Urteil des VG Münster vom 27.08.2010

VG Münster (prognostische beurteilung, konzept, interesse, grundschule, genehmigung, schüler, behinderung, schulwesen, bildung, prüfung)

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 405/10
Datum:
27.08.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 405/10
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 30000 Euro festgesetzt.
G r ü n d e
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Das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit den
Anträgen,
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die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr - der
Antragstellerin - eine Genehmigung zum Betrieb der G. T. U. M. Schule, Primarstufe, als
private Ersatzschule bis zur Entscheidung des Rechtstreits in der Hauptsache - 1 K
1532/10 - zu erteilen,
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hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
ihr eine vorläufige Genehmigung zum Betrieb der G. T1. U. M. , Primarstufe, als private
Ersatzschule bis zur Entscheidung des Rechtstreits in der Hauptsache zu erteilen,
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hat keinen Erfolg.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese
Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile
abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig
erscheint. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123
Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO).
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Nach der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nur möglichen
summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat die Antragstellerin einen
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Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Kammer kann nach derzeitigem
Erkenntnisstand nicht feststellen, dass ein von der Unterrichtsverwaltung
anzuerkennendes besonderes pädagogisches Interesse an der Zulassung der G. T1. U.
M. der Primarstufe (Grundschule) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht.
Grundlage für die von der Antragstellerin erstrebte Genehmigung einer Ersatzschule in
Form einer privaten Volksschule sind § 101 Abs. 1 und 4 Schulgesetz NRW (SchulG),
Art. 7 Abs. 4 und 5 GG, Art. 8 Abs. 4 Satz 1 Verfassung für das M. Nordrhein-Westfalen
(LV NRW). Gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 SchulG bedürfen Ersatzschulen der
Genehmigung der oberen Schulaufsichtsbehörde, also der Bezirksregierung (§ 88 Abs.
2 Satz 1 SchulG). Die Genehmigung wird nach § 101 Abs. 1 Satz 2 SchulG erteilt bzw.
ist nach Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG zu erteilen, wenn die T1. in ihren Lehrzielen und
Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter
den öffentlichen T. zurücksteht und wenn eine Sonderung der Schülerinnen und Schüler
nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Eine private Volksschule
(unter anderem Grundschule, vgl. Art. 12 Abs. 1 LV NRW) ist überdies nach der hier
allein in Betracht kommenden ersten Alternative des § 101 Abs. 4 SchulG bzw. des Art.
7 Abs. 5 GG nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes
pädagogisches Interesse anerkennt. Diese Zulassungsvoraussetzung für die Erteilung
der (endgültigen) Genehmigung nach § 101 Abs. 1 SchulG gilt im selben Umfang auch
für eine vorläufige Erlaubnis nach § 101 Abs. 2 SchulG.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. August 2005 - 19 B 2132/03 -, juris, Rn. 6 (zur
vorläufigen Erlaubnis nach dem früheren § 37 Abs. 4 Schulordnungsgesetz).
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Für die Entscheidung der Unterrichtsverwaltung über die Anerkennung eines
besonderen pädagogischen Interesses und die gerichtliche Überprüfung dieser
Entscheidung gelten im Wesentlichen die folgenden verfassungsrechtlich
vorgegebenen Maßstäbe.
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Vgl. im einzelnen BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1992 - 1 BvR 167/87 -, juris,
Rn. 28 ff. = NVwZ 1993, 666 (668 ff.).
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Das "besondere pädagogische Interesse" ist eine objektive Voraussetzung für die
Genehmigung privater Volksschulen. Im Zulassungsverfahren hat zunächst der
Antragsteller die "Darlegungslast" für das von ihm zur Prüfung gestellte pädagogische
Interesse. Er muss das von ihm entwickelte Konzept auf das konkrete Vorhaben
bezogen so substantiiert darlegen, dass der Unterrichtsverwaltung ein Vergleich mit
bestehenden pädagogischen Konzepten und eine prognostische Beurteilung seiner
Erfolgschancen und der möglicherweise mit ihm verbundenen Risiken und Gefahren für
die Entwicklung der Schüler ohne weiteres möglich ist. Mit dem Begriff "besonderes
pädagogisches Interesse" ist das öffentliche Interesse an der Erprobung und
Fortentwicklung pädagogischer Konzepte sowie das Interesse an der angemessenen
pädagogischen Betreuung spezieller Schülergruppen gemeint, welchen das öffentliche
Schulwesen keine hinreichenden Angebote macht oder machen kann. Ein "besonderes
pädagogisches Interesse" als Rechtfertigung für eine Ausnahme von dem Grundsatz der
"T1. für alle" setzt nur eine sinnvolle Alternative zum bestehenden öffentlichen und
privaten Schulangebot voraus, welche die pädagogische Erfahrung bereichert und der
Entwicklung des Schulsystems insgesamt zugute kommt. Die "Besonderheit" eines
pädagogischen Interesses setzt aber nicht voraus, dass das fragliche Konzept in jeder
Hinsicht neu oder gar einzigartig ist. Es muss grundsätzlich ausreichen, dass ein
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pädagogisches Konzept wesentliche neue Akzente setzt oder schon erprobte Konzepte
mit neuen Ansätzen von einigem Gewicht kombiniert. Für die Frage, ob darin ein
hinreichendes Maß an Erneuerung zu finden ist, kommt es auf eine Gesamtbetrachtung
an. Schließlich entfällt die "Besonderheit" eines privaten pädagogischen Konzepts nicht
bereits dann, wenn Landesgesetze und staatliche Planungen bestimmte
Veränderungen im öffentlichen Schulwesen zwar vorsehen, diese aber noch nicht
verwirklicht sind. Maßstab ist insoweit vielmehr der tatsächliche Zustand des
öffentlichen Schulwesens, dem allenfalls noch unmittelbar bevorstehende Reformen
zugerechnet werden können. Die Unterrichtsverwaltung hat ein vorhandenes
pädagogisches Interesse ins Verhältnis zum grundsätzlichen verfassungsmäßigen
Vorrang der öffentlichen Grundschule zu setzen; eine Anerkennung kommt nur in
Betracht, wenn das pädagogische Interesse an der privaten Grundschule überwiegt.
Das jeweilige pädagogische Konzept muss daher im Einzelfall mit den Konzepten der
staatlichen Schulverwaltung verglichen und seine Besonderheiten und Risiken müssen
individuell nach pädagogisch-fachlichen Gesichtspunkten bewertet werden.
Die Verweigerung der Genehmigung mangels besonderen pädagogischen Interesses
unterliegt nach Art. 19 Abs. 4 GG der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung. Die
Auslegung des Begriffs "besonderes pädagogisches Interesses" durch die
Unterrichtsverwaltung ist gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar. Eine Eingrenzung
der gerichtlichen Überprüfung kann sich nur auf die Bewertung eines pädagogischen
Konzepts im konkreten Fall und die Abwägung mit dem Vorrang der öffentlichen
Volksschule beziehen. Insoweit wäre es mit Art. 7 Abs. 5 GG nicht vereinbar, wenn die
Gerichte ihre Auffassung an die Stelle der behördlichen setzten. Die Schulbehörde hat,
soweit ihre Entscheidung teilweise auf prognostischen Erkenntnissen beruht,
vorausschauend festzustellen, ob sich ein - fachlicher Prüfung im übrigen
standhaltendes - pädagogisches Konzept unter Berücksichtigung der personellen und
sächlichen Voraussetzungen des Schulvorhabens verwirklichen lässt, ob seine
Erprobung zu einer Bereicherung des Schulwesens führt und ob es unter den
vorhandenen Rahmenbedingungen das Interesse der Schüler an einer vernünftigen
Erziehung gefährdet. Eine gerichtliche Überprüfung solcher (von fachlichen Wertungen
schwer trennbaren) Einschätzungen ist ihrem Wesen nach auf die Frage beschränkt, ob
der Sachverhalt zutreffend ermittelt und der Prognose eine geeignete Methode zugrunde
gelegt worden ist. Die Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses
schließt Elemente wertender Erkenntnis ein, deren Ergebnisse nicht vollständig auf eine
Anwendung der einschlägigen Verfassungsnorm zurückzuführen sind. Diese
Entscheidung verlangt eine Gewichtung unterschiedlicher Belange, für die Art. 7 Abs. 5
GG keine vollständige rechtliche Bindung vorgibt. Den dadurch begründeten
Handlungsspielraum muss die Verwaltung kraft ihrer eigenen verfassungsrechtlichen
Legitimation ausfüllen.
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In Anwendung dieser Maßstäbe kann im Eilverfahren auf Grund einer summarischen
Prüfung nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass das
besonderes pädagogische Interesse an der Zulassung der G. T1. U. M. , Primarstufe
(Grundschule), vorliegt. Die Antragstellerin hat das von ihr entwickelte Konzept auf das
konkrete Vorhaben bezogen nicht hinreichend substantiiert dargelegt, so dass ein
Vergleich mit bestehenden pädagogischen Konzepten und eine prognostische
Beurteilung seiner Erfolgschancen und der möglicherweise mit ihm verbundenen
Risiken und Gefahren für die Entwicklung der Schüler nicht ohne weiteres möglich ist.
Der Mangel hinreichender Substantiierung bezieht sich jedenfalls auf das Konzept der
Heterogenität und die Besonderheiten der grundlegenden Bildung in der Grundschule.
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Das Konzept der Heterogenität (Unterschiedlichkeit der Schüler in einer Lerngruppe) im
Sinne eines weit verstandenen Inklusionsmodells ist in bezug auf den Gemeinsamen
Unterricht (Integration) von Schülern mit und ohne Behinderung zu unbestimmt. Das
Inklusionsmodell der Antragstellerin umfasst jahrgangsübergreifende Gruppen,
Lernende mit Hochbegabung, Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund,
geschlechtergerechte Pädagogik sowie gemeinsames Lernen von Schülern mit und
ohne Behinderung. Zu dem gemeinsamen Lernen von Schülern mit und ohne
Behinderung zählt die Antragstellerin auch die Möglichkeit zieldifferenten Unterrichts
von Kindern mit den (sonderpädagogischen Förder-) Schwerpunkten Lernen und
Geistige Entwicklung. Das pädagogische Konzept der Antragstellerin vom 13.
Dezember 2009 (Seite 12 f.) und die Konkretisierung vom 22. Juni 2010 lassen aber
nicht hinreichend erkennen, wie die behinderten Schüler mit sonderpädagogischem
Förderbedarf gefördert werden sollen. Das für das Schulwesen zuständige Ministerium
hat in seinem Erlass vom 9. Juli 2010 insoweit mit Grund das pädagogische Konzept als
vage bezeichnet und als sehr zweifelhaft angesehen, ob das Konzept überhaupt
verwirklicht werden kann. Das pädagogische Konzept der Antragstellerin (Seite 12) wirft
zu den personellen und sächlichen Voraussetzungen eines gemeinsamen Lernens von
Schülern mit und ohne Behinderung mehr Fragen auf als es Antworten gibt. Die
Antragsgegnerin hat sich im angefochtenen Bescheid vom 13. Juli 2010 die Auffassung
des Ministeriums zu Eigen gemacht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich,
dass das pädagogische Konzept der Antragstellerin eigenständig und unabhängig von
der Förderung auch behinderter Schüler geltend soll.
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Außerdem spricht Überwiegendes dafür, dass das pädagogische Konzept der
Antragstellerin hinsichtlich der Besonderheiten der grundlegenden Bildung in der
Grundschule nicht hinreichend substantiiert ist. So merkt Prof. Dr. Q. in der von der
Antragstellerin vorgelegten gutachterlichen Stellungnahme vom 5. August 2010 an,
dass aus seiner Sicht in der Primarstufenkonzeption die Besonderheiten der
grundlegenden Bildung in der Grundschule zu wenig Beachtung fänden. Die
Konsequenzen für die in der Grundschule verankerten Bildungsinhalte, die sich aus
dem inklusiven Schulverständnis sowie dem Lernverständnis ergäben, würden nicht
expliziert, sondern seien nur implizit enthalten. Dies ist nicht lediglich ein im
Unterrichtsgeschehen zu beachtender Aspekt. Vielmehr muss dieser Gesichtspunkt
schon konzeptionell durchgearbeitet werden.
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Ist das Konzept der Antragstellerin hiernach in bezug auf den Gemeinsamen Unterricht
(Integration) von Schülern mit und ohne Behinderung und hinsichtlich der
grundlegenden Bildung in der Grundschule zu unbestimmt, fehlt eine hinreichend
substantiierte Tatsachengrundlage für eine prognostische Beurteilung seiner
Erfolgschancen und der möglicherweise mit ihm verbundenen Risiken und Gefahren für
die Entwicklung der Schüler.
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Ob diese Mängel bei einer zeitgerechten Förderung des Verwaltungsverfahrens durch
die Antragsgegnerin behoben worden wären, ist für den Ausgang des gerichtlichen
Verfahrens ohne Belang. Die Antragsgegnerin wird allerdings im Fall einer
Überarbeitung des pädagogischen Konzepts der Antragstellerin davon auszugehen
haben, dass bei Berücksichtigung der gutachterlichen Stellungnahme des Prof. Dr. Q.
vom 5. August 2010 durchaus Anhaltspunkte für neue Ansätze von einigem Gewicht im
pädagogischen Konzept der Antragstellerin gegeben sein könnten. Die Antragsgegnerin
wird sich dann bei der Beurteilung, ob ein anzuerkennendes besonderes
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pädagogisches Interesse besteht, über die bisher abgegebenen schulfachlichen
Stellungnahmen hinaus konkret bewertend mit dem Konzept der Antragstellerin und der
gutachterlichen Stellungnahme auseinandersetzen zu haben. Erlasse, Richtlinien usw.
sind bei dem Vergleich mit dem öffentlichen Schulwesen nur insoweit zu
berücksichtigen, als sie dessen Praxis prägen. Im Falle eines positiven Ergebnisses
wird die Antragsgegnerin im Einzelnen die weiteren Voraussetzungen des
Schulgesetzes und der Verordnung über Ersatzschulen für die Erteilung der
Genehmigung zu prüfen haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG. Die Kammer
orientiert an II. Nr. 1.5 Satz 2 und Nr. 38.2 des Streitwertkatalogs für die
Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 7/2004 - (NVwZ 2004, 1327, 1331) und setzt
wegen der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache den im Hauptsacheverfahren
anzunehmenden Streitwert von 30000 Euro fest.
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