Urteil des VG Münster vom 08.10.2010

VG Münster (lwg, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, kag, zeitpunkt, anordnung, stand der technik, satzung, wiederherstellung, der rat, ergänzende anwendbarkeit)

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 454/10
Datum:
08.10.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 454/10
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt. Die Antragstellerin trägt die Kosten des
Verfahrens.
G r ü n d e
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Der Antrag der Antragstellerin,
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die aufschiebende Wirkung ihrer Klage - 1 K 1745/10 - gegen die
kommunalaufsichtliche Anordnung des Antragsgegners vom 22. Juli 2010 wieder
herzustellen, hat keinen Erfolg.
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I. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners vom
22. Juli 2010 genügt dem formellen Erfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach
in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen
Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen ist. Die Ausführungen des
Antragsgegners auf Seite 5 f. des Bescheides zur verjährungsbedingten Dringlichkeit
des auf Finanzmittelbeschaffung in einer äußerst angespannten Haushaltssituation
gerichteten kommunalaufsichtlichen Einschreitens machen hinreichend deutlich, dass
er in diesem Einzelfall die sofortige Vollziehung ausnahmsweise im öffentlichen
Interesse für geboten hält.
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II. Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Abwägung zwischen dem
Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
einerseits und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung andererseits
geht hier zu Lasten der Antragstellerin aus. Aufgrund der in diesem Verfahren seiner
Vorläufigkeit wegen allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung lässt sich
derzeit weder die offensichtliche Rechtswidrigkeit noch die offensichtliche
Rechtmäßigkeit der kommunalaufsichtlichen Anordnung vom 22. Juli 2010 feststellen,
so dass die Erfolgsaussichten der von der Antragstellerin erhobenen Klage als offen
einzustufen sind (hierzu unter 1.). Die deshalb erforderliche allgemeine, d.h. von der
Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin unabhängige Interessenabwägung fällt
zu ihren Ungunsten aus (hierzu unter 2 .).
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1. Rechtsgrundlage für die unter Nr. 1 des Bescheides des Antragsgegners getroffene
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Anordnung gegenüber der Antragstellerin, bis zum 31. August 2010 die Satzung zur
Erhebung des Aufwandes für die Wiederherstellung der F. (Deichbau-Beitragssatzung)
zu erlassen, die mit der Sitzungsvorlage 130/2010 zur Ratssitzung am 19. Mai 2010
eingebracht worden war, ist § 123 Abs. 1 Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-
Westfalen (GO NRW).
Danach kann die Aufsichtsbehörde anordnen, dass die Gemeinde innerhalb einer
bestimmten Frist das Erforderliche veranlasst, wenn sie die ihr kraft Gesetzes
obliegenden Pflichten oder Aufgaben nicht erfüllt. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt
für die Rechtmäßigkeit einer derartigen Anordnung ist der Zeitpunkt, in dem sie erlassen
wird.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. Juli 1991 - 15 A 2054/88 -, NWVBl. 1992, 58. Ob ein
entsprechender Pflichtverstoß der Antragstellerin vorliegt, kann nicht mit der
erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Vielmehr muss diese Klärung
dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Denn es stellen sich insbesondere im
Hinblick auf die Zuständigkeit für die Erhebung von Deichbaubeiträgen, die
Satzungsbefugnis sowie die Zulässigkeit der angeordneten Rückwirkung rechtlich und
tatsächlich nicht geklärte Fragen, deren Beantwortung den Rahmen des nur vorläufigen
Charakters dieses Verfahrens übersteigt.
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a) Dem Antragsgegner ist darin beizupflichten, dass für die in Rede stehende Pflicht der
Antragstellerin zum Erlass einer Deichbaubeitragssatzung die in § 77 GO NRW
normierten Grundsätze der Finanzmittelbeschaffung in Betracht zu ziehen sind.
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Nach § 77 Abs. 2 GO NRW hat die Gemeinde, deren Haushalt gemäß § 75 Abs. 2 Satz
1 GO NRW in jedem Jahr ausgeglichen sein muss, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben
erforderlichen Finanzmittel soweit vertretbar und geboten aus speziellen Entgelten für
die von ihr erbrachten Leistungen und im Übrigen aus Steuern zu beschaffen, soweit die
sonstigen Finanzmittel nicht ausreichen. Insbesondere darf sie nach Absatz 3 Kredite
nur aufnehmen, wenn eine andere Finanzierung nicht möglich ist oder wirtschaftlich
unzweckmäßig wäre. Hieraus folgt nach der Rechtsprechung des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, der sich die Kammer
anschließt, dass Gemeinden gehalten sind, sich die zur Erfüllung ihrer Aufgaben
erforderlichen Deckungsmittel vorrangig aus speziellen Entgelten für die von ihnen
erbrachten Leistungen zu beschaffen. Diese Verpflichtung zur Ausschöpfung von
Einnahmequellen, die durch § 77 Abs. 2 GO NRW lediglich auf den Rahmen des
Vertretbaren und Gebotenen eingeschränkt wird, gilt in besonderer Weise für
Gemeinden, die - wie die Antragstellerin - wegen ihres defizitären Haushalts seit Jahren
einer vorläufigen Haushaltsführung gemäß § 82 GO NRW unterliegen. Vgl. hierzu OVG
NRW, Beschluss vom 22. August 2007 - 15 B 1328/07 -; Beschluss vom 24. Mai 2007 -
15 B 778/07 - und Urteil vom 29. September 1995 - 15 A 1215/91 -. Als spezielle
Entgelte im Sinne von § 77 Abs. 2 GO NRW sind insbesondere öffentlich-rechtliche
Gebühren und Beiträge anzusehen. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 24. Mai 2007 - 15
B 778/07 -; Rehn/Cronauge, GO NRW, Anm. III 1 zu § 76 GO. § 77 Abs. 2 Nr. 1 GO
NRW beschränkt die Verpflichtung der Gemeinde, Finanzmittel aus speziellen Entgelten
für die von ihr erbrachten Leistungen zu beschaffen, nach oben auf das Vertretbare und
nach unten auf das Gebotene. Die Pflicht der Gemeinden, Entgelte zu erheben, entfällt
also nur, wenn dies unvertretbar oder nicht geboten ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt
sich in Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe, die einen Beurteilungsspielraum
nicht eröffnen. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. August 2007 - 15 B 1328/07. Der
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Antragsgegner entnimmt die Verpflichtung der Antragstellerin zur Bemessung und
Festsetzung von Deichbaubeiträgen §§ 108 Abs. 5, 107 Abs. 1 sowie 103 Abs. 1 des
Wassergesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LWG NRW) sowie §§ 1, 2 und 8
des Kommunalabgabengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (KAG NRW). Aus
diesen vom Antragsgegner herangezogenen wasserrechtlichen Vorschriften ergibt sich
jedoch keine ausdrückliche Befugnis für die Antragstellerin zur Erhebung von
Deichbaubeiträgen und auch keine ausdrückliche Ermächtigung zum Erlass einer
entsprechenden Beitragssatzung.
b) Grundlegende Voraussetzung für die Erhebung von entsprechenden Beiträgen ist
zunächst, dass die beitragserhebende Körperschaft zum Zeitpunkt der Ausbau- bzw.
Wiederherstellungsmaßnahme Trägerin der Baulast,
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vgl. für Straßenausbaubeiträge, OVG LSA, Urteil vom 5. September 2006 - 4 L 93/06
m.w.N., und damit unterhaltungspflichtig ist.
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Nach summarischer Prüfung spricht Einiges dafür, dass die Antragstellerin eine
entsprechende Unterhaltungspflicht für die Emsdeiche in ihrem Stadtgebiet hat.
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Gemäß § 108 Abs. 2 LWG sind Deiche von demjenigen zu unterhalten, der sie errichtet
hat. Deiche, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehen, sind von dem bisher
Unterhaltungspflichtigen auch weiterhin zu unterhalten. Ist ungewiss oder streitig, wer
zur Unterhaltung des Deiches verpflichtet ist, kann die zuständige Behörde gemäß §
108 Abs. 4 Satz 1 LWG die Gemeinden, deren Gebiet durch den Deich geschützt wird,
vorläufig zur Unterhaltung heranziehen. Bei verständiger Würdigung der gesetzlichen
Vorgaben der §§ 108 Abs. 2 und Abs. 4 LWG NRW umfasst die Unterhaltungspflicht
dabei alle zur funktionsgerechten Nutzung erforderlichen Wiederherstellungs- und
Sanierungsmaßnahmen. Dies verdeutlicht auch die Vorschrift des § 108 Abs. 2 Satz 3
LWG NRW, wonach die zuständige Behörde, sofern der Deich nicht mehr den
allgemeinen Regeln der Technik entspricht, den Unterhaltungspflichtigen verpflichten
kann, den Deich nach den allgemeinen Regeln der Technik zu sanieren, wenn es das
Wohl der Allgemeinheit erfordert.
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Die ursprünglichen Deiche sind in den 1950er Jahren (offenbar unstreitig, vgl. Band
III/BezReg, Bl. 22 ff.) von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (Wasser- und
Schifffahrtsamt Rheine) in ihrer Eigenschaft als Unterhaltspflichtige für Wasserläufe I.
Ordnung errichtet worden (vgl. §§ 120 Abs. 4, 319 des Preussischen Wassergesetzes
vom 7. April 1919 (Preuß GS S. 53 ff.). In der Folgezeit hat die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung versucht, diese Unterhaltungslast vertraglich auf die
Antragstellerin abzuwälzen. Nach dem vorliegenden Aktenmaterial erscheint die
Wirksamkeit der entsprechenden Vereinbarung - wie von der Antragstellerin dargelegt -
zumindest fraglich. Das kann indes voraussichtlich auf sich beruhen. Es spricht
jedenfalls Vieles dafür, dass die Bezirksregierung N. hier als gemäß Ziffer 21.61 des
Anhangs II der Zuständigkeitsverordnung Umweltschutz (- ZustVU -, GV.NRW. 2007, S.
662 ff. S. 668 ff.) zuständige Behörde mit Schreiben vom 18. April 2000 (Bl. 51 f. GA)
eine (zumindest vorübergehende) zuständigkeitsbegründende Weisung im Sinne des §
108 Abs. 4 Satz 1 LWG NRW ausgesprochen hat.
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Vgl. zur allgemeinen Regelung nach VwVfG, Kopp/Ramsauer, 10. Auflage 2008, § 3
Rdnr. 8. In diesem Schreiben weist die Bezirksregierung die Antragstellerin darauf hin,
dass durch die Emsdeiche in H. keine dem Stand der Technik entsprechende
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Hochwassersicherheit gegeben ist und bittet darum, die entsprechenden
Untersuchungen zu beauftragen. Ferner ist dort ausgeführt: "Für die Unterhaltung der
Emsdeiche im Bereich der Stadt H. sind Sie zuständig. Ihre Zuständigkeit ergibt sich
aus § 108 Abs. 2 Landeswassergesetz (LWG) in der derzeit gültigen Fassung." Da ein
Kompetenzkonflikt noch nicht bestand, war eine ausdrückliche Berufung auf die
Vorschrift des § 108 Abs. 4 Satz 1 LWG NRW insoweit entbehrlich. Denn bis zur
Klageerhebung im Verfahren 1 K 1745/10 hat die Antragstellerin ihre
Unterhaltungspflicht selbst nicht in Frage gestellt, sondern sich vielmehr als
Unterhaltspflichtige geriert, indem sie in der Vergangenheit in ständiger Praxis
Unterhaltungsmaßnahmen an den Emsdeichen in ihrem Stadtgebiet durchgeführt hat.
Sie selbst ist auch anlässlich der Deichsanierung in den Jahren 2004 bis 2007 immer
davon ausgegangen, dass die Unterhaltung und Wiederherstellung der in ihrem
Stadtgebiet belegenen Deiche und Dämme eine öffentlich-rechtliche Verbindlichkeit
ihrerseits gegenüber den staatlichen Wasserbehörden ist und hat entsprechende
Anträge auf Gewährung der Fördermittel gestellt.
c) Als zuständige Unterhaltungspflichtige wäre die Antragstellerin nach summarischer
Prüfung grundsätzlich verpflichtet, die ihr anlässlich der Deichsanierung in den Jahren
2004 bis 2007 entstandenen Aufwendungen auf die Vorteilshabenden umzulegen.
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Insoweit bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob § 108 Abs. 5 LWG NRW
oder §§ 107 Abs. 1, 103 Abs. 1 LWG NRW als Ermächtigungsgrundlage für die
Geltendmachung eines "Aufwendungsersatzes" heranzuziehen ist. Beide Vorschriften
regeln in gleicher Weise die Refinanzierung von Deichbaumaßnahmen durch die
Geltendmachung gegenüber den von der Maßnahme bevorteilten
Grundstückseigentümern. Sie unterscheiden sich in ihrem Anwendungsbereich nur
bezogen auf die Art und den Umfang der Maßnahme.
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Es spricht jedoch nach summarischer Prüfung Vieles dafür, dass einschlägige
Ermächtigungsgrundlage § 108 Abs. 5 LWG NRW ist.
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Gemäß § 108 Abs. 5 LWG sind die Aufwendungen für Unterhaltung und
Wiederherstellung von Deichen nach dem Maß ihres Vorteils von denjenigen zu tragen,
deren Grundstücke durch den Deich geschützt werden; die zuständige Behörde kann
zulassen, dass an Stelle des Beitrags in Geld Arbeiten geleistet oder Baustoffe geliefert
werden. Im Streitfall setzt die zuständige Behörde nach Anhören der Beteiligten den
Beitrag fest.
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Der Zustand der ursprünglichen Deiche und der Umfang der durchgeführten
Maßnahmen (u.a. Einbau von Spundwänden) sprechen für eine Maßnahme der
Wiederherstellung und damit für eine Anwendbarkeit von § 108 Abs. 5 LWG. Auch die
Beteiligten selbst gehen nunmehr übereinstimmend davon aus, dass es sich um eine
Maßnahme der Wiederherstellung handelt.
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Unabhängig davon, ob § 108 Abs. 5 LWG NRW - ähnlich wie §§ 103, 107 LWG NRW -
bei der Frage, ob Aufwendungsersatz geltend gemacht wird, Ermessen einräumt,
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- angesichts des insoweit vergleichbaren Regelungsgehaltes wäre eine
unterschiedliche Anwendung der Vorschriften nicht einzusehen und auch der Wortlaut
des § 108 Abs. 5 LWG NRW spricht nicht dagegen; vgl. auch Begründung zum Entwurf
des § 65 Abs. 5 LWG NRW, LT-Drs. 4/156, S. 95 -. wäre dieses Ermessen mit Blick auf
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den Regelungsgehalt des § 77 Abs. 2 GO NRW auf Null reduziert. Die Antragstellerin
wäre aufgrund ihrer defizitären Haushaltslage grundsätzlich verpflichtet,
entsprechenden "Aufwendungsersatz" geltend zu machen.
d) Ob der Aufwendungsersatz, wie vom Antragsgegner in der streitgegenständlichen
Verfügung angeordnet, durch die Erhebung von Beiträgen auf der Grundlage einer
entsprechenden Beitragssatzung i.V.m. den Vorschriften des KAG geltend zu machen
ist, unterliegt rechtlichen Zweifeln, erscheint aber nach dem bisherigen Stand der
rechtlichen Überlegungen auch nicht ausgeschlossen. § 108 Abs. 5 LWG NRW enthält
selbst keine Regelung wie der beitragserhebliche Vorteil zu bemessen und die
Verteilung der Deichbaukosten vorzunehmen ist.
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Es spricht nach allgemeinen Grundsätzen Einiges dafür, hinsichtlich der in der
Spezialvorschrift des § 108 Abs. 5 LWG NRW nicht enthaltenen Regelungen die
allgemeinen Vorschriften des KAG (ergänzend) heranzuziehen. Vgl. für das dortige
Landesrecht VG Schleswig, Urteil vom 22. Mai 2005 - 14 A 82/02 -. Nach § 63 Abs.1 Nr.
3 sind hier aber ausdrücklich die Gemeinden unterhaltspflichtig, wenn die Bildung eines
Wasser- und Bodenverbandes unzweckmäßig ist Ein solches systematisches
Verständnis steht zunächst in Einklang mit § 1 Abs. 1 KAG, wonach die Gemeinden
berechtigt sind, nach Maßgabe dieses Gesetzes Abgaben zu erheben, soweit nicht
Bundes- oder Landesrecht etwas anderes bestimmen.
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Weiter spricht hierfür die Verwendung des Begriffs "Beitrag" in § 108 Abs. 5 LWG NRW.
Beiträge werden in NRW regelmäßig auf Grundlage der §§ 1, 2 und 8 KAG und damit
aufgrund einer gesonderten Satzung erhoben.
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Dagegen spricht allerdings, dass §§ 65 (Umlage von Abwasserabgaben) und 92
(Umlage des Unterhaltungsaufwands) LWG NRW ausdrücklich auf §§ 6, 7 KAG NRW
Bezug nehmen. Ebenso könnte die Tatsache, dass § 108 Abs. 5 LWG - anders § 8 Satz
1 KAG - auch die Kosten für die (laufende) Unterhaltung mit erfasst, als Argument gegen
eine Anwendbarkeit des KAG herangezogen werden. Näher könnte es jedoch liegen, §
108 Abs. 5 LWG NRW mit seiner Bezugnahme auf die "Aufwendungen für
Unterhaltung" als Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 8 KAG zu betrachten,
der die ergänzende Anwendbarkeit des KAG nicht ausschließen sollte.
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e) Spricht damit nach vorläufiger Prüfung Einiges dafür, dass die Antragstellerin als
zuständige Unterhaltungspflichtige grundsätzlich verpflichtet ist, auf der Grundlage einer
Beitrags-Satzung über die Umlage von Deichbaukosten von den bevorteilten
Grundstückseigentümern Beiträge zu erheben, ist weiter zumindest zweifelhaft, ob eine
solche Beitragserhebung für die in den Jahren 2004 bis 2007 durchgeführten
Maßnahmen rechtlich noch möglich ist.
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Gemäß § 12 des Satzungsentwurfs soll die Satzung rückwirkend zum 1. Juli 2006 in
Kraft treten und nur die konkreten Kosten der Wiederherstellung der innerstädtischen
Emsdeiche in den Jahren 2004 bis 2007 betreffen.
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Insbesondere dann, wenn man die Anwendbarkeit des KAG (§§ 2 Abs. 1 und 8 Abs. 7
Satz 1) bejaht, stellt sich die Frage, ob die Festlegung dieses zeitlichen
Geltungsbereichs nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte
Rückwirkungsverbot verstößt.
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Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat für das
Straßenbaubeitragsrecht entschieden, dass Beiträge nicht verlangt werden können für
beitragsfähige Maßnahmen, die vor Inkrafttreten einer insbesondere in ihrer
Verteilungsregelung wirksamen Beitragssatzung endgültig (programmgemäß)
abgeschlossen worden sind, es sei denn, es ergebe sich aus der Satzung eine im
Einzelfall zulässige Anordnung des rückwirkenden Inkrafttretens. Nach § 8 Abs. 7 Satz 1
KAG entstehe die Beitragspflicht mit der endgültigen Herstellung der Einrichtung oder
Anlage. Damit gehe der Gesetzgeber davon aus, dass die für die Entstehung der
Beitragspflicht nach Grund und Höhe erforderlichen ortsrechtlichen Vorschriften (§ 2
Abs. 1 KAG) spätestens im Zeitpunkt der endgültigen Herstellung in Kraft getreten sind.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Juni 1975 - II A 231/74 - und Urteil vom 22. August 1995 -
15 A 3907/92 - . Da die Baumaßnahmen für die Wiederherstellung der Emsdeiche im
Stadtgebiet der Antragstellerin spätestens im Jahr 2007 (bautechnische Abnahme im
Dezember 2006, vgl. S. 5 Vorlage 130/2010) endgültig wieder hergestellt worden sind
und zu diesem Zeitpunkt eine Satzung noch nicht vorlag, kommt es maßgeblich auf die
Zulässigkeit der zum 1. Juli 2006 angeordneten Rückwirkung an.
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Eine Rechtsnorm entfaltet Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen
Anwendungsbereichs auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu
dem die Norm gültig geworden ist. Der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm
bestimmt, in welchem Zeitpunkt die Rechtsfolgen einer gesetzlichen Regelung eintreten
sollen. Grundsätzlich erlaubt die Verfassung nur ein belastendes Gesetz, dessen
Rechtsfolgen für einen frühestens mit der Verkündung beginnenden Zeitraum eintreten.
Die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der
Verkündung der Norm liegenden Zeitraum gelten (Rückbewirkung von Rechtsfolgen,
sog. echte Rückwirkung), ist in der Regel unzulässig. Der von einem Gesetz Betroffene
muss grundsätzlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung einer Neuregelung darauf
vertrauen können, dass er nicht nachträglich einer bisher nicht geltenden Belastung
unterworfen wird. In diesem Vertrauen wird der Bürger verletzt, wenn eine
Rechtsvorschrift an abgeschlossene Tatbestände rückwirkend ungünstigere Folgen
knüpft als diejenigen, von denen er bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Dieser
Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage
findet seinen verfassungsrechtlichen Grund vorrangig in den allgemeinen
rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere des Vertrauensschutzes und der
Rechtssicherheit,
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vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - und vom 3. Dezember 1997 - 2
BvR 882/97; BayVerfGH, Entscheidung vom 12. Januar 2005 - Vf. 3-VII-03; OVG NRW,
Urteil vom 30. Juni 1975 - II A 1105/73, juris. § 12 des Satzungsentwurfs legt den Beginn
des zeitlichen Anwendungsbereichs dieser auf einen abgeschlossenen
Lebenssachverhalt bezogenen Satzung auf den 1. Juli 2006 und damit auf einen
Zeitpunkt fest, der mehr als vier Jahre vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Satzung
möglicherweise gültig würde. Es handelt sich um den Fall einer echten Rückwirkung.
Das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot darf allein aus zwingenden Gründen des
gemeinen Wohls oder wegen eines nicht - oder nicht mehr - vorhandenen
schutzbedürftigen Vertrauens des Einzelnen durchbrochen werden. BVerfG, Beschluss
vom 3. Dezember 1997 - 2 BvR 882/97 -.
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Das Vertrauen ist nicht schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in
dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurück bezogen wird, mit
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dieser Regelung rechnen musste. Der Bürger kann auf das geltende Recht bei seinen
Dispositionen auch dann nicht vertrauen, wenn es unklar und verworren ist; in solchen
Fällen ist es dem Gesetzgeber erlaubt, die Rechtslage rückwirkend zu klären.
Schließlich kann sich der Bürger nicht immer auf den durch eine ungültige Norm
erzeugten Rechtsschein verlassen. Der Gesetzgeber kann daher unter Umständen eine
nichtige Bestimmung rückwirkend durch eine rechtlich nicht zu beanstandende Norm
ersetzen,
vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 7. Juni 2005 -
20 A 3419/03 -; OVG NRW, Urteil vom 22. August 1995 - 15 A 3907/92 -. Einerseits
spricht die Tatsache, dass es vorliegend um die Neueinführung einer
(Deichbau)Abgabe durch eine entsprechende Deichbau-Beitragssatzung geht, für das
Vorliegen eines entsprechenden Vertrauensschutzes. Im Zeitpunkt der Fertigstellung
der Deiche musste der Abgabenpflichtige nicht damit rechnen, dass er rückwirkend
veranlagt wird. Dieser Vertrauensschutz wird verstärkt durch die den Erlass einer
Deichbau-Beitragssitzung ablehnenden Ratsbeschlüsse vom 4. März 2009, 24. Juni
2009 und 7. Oktober 2009. Die seit dem Jahre 2006 in Gang gesetzte öffentliche
Debatte darüber, ob der Rat der Antragstellerin überhaupt auf eine Beitragserhebung
verzichten kann, erscheint allein nicht geeignet, diesen Vertrauensschutz zu
durchbrechen.
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Andererseits könnte der Vertrauensschutz dadurch eingeschränkt sein, dass in § 108
Abs. 5 LWG NRW eindeutig normiert ist, dass die bevorteilten Deichanlieger nach dem
Maß ihres Vorteils an den Kosten zu beteiligen sind. Der Gesetzgeber hat damit gerade
zum Ausdruck gebracht, die Vorteile durch Beiträge ausgleichen zu lassen, was den
Vorteilsnehmern bekannt sein musste.
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Dem Vertrauensschutz der Deichanlieger stehen möglicherweise auch zwingende
Gründe des gemeinen Wohls entgegen, die hier eine Durchbrechung des
rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbotes rechtfertigen könnten.
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Vgl. zum Vorliegen von zwingenden Gründen des Gemeinwohls, BVerfG, Beschluss
vom 3. Dezember 1997 - 2 BvR 882/97 - und BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2003 - 9
CN 2/02 -. Denn im Ergebnis geht es hier um die Beseitigung von Missständen, die sich
aufgrund der nicht eindeutigen Gesetzeslage im LWG NRW hinsichtlich der Fragen, wie
und in welcher Form die Aufwendungen geltend zu machen sind, entwickelt haben.
Zudem haben bereits vor der endgültigen Fertigstellung der Emsdeiche im Gebiet der
Antragstellerin die Bezirksregierung (als gemäß Ziffer 21.61 des Anhangs II der ZustVU
zuständige Behörde) und der Antragsgegner die Antragstellerin darauf hingewiesen,
dass es nach dortiger Einschätzung mit Blick auf den Haushalt der Antragstellerin nicht
haltbar sei, auf die Einnahmen zu verzichten. Die folgenden Abstimmungsgespräche
zogen sich nicht nur aufgrund unterschiedlicher Rechtsauffassungen der Beteiligten,
sondern insbesondere aufgrund der nicht eindeutigen Gesetzeslage erheblich in die
Länge und mündeten letztendlich 4 Jahre später in die streitbefangene
kommunalaufsichtliche Anordnung. Vor diesem Hintergrund muss dem Satzungsgeber
bzw. hier der Kommunalaufsicht zur Verwirklichung des gemeinen Wohls grundsätzlich
ein Gestaltungsspielraum eingeräumt werden, um aufgetretenen Missständen einer
Gesetzeslage alsbald abzuhelfen.
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Es erscheint nach summarischer Prüfung auch nicht ausgeschlossen, dass dieses -
angesichts der zu erwartenden finanziellen Entlastung des Gemeindehaushaltes in
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Höhe von ca. 600.000,00 EUR - im Ergebnis rein fiskalische Interesse den
Vertrauensschutz, den das Rechtsstaatsprinzip fordert, überwiegt. f) Schließlich muss
auch die abschließende Klärung der Frage, ob die vom Antragsgegner getroffene
Anordnung, die mit der Sitzungsvorlage 130/2010 zur Ratssitzung am 19. Mai 2010
eingebrachte Satzung zur Erhebung von Deichbau-Beiträgen zu erlassen, mit Blick auf
die Einzelregelungen der Satzung rechtmäßig ist, dem Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben.
Die rechtssetzende Tätigkeit der Gemeinde ist jedenfalls von der Rechtsaufsicht nicht
ausgenommen. Dementsprechend erfasst das Anordnungsrecht des Antragsgegners
nach § 123 Abs. 1 GO NRW auch die Möglichkeit, den Erlass einer Satzung
anzuordnen und diese Anordnung erforderlichenfalls gemäß § 123 Abs. 2 GO NRW
anstelle der Gemeinde im Wege der Ersatzvornahme umzusetzen.
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BVerwG, Beschluss vom 3. Juli 1992 - 7 B 149.91 -, NWVBl 1993, S. 49. Aus dem Sinn
und Zweck der kommunalaufsichtlichen Regelungen folgt, dass das "Erforderliche" im
Sinne des § 123 Abs. 1 GO NRW nur eine inhaltlich mit dem geltenden Recht
übereinstimmende Regelung sein kann.
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Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 22. April 1959 - III A 139/59 -; VG Düsseldorf,
Beschluss vom 17.8.2007 - 1 L 1316/07 -; Rehn/Cronauge, GO NRW, Anm. II 3 zu § 123
GO. Jedenfalls sind unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten im Rahmen
der hier nur durchzuführenden summarischen Prüfung keine Anhaltspunkte dafür
erkennbar, dass einzelne Satzungsbestimmungen offensichtlich fehlerhaft und nicht
noch heilbar, nicht vertretbar oder nicht geboten im Sinne von § 77 Abs. 2 Nr. 1 GO
NRW sind. g) Vor diesem Hintergrund muss auch die weitere Prüfung der unter Nr. 2
des Bescheides des Antragsgegners vom 22. Juli 2010 angedrohten Ersatzvornahme
für den Fall, dass die Antragstellerin der Anordnung nach Nr. 1 des Bescheides nicht
fristgerecht nachkommt, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
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2. Lässt sich nach alledem weder die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die
offensichtliche Rechtswidrigkeit der auf der Grundlage von § 123 Abs. 1 und 2 GO NRW
getroffenen Maßnahmen feststellen, fällt die dann anzustellende allgemeine
Interessenabwägung zugunsten des Vollziehungsinteresses aus.
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Gäbe die Kammer dem Aussetzungsantrag der Antragstellerin statt, stellte sich indes im
Hauptsacheverfahren die Rechtmäßigkeit der kommunalaufsichtlichen Verfügung
heraus, wäre mit Blick auf eine möglicherweise mit Ablauf des 31. Dezember 2010
eintretende Festsetzungsverjährung der Beitragsforderung gemäß §§ 169 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2, 170 Abs. 1 AO i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 4b KAG ein Einnahmeausfall für den
Gemeindehaushalt in Höhe von ca. 600.000,00 EUR wahrscheinlich nicht mehr
abzuwenden. Diese Folge hat deshalb große Bedeutung, weil die Stadt H. seit 2003
entgegen der gesetzlichen Verpflichtung aus § 75 Abs. 2 GO NRW nicht mehr über
einen ausgeglichenen Haushalt verfügt, sie ganzjährig dem Nothaushaltsrecht gemäß §
82 GO NRW unterliegt und deshalb der Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten
zur Einnahmebeschaffung ein hohes Gewicht zukommt.
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Demgegenüber wiegt das Interesse am Aufschub des Satzungserlasses und des
Erlasses darauf fußender Bescheide weniger schwer. Sollte sich im
Hauptsacheverfahren die Rechtwidrigkeit der Anordnung des Antragsgegners
herausstellen, hätte die Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu
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Unrecht eine Deichbau-Beitragssatzung und auf deren Grundlage eine Vielzahl
rechtwidriger Heranziehungsbescheide erlassen. Der hieraus resultierende Schaden für
die Antragstellerin bleibt auf die mit der Veröffentlichung der Satzung und dem
Bescheiderlass verbundenen (überschaubaren) Verwaltungskosten beschränkt. Hinzu
kommen Kosten wegen Rechtsschutzverfahren gegen zu Beiträgen Herangezogene.
Das damit für die Antragstellerin gegebene Prozessrisiko und die hieraus
möglicherweise resultierenden finanziellen Belastungen kann die Antragstellerin indes
durch Absprachen mit den Betroffenen zur Führung von Musterverfahren und darauf
basierenden Zusicherungen in den Bescheiden zur Vorgehensweise in Abhängigkeit
vom Ausgang bestimmter Musterverfahren in Grenzen halten. Daraus ergibt sich auch
die Begrenzung der Folgen für die möglicherweise zu Unrecht als Beitragspflichtige
Herangezogenen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG, wobei im Hinblick auf die in diesem
Verfahren nur mögliche vorläufige Rechtsprüfung die Hälfte des in einem
entsprechenden Hauptsacheverfahren anzunehmenden Streitwerts festgesetzt wurde.
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