Urteil des VG Münster vom 21.01.2003

VG Münster: behinderung, schule, lese, behandlung, eltern, rechtschreibschwäche, schüler, gesellschaft, eingliederung, zeugnis

Verwaltungsgericht Münster, 9 K 626/01
Datum:
21.01.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 626/01
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
Höhe des beizutreibenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
1
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten, die durch eine Lerntherapie in der
Praxis T4 in E-stadt in der Zeit vom 01. April 2001 bis 31. Dezember 2001 entstanden
sind.
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Der am 02. November 1990 geborene Kläger zeigte ab dem 3. Lebensjahr Hinweise auf
eine mögliche auditive Wahrnehmungsstörung. Er wurde zum Schuljahresbeginn
1997/1998 in die Städtische Gemeinschaftsgrundschule in X-stadt eingeschult. Aus dem
Zeugnis der 1. Klasse vom 19. Juni 1998 ergibt sich, dass der Kläger sowohl beim
Rechtschreiben als auch beim Rechnen Probleme hatte. Der Kläger ließ sich leicht
ablenken, war unkonzentriert und arbeitete sehr langsam. Im Laufe des 2. Schuljahres
zog die Familie des Klägers nach B-stadt um und der Kläger besuchte die 2. Klasse der
T-schule B-stadt. Aus dem Zeugnis der 2. Klasse vom 14. Juni 1999 ergibt sich, dass
der Kläger sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in die Klassengemeinschaft
eingefunden hatte und es ihm gelang vereinzelt Kontakt zu Mitschülern zu knüpfen. Aus
den Hinweisen zu Lernbereichen und Fächern ergibt sich, dass sein Lesevortrag noch
nicht flüssig war und er sehr langsam schrieb. Seine Rechtschreibleistung war noch
nicht beständig und er zeigte große Unsicherheiten auch beim Rechnen. Im Laufe des
2. Schuljahres wurde der Kläger in der Praxis für Heilpädagogik M. Heuft in Wuppertal
vorgestellt. Aus dem entsprechenden Bericht der Heilpädagogin vom 07. Dezember
1998 ergibt sich, dass der Kläger einen Entwicklungsrückstand von etwa neun Monaten
zeigte bei einem rechnerischen IQ von 91. Aufgaben aus dem Bereich auditiver
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Wahrnehmung konnte der Kläger nicht oder nur zum Teil lösen. Deshalb wurde eine
heilpädagogische Behandlung vorgeschlagen. Daraufhin beantragten die Eltern des
Klägers am 25. Januar 1999 die Kostenübernahme für die Durchführung einer
heilpädagogischen Behandlung im Rahmen der Hilfe nach § 35 a SGB VIII. Die von der
Klassenlehrerin des Klägers ausgefüllte Stellungnahme vom 09.02.1999 ergab, dass
der Kläger unkonzentriert und sehr langsam arbeitete und im Bereich Rechtschreiben
Förderbedarf bestand. Zum Sozialverhalten des Klägers wurde ausgeführt, er sei nicht
isoliert aber auch nicht voll integriert und leide unter den fehlerhaften
Unterrichtsleistungen.
Der Kläger wurde in der Folgezeit Frau Dr. Dipl.-Psych. L., Fachärztin für
Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, vorgestellt. Diese
kam in ihrer ärztlichen Stellungnahme vom 13. April 1999 zu dem Ergebnis, dass eine
Störung der auditiven Wahrnehmung und eine emotionale Störung des Kindesalters bei
belastender familiärer Situation vorlag. Nach dem Kaufmann-ABC- Intelligenztest
erzielte der Kläger ein Ergebnis im Bereich des unteren Durchschnitts (IQ von 86). Der
psycholinguistische Entwicklungstest zeigte Ergebnisse deutlich unterhalb des
Normbereiches. Deshalb empfahl die Ärztin eine heilpädagogische Behandlung, um die
Defizite des Klägers insbesondere im Bereich der auditiven Wahrnehmung zu
verbessern und hielt diese Maßnahme für einen Zeitraum von etwa 1 ½ Jahren für
erforderlich. Weiter führte sie aus, dass der Kläger lernen müsse sich realistisch
einzuschätzen und Korrekturen und Hilfestellungen besser anzunehmen.
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Nach einem Hilfeplangespräch am 04. Mai 1999 bewilligte der Beklagte mit Bescheid
vom 06. Mai 1999 Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII in Form der
heilpädagogischen Behandlung im Umfang von einer Therapiestunde wöchentlich. Aus
dem Protokoll des weiteren Hilfeplangesprächs am 14. Dezember 1999 ergibt sich, dass
der Kläger bis zu den Herbstferien eine positive Entwicklung genommen und eine
bejahende Einstellung gegenüber der Schule eingenommen hatte. Er war sehr
ausgeglichen, entspannt und konnte sich gut auf die Angebote einlassen. Seit
November gab es jedoch einen deutlichen Einbruch und der Kläger war äußerst
unkonzentriert und aggressiv. Auch stotterte er wieder stärker. Nach der (zeitweisen)
Trennung der Eltern des Klägers machte die Mutter des Klägers seit dem 15. November
1999 eine ganztägige Weiterbildung. Mit Bescheiden vom 21. Dezember 1999 und 05.
Juli 2000 wurde die Eingliederungshilfe in Form der heilpädagogischen Behandlung
weiter bewilligt. In dem Hilfeplangespräch vom 20. Juni 2000 zeigte sich, dass sich der
Leistungseinbruch weiter fortgesetzt hatte und der Kläger massive Schulunlust und
zunehmend schlechtere Schulleistungen zeigte. Auch litt er zeitweise unter
psychosomatischen Beschwerden (Bauchschmerzen). Außerdem nässte der Kläger ein
und stotterte. Aus dem weiteren Protokoll des Hilfeplangesprächs vom 17. Oktober 2000
ergibt sich, dass die familiäre Situation durch einige Ereignisse (Erkrankung der
Großeltern) sehr belastet war. Jedoch war es dem Kläger gelungen sich in der Therapie
mehr zu öffnen und sich auch verbal differenziert über Schwierigkeiten zu äußern. Sein
Selbstbewusstsein hatte sich gebessert und sein Einnässen war deutlich reduziert.
Nach wie vor stotterte er jedoch je nach Situation verschieden stark ausgeprägt.
Während sich seine Schulleistungen im Bereich der Mathematik verbessert hatten,
bestanden im Fach Deutsch massive Probleme. Die psychosomatischen Beschwerden
waren weniger geworden. Als Ergebnis des Hilfeplangesprächs wurde angeführt, dass
die heilpädagogische Förderung bis April 2001 fortgeführt werden sollte. Außerdem
wollte sich die Mutter der Klägerin mit der Grundschule wegen Fördermöglichkeiten
bezüglich der Rechtschreibung besprechen.
5
Mit Bescheid vom 08. November 2000 bewilligte der Beklagte die Weiterführung der
heilpädagogischen Behandlung für den Zeitraum vom 01. November 2000 bis zum 30.
April 2001 im Umfang von einer Therapiestunde wöchentlich. Hiergegen legten die
Eltern des Klägers Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 20. Dezember 2000
damit begründeten, dass bei dem Kläger bereits seit Längerem eine Lese-
Rechtschreibschwäche bestehe. Da keine qualifizierte Hilfe seitens der Schule möglich
sei, hätten sie nach Möglichkeiten einer entsprechenden Hilfe gesucht und Kontakt zur
Praxis für Lerntherapie T. in E. aufgenommen. Die dort durchgeführten Tests hätten
bestätigt, dass der Kläger unter einer Lese-Rechtschreibschwäche leide und eine
baldige Förderung nötig sei. Sie baten zusätzlich zu den bewilligten Therapiestunden in
der heilpädagogischen Praxis um Bewilligung einer Therapiestunde pro Woche in der
Praxis T. in E.. Beigefügt war ein Behandlungsplan/Förderdiagnostik der Praxis für
Lerntherapie T. vom 30. November 2000.
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Mit Schreiben vom 09. Januar 2001 wies der Beklagte die Eltern des Klägers darauf hin,
dass eine weitere Prüfung erforderlich sei und mit dem zuständigen Schulamt Kontakt
aufgenommen worden sei. Außerdem wurden die Eltern darauf hingewiesen, dass sie
über die bewilligte Therapie hinaus keine weitere Therapie beginnen dürften.
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Das Schulamt des Kreises Coesfeld überreichte sodann das Zeugnis des 2. Halbjahres
der 3. Klasse vom 28. Juni 2000, in dem der Kläger in Sprachgebrauch und
Rechtschreiben die Note „ausreichend" und im Lesen ein „befriedigend" erhalten hatte.
Aus den Hinweisen zum Arbeits- und Sozialverhalten und aus den
Lernbereichen/Fächern ergibt sich, dass der Kläger in diesem Schulhalbjahr öfter Mühe
hatte dem Unterrichtsgeschehen zu folgen, da seine Aufmerksamkeit rasch nachließ.
Seine Hausaufgaben erledigte er zunehmend regelmäßiger und vollständiger. Zwar
hatte er an der Weiterentwicklung seiner Rechtschreibkenntnisse gearbeitet, jedoch
unterliefen ihm beim Diktatschreiben noch viele Fehler und auch in Mathematik waren
seine Leistungen sehr schwankend. Dem Sachunterricht folgte der Kläger interessiert.
Im Zeugnis des 1. Halbjahres der 4. Klasse vom 26. Januar 2001 wurde das Lesen mit
„befriedigend", der Sprachgebrauch mit „ausreichend" und das Rechtschreiben mit
„mangelhaft" bewertet. In der beigefügten Empfehlung zur Wahl der Schulform in der
Sekundarstufe 1 wurde ausgeführt, dass der Kläger ein aufgeschlossener
kontaktfreudiger Schüler sei, der sich gut in die Klassengemeinschaft habe integrieren
können. Der Kläger wurde darin als lese- rechtschreibschwacher Schüler beschrieben,
dessen verstecke Nervosität bei vielen schriftlichen Arbeiten erkennbar sei. Immer öfter
habe sich der Kläger um eine gewissenhafte und sorgfältige Ausführung seiner Arbeiten
bemüht. Als geeignete Schulform wurde die Hauptschule/Gesamtschule vorgeschlagen.
In einem Bericht vom 29. Januar 2001 berichtete die frühere Klassenlehrerin des
Klägers, Frau Schnug-Kabisch, dass der Kläger seit dem 2. Schuljahr die Marienschule
in Appelhülsen besucht und seitdem an einem Lese- und Rechtschreibunterricht
teilgenommen habe. Die Leseförderung sei individuell oder in kleinen Lerngruppen
erfolgt. Der Kläger lese unbekannte Texte ziemlich fließend vor, wobei ein Stottern
sowie ein Wiederholen ein und desselben Wortes zu Lesebeginn auffalle. Trotzdem
habe der Kläger sich zu keinem Zeitpunkt gescheut der Lerngruppe Texte vorzulesen,
vorzutragen sowie Theaterrollen zu übernehmen. Im rechtschriftlichen Bereich seien die
Unsicherheiten des Klägers zunehmend deutlicher geworden und während die
Zeugnisnoten im Bereich Sprache im 3. Schuljahr noch im befriedigenden Bereich
gelegen hätten, habe die Rechtschreibleistung im 1. Halbjahr der 4. Klasse mit
„mangelhaft" bewertet werden müssen. Nach Erkennen der Rechtschreibschwäche
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seien sofort gezielte Fördermaßnahmen eingeleitet worden. So seien zunächst
allgemeine Fördermaßnahmen erfolgt. Seit dem 2. Schuljahr habe der Kläger
fortlaufend einen schulischen Förderunterricht von einer Wochenstunde besucht, der
von der Klassenlehrerin betreut worden sei. Im Rahmen dieses Förderunterrichts sei an
den jeweils bekannten Lese- und Rechtschreibschwächen gearbeitet worden. Zur Mitte
des 3. Schuljahres habe sich gezeigt, dass die schulischen Fördermaßnahmen nicht
ausreichten, um die Lese- und Rechtschreibschwäche des Klägers ausreichend zu
fördern. Deshalb riet die Klassenlehrerin zu einer außerschulischen Lerntherapie.
Weiter wurde in dem Bericht ausgeführt, dass der Kläger in die Klasse gut integriert sei
und von seinen Mitschülern akzeptiert werde. Es sei auch stets ein positiver Lernwille
erkennbar gewesen. So entsprächen die Leistungen des Klägers in anderen Fächern
auch durchschnittlichen Anforderungen. Überdurchschnittliche Erfolge würden durch
seine geringe Konzentrations- und Merkfähigkeit verhindert.
Mit Bescheid vom 12. Februar 2001 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den
Bescheid vom 08. November 2000 zurück und führte zur Begründung aus: Aus dem
Nachrang der Jugendhilfe folge, dass außerschulische Maßnahmen der Lerntherapie im
Wege der Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII nur gewährt werden dürften, wenn
die schulische Förderung nicht ausreiche. Es sei zunächst Aufgabe der Schule Schüler
mit besonderer Lese- und Rechtschreibschwäche angemessen und fördern. In
Nordrhein-Westfalen seien die schulischen Fördermaßnahmen durch Runderlass des
Kultusministers geregelt. Die im Erlass vorgesehenen Fördermaßnahmen von Schülern
bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens seien
grundsätzlich geeignet Schüler mit entsprechender Problematik angemessen zu fördern.
Dieser Bescheid wurde den Eltern des Klägers am 17. Februar 2001 zugestellt.
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Daraufhin hat der Kläger am 16. März 2001 Klage erhoben und begehrt weiterhin die
Übernahme der Kosten der Lerntherapie in der Praxis T.. Diese Therapie wurde im
November 2000 begonnen und dauert noch an. Zur Begründung führt der Kläger aus,
die Maßnahmen der Schulen, die der Kläger besucht habe bzw. besuche seien nicht
ausreichend. Auch fehlten im Kreis Coesfeld Einrichtungen, die die notwendigen Hilfen
leisten könnten. So erfolge seitens des Caritas-Verbandes des Kreises Coesfeld keine
Legasthenie-Förderung. Auch ergebe sich aus dem Bericht der Schule vom 29. Januar
2000, dass es an der Schule keine klassen- und jahrgangsübergreifende LRS-
Fördergruppe gegeben habe.
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Der Kläger beantragt
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 2001 zu verpflichten
die Kosten der Lerntherapie in der Praxis T. für die Zeit vom 01. April 2001 bis zum 31.
Dezember 2001 zu übernehmen.
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Der Beklagte beantragt
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die Klage abzuweisen.
14
Zur Begründung führt er aus, aus dem Hilfeplangespräch vom 17. Oktober 2000 ergebe
sich, dass die durchgeführte heilpädagogische Behandlung durchaus geeignet und
ausreichend gewesen sei. Diese sei auch von Frau Dr. Dipl.-Psych. L. in deren
Stellungnahme vom 13. April 1999 empfohlen worden. Aus dem letzten
Hilfeplangespräch ergebe sich, dass die psychosomatischen Beschwerden weniger
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geworden seien und die heilpädagogische Behandlung zu einem spürbaren Abbau der
seelischen Belastung des Klägers geführt habe. Soweit der Kläger seelische Störungen
gezeigt habe, könnten solche Störungen zwar grundsätzlich zu einer seelischen
Behinderung bzw. einem Drohen derselben führen. Die Erziehungsberatungsstellen im
Kreis Coesfeld seien jedoch mit ausgebildeten Diplom-Psychologen besetzt, die in der
Lage seien seelische Störungen sowohl in Gruppen- als auch in Einzeltherapie zu
behandeln. Eine Förderung des Klägers durch Übernahme der Kosten der Lerntherapie
sei dagegen nicht im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII möglich.
Das Gericht hat Beweis erhoben über die Schullaufbahn des Klägers (Verhalten und
Leistungen) sowie über die konkret erfolgten schulischen Fördermaßnahmen durch
Vernehmung der früheren Klassenlehrerin, Frau Martina Schnug-Kabisch, als Zeugin.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen
Verhandlung vom 21. Januar 2003 Bezug genommen.
16
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den
Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 87 a Abs. 2 und 3 VwGO einverstanden
erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Verwaltungsvorgänge (zwei
Hefte) ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist nicht begründet. Die Ablehnung der begehrten Eingliederungshilfe mit
Bescheid des Beklagten vom 12. Februar 2001 verletzt den Kläger nicht in seinen
Rechten. Der Kläger hat für den streitbefangenen Zeitraum vom 01. April 2001 bis 31.
Dezember 2001 keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII.
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Abzustellen ist dabei für den Zeitraum bis zum 01. Juli 2001 auf § 35 a SGB VIII in der
Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998, da die am 1. Juli 2001 in Kraft
getretenen Änderungen nicht für vor diesem Tag entstandene Ansprüche gelten (Art. 67
- Übergangsvorschriften - des SGB IX vom 22. Juni 2001 (BGBl I 1045 ff). Danach ist
Kindern und Jugendlichen, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung
bedroht sind, Eingliederungshilfe zu gewähren. Gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII richten
sich Aufgabe und Ziel der Hilfe und die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art
der Maßnahmen unter anderem nach §§ 39 Abs. 3, 40 BSHG und der Verordnung nach
§ 47 BSHG. Gemäß § 39 Abs. 3 Satz 1 BSHG ist es Aufgabe der Eingliederungshilfe
eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung und deren
Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft
einzugliedern. Dabei gehört gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG auch die Hilfe zu einer
angemessenen Schulbildung, vor allem im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, zu
den Maßnahmen der Eingliederungshilfe.
21
Gemäß § 3 der Verordnung zu § 47 BSHG sind seelisch wesentlich behindert
Personen, bei denen in Folge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in
die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist. Gemäß § 5 der Verordnung
sind Personen von einer solchen Behinderung bedroht, bei denen der Eintritt der
Behinderung nach allgemeiner ärztlicher und fachlicher Erkenntnis mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Im Hinblick darauf, dass in § 35 a SGB VIII keine
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wesentliche seelische Behinderung verlangt wird, sind die Anforderungen an die
Beeinträchtigung der Eingliederung geringer. Abzugrenzen ist die seelische
Behinderung im Übrigen von der geistigen Behinderung, von der gemäß § 2 der
Verordnung zu § 47 BSHG Personen bedroht sind, bei denen in Folge einer Schwäche
ihrer geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt
ist.
Unter Anwendung dieser Beurteilungsmaßstäbe kann im vorliegenden Fall nicht davon
ausgegangen werden, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum seelisch behindert bzw.
von einer solchen Behinderung bedroht war.
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Aus der ärztlichen Stellungnahme der Frau Dr. Dipl.-Psych. L. vom 13. April 1999 ergibt
sich, dass der Kläger mit einem IQ von 86 über eine Grundintelligenz im Bereich des
unteren Durchschnitts verfügte. Es bestand deshalb zu keiner Zeit Anlass den Kläger
etwa zu einer Schule für Lernbehinderte zu schicken. Deshalb bestehen auch keine
Anhaltspunkte dafür, dass bei dem Kläger eine Schwäche der geistigen Kräfte
vorgelegen hätte, die unter anderem das Erreichen einer angemessenen Schulbildung
in Frage gestellt hätte.
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Weiter ergibt sich aus den vorgelegten Zeugnissen des Klägers und dem schriftlichen
Bericht sowie der Zeugenaussage der früheren Klassenlehrerin, Frau Schnug-Kabisch,
dass Vieles dafür spricht, dass bei dem Kläger eine Teilleistungsschwäche im Sinne
einer isolierten Rechtschreibschwäche besteht. So wird der Kläger in der Empfehlung
zur Wahl der Schulform in der Sekundarstufe I vom 26.01.2001 als lese-
rechtschreibschwacher Schüler bezeichnet. In ihrem Bericht vom 29. Januar 2001 führte
zudem Frau Schnug-Kabisch aus, dass der Kläger seit dem 02. Schuljahr an einem
Lese- und Rechtschreibunterricht teilnahm und im rechtschriftlichen Bereich die
Unsicherheiten zunehmend deutlicher geworden seien und die Probleme des
Rechtschreibens erst in letzter Zeit als LRS-Schwäche erkannt worden seien. So ist
auch im Zeugnis des 1. Halbjahres der 4. Klasse der Bereich Lesen zwar mit
„befriedigend", der Bereich Rechtschreibung jedoch mit „mangelhaft" bewertet worden.
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Das Vorliegen einer solchen Rechtschreibschwäche stellt jedoch für sich gesehen noch
keine seelische Behinderung dar. Vielmehr müsste diese Teilleistungsstörung
Hauptursache für eine seelische Störung sein, die ihrerseits zu Beeinträchtigungen bei
der Eingliederung in die Gesellschaft (Störung des Sozialverhaltens mit dem Ergebnis
einer dissozialen Entwicklung, einer so genannten sekundären Neurotisierung) führt.
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Vgl. Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, 2. Auflage 2000 vor § 35 a, Rdnr. 34;
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487.
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Seelische Störungen, die eine derartige Behinderung zur Folge haben können, sind
unter anderem gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 4 Eingliederungshilfeverordnung Neurosen und
Persönlichkeitsstörungen. Darunter sind alle diejenigen Fälle seelischer Störungen
einzuordnen, die nicht zu den in § 3 Satz 2 Nr. 1 bis 3 Eingliederungshilfeverordnung
angeführten seelischen Erkrankungen zu zählen sind. Diese Störungen sind mit den
vom Verordnungsgeber verwandten Begriffen in einem umfassenden Sinne bezeichnet
und nicht mehr im Einzelnen untergliedert. Sie sind deshalb weit auszulegen. Unter
Neurosen und Persönlichkeitsstörungen in diesem Sinne ist jedes von der Norm
abweichende Verhalten und Erleben von längerer Dauer und gewisser Intensität zu
verstehen.
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Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 23. Januar 1996 - 8 A 2723/92 -. Als seelische Störung
kommt hier die von Frau Dr. med. Dipl.-Psych. L. diagnostizierte emotionale Störung des
Kindesalters in Betracht. So hatte der Kläger seit November 1999 massive
Schulprobleme und war äußerst unkonzentriert und aggressiv. Dies setzte sich im 2.
Schulhalbjahr der 3. Klasse fort. So ergibt sich aus dem Hilfeplan, dass der Kläger unter
psychosomatischen Störungen (Bauchschmerzen) und Schulunlust litt.
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Fraglich ist jedoch der Ursachenzusammenhang zwischen der Rechtschreibstörung des
Klägers und der diagnostizierten emotionalen Störung des Kindesalters. Wie sich
nämlich aus der ärztlichen Stellungnahme vom 13. April 1999 weiter ergibt, bestand
diese Störung bei „belastender familiärer Situation". Außerdem stellt die Ärztin einen
Zusammenhang zwischen der weiter diagnostizierten Störung der auditiven
Wahrnehmung und der emotionalen Störung des Kindesalters her und empfahl deshalb
eine heilpädagogische Behandlung, die der Kläger in der Folgezeit auch erhalten hat.
Die darüber hinaus gehende von den Eltern des Klägers veranlasste Lerntherapie in der
Praxis T. war dagegen von der Ärztin nicht empfohlen worden. Soweit sich aus den
Protokollen der Hilfeplangespräche vom 14. Dezember 1999 und 20. Juni 2000 ergibt,
dass der Kläger einen Leistungseinbruch und massive Schulunlust zeigte und zeitweise
unter psychosomatischen Beschwerden litt, spricht vieles dafür, dass die auch zuvor
bereits bestehende belastende familiäre Situation durch die (zeitweise) Trennung der
Eltern sich für den Kläger durch die ganztätige Weiterbildung der Mutter des Klägers
weiter verschlechtert und dies zu den seelischen Störungen des Klägers geführt hatte.
So sind diese Beschwerden auch zeitgleich mit dem Beginn der ganztägigen
Weiterbildung der Mutter aufgetreten. Jedoch konnten die Beschwerden in der Folgezeit
durch die heilpädagogische Behandlung wenn nicht ausgeräumt, so jedoch verbessert
werden. So ergibt sich aus dem Protokoll des Hilfeplangespräches vom 17. Oktober
2000, dass es dem Kläger inzwischen gelungen war sich mehr in der Therapie zu öffnen
und sich auch verbal differenziert über Schwierigkeiten zu äußern. Auch hatte sich sein
Selbstbewusstsein gebessert und sein Einnässen war deutlich reduziert. Die
psychosomatischen Beschwerden waren ebenfalls weniger geworden.
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Letztlich kann jedoch die Frage, ob die Rechtschreibschwäche des Klägers wirklich
Hauptursache oder lediglich Mitursache für die seelische Störung war, dahingestellt
bleiben, da der geltend gemachte Anspruch daran scheitert, dass die diagnostizierte
emotionale Störung des Kindesalters des Klägers nicht dazu geführt hat, dass seine
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt war (seelische Behinderung) oder
eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war (Drohen einer seelischen Behinderung).
31
Zwar ist die Rechtschreibschwäche eine Teillernschwäche, die bei einem Kind
seelische Störungen hervorrufen kann, durch die es zu einer seelischen Behinderung
kommen kann. Allein das Vorliegen seelischer Störungen genügt jedoch noch nicht für
die Annahme einer seelischen Behinderung. Hinzu kommen muss vielmehr die
Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv
sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen.
32
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. November 1998, 5 C 38.97 - FEVS 49.487.
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Danach hat das Bundesverwaltungsgericht es rechtlich nicht beanstandet, dass das
Berufungsgericht einerseits bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die
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andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint und andererseits beispielhaft
als behinderungsrelevante seelische Störung die auf Versagensängsten beruhende
Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, den Rückzug aus jedem sozialen
Kontakt und die Vereinzelung in der Schule anführt. Solche gravierenden Ängste oder
Verweigerungen durch den Kläger sind jedoch nicht feststellbar. So folgt aus den
Zeugnissen, der Empfehlung und dem Bericht der St. Marien-Schule Appelhülsen, dass
der Kläger ein aufgschlossener, kontaktfreudiger Schüler war, der sich gut in die
Klassengemeinschaft integrieren konnte. Von seinen Mitschülern wurde er danach
akzeptiert und unterstützt. Auch arbeitete er gern mit seinen Mitschülern zusammen und
hatte auch einen Freund in der Schule. Weiter ergibt sich daraus, dass der Kläger im
Unterricht aktiv mitarbeitete, stets einen positiven Lernwillen zeigte und keinerlei soziale
Auffälligkeiten erkennbar waren. Außerdem bemühte er sich immer öfter um eine
gewissenhafte Ausführung seiner Arbeiten. Die als Zeugin vernommene frühere
Klassenlehrerin, Frau Schnug-Kabisch, bekräftigte diese in den früheren Zeugnissen,
der Empfehlung und dem Bericht zum Ausdruck gekommene Einschätzung und führte
weiter aus, dass der Kläger immer arbeitswillig, nicht verweigernd und auch nicht
störend gewesen sei. Er sei weder gehäuft zu spät gekommen noch habe er viel gefehlt.
Sein Verhalten sei eher unauffällig gewesen. Soweit die Mutter des Klägers im Rahmen
der mündlichen Verhandlung einwandte, dass ihr Sohn morgens vor der Schule geweint
hat, hat sie auf Nachfrage eingeräumt, dass dies lediglich gelegentlich geschah, etwa
nach einem Wochenende oder nach den Schulferien, wenn ihr Sohn dann keine Lust
gehabt habe zur Schule zu gehen. Dies kann jedoch noch nicht als
behinderungsrelevante seelische Störung im Sinne der oben angeführten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts angesehen werden.
Bei der Feststellung der Behinderung bzw. einem Drohen derselben i. S. v. § 35 a SGB
VIII darf außerdem bei der Beurteilung, ob beim Kläger ein erfolgreicher Schulabschluss
gefährdet ist mit der Folge, dass er keinen angemessenen Arbeitsplatz finden würde, die
Behinderung nicht ausgeblendet werden. Dazu führt das Bundesverwaltungsgericht,
Urteil vom 28. September 1995 - 5 C 21.93 - FEVS 46, 360, aus: „Stellte man bei der
Gefährdung eines erfolgreichen Schulabschlusses auf einen solchen ab, der zu einem
seinen sonstigen Fähigkeiten entsprechenden - hier ohne Beeinträchtigung durch
Legasthenie - angemessenen Platz im Arbeitsleben befähigte, dann bedeutete das,
dass nahezu jede, ein höheres Ausbildungsziel gefährdende geistige (Leistungs-
)Schwäche eine wesentliche Behinderung i. S. d. § 2 EingliederungshilfeVO wäre. ...
Denn grundsätzlich lässt sich - der Art des Schulabschlusses nach - sowohl mit einem
Hauptschulabschluss als auch mit einem Realschulabschluss als auch mit Abitur ein
angemessener Platz im Arbeitsleben finden." Angesichts der in den Zeugnissen der
Klasse 3 und 4 dokumentierten Leistungen des Klägers, die zu Beginn der Therapie
zwischen „gut" und „ausreichend" und danach mit Ausnahme des Faches
Rechtschreiben ebenfalls zwischen „gut" und „ausreichend" bewertet wurden, sind
keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Kläger ohne die begehrte Hilfe den
Hauptschulabschluss nicht erreichen und danach keinen diesem Abschluss
entsprechenden Platz im Arbeitsleben finden wird.
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Soweit die Klage den Zeitraum ab dem 01. Juli 2001 betrifft, richtet sich der geltend
gemachte Anspruch nach § 35 a SGB VIII in der Fassung der durch das
Sozialgesetzbuch - 9. Buch - SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen) vom 19. Juni 2001, in Kraft getreten am 01. Juli 2001, geänderten Fassung
(BGBl. I 1106 ff.). Auch danach besteht kein Anspruch des Klägers auf
Eingliederungshilfe, da auch insoweit die Voraussetzungen nicht vorliegen. Gemäß §
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35 a SGB VIII in der geänderten Fassung haben Kinder und Jugendliche einen
Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen
Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt
ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Trotz der sprachlichen
Neufassung ist der inhaltliche Gehalt der Anspruchsnorm unverändert geblieben.
Deshalb gelten insoweit die obigen Ausführungen hinsichtlich des fehlenden Drohens
einer seelischen Behinderung. Diese Einschätzung wird bestätigt durch den Bericht des
Schulamtes des Kreises Coesfeld und dem diesem zu Grunde liegenden Bericht der
Geschwister-Scholl-Hauptschule vom 15. November 2002. Danach kommt der Kläger
mit seinen Klassenkameraden gut zurecht, ist offen spontan und zugänglich und kann
gut in Gruppen arbeiten. Er wird als motivierter und interessierter Schüler beschrieben.
In den überreichten Zeugnissen der Hauptschule erreichte der Kläger in allen Fächern
gute bis ausreichende Noten, wobei die Leistungen im Bereich Rechtschreiben nicht
bewertet wurden.
Da die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII nicht vorliegen, kann im vorliegenden Fall
dahinstehen, ob der Kläger sich auf Grund des gemäß § 10 Abs. 1 SGB VIII
bestehenden grundsätzlichen Vorrangs schulischer Maßnahmen vorrangig,
gegebenenfalls mittels eines gerichtlichen Eilverfahrens, um zusätzliche schulische
Fördermaßnahmen hätte bemühen müssen.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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