw. nach § 60 Abs. 5 AufenthG, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
entgegenstehen. Auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid kann insoweit
gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG Bezug genommen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr.
11, 711 ZPO.