Urteil des VG Münster vom 05.07.2000

VG Münster: wohl des kindes, jugendhilfe, jugendamt, stadt, unterbringung, hessen, haus, form, erlass, volljährigkeit

Verwaltungsgericht Münster, 9 K 1163/97
Datum:
05.07.2000
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 1163/97
Nachinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 4008/00
Rechtskraft:
Das Urteil wurde durch Urteil des OVG NRW vom 12.04.2002 geändert.
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für Biniam Belay gemäß §§
27, 34 und 41 SGB VIII entstandenen Kosten für die Zeit vom 1. April
1993 bis zum 31. August 2000 zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d
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Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Beklagte gemäß § 89 d SGB VIII
verpflichtet ist, die Kosten für die Hilfemaßnahme betreffend den am 15. September
1980 in Eritrea geborenem Biniam Belay in der Zeit vom 1. April 1993 bis zum
31. August 2000 zu erstatten.
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Der Hilfeempfänger reiste am 3. August 1990 über den Flughafen Frankfurt am Main in
die Bundesrepublik Deutschland ein. Er wurde von Bediensteten des Grenzschutzamtes
Frankfurt am Main an Mitarbeiter des Jugendamtes Kronberg/Taunus übergeben und
anschließend im Aufnahmeheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge der
Arbeiterwohlfahrt "Haus Waldfriede" in Kronberg untergebracht.
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Mit Schreiben vom 10. August 1990 an das Amtsgericht Königsstein regte das
Jugendamt der Stadt Frankfurt sodann an, das Jugendamt zum Vormund zu bestellen,
was in der Folgezeit geschah.
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Am 17. August 1990 erfolgte eine ausführliche Datenerfassung durch das Jugendamt
der Stadt Frankfurt. Am 3. September 1990 wurde der Hilfeempfänger in das Kinder- und
Jugenddorf St. Elisabeth in Fulda verlegt.
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Nachdem der Hilfeempfänger am 18. September 1990 einen Asylantrag gestellt hatte,
wurde er durch Bescheid der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Hessen vom
19. März 1991 der Stadt Fulda zugewiesen. Daraufhin stellte die hessische
Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Schwalbach die bis dahin erfolgte
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Kostenerstattung der monatlichen Heim- und Pflegekosten ab dem 19. April 1991 ein.
Ab diesem Zeitpunkt übernahm die Klägerin die Kosten und gab gegenüber der
Einrichtung des Kinder- und Jugenddorfes St. Elisabeth in Fulda eine entsprechende
Kostenzusage ab.
Durch Beschluss des Amtsgerichts Königsstein vom 3. Juni 1991 wurde das Jugendamt
der Stadt Frankfurt am Main als Vormund entlassen und der Sozialdienst katholischer
Frauen e.V. in Fulda zum neuen Vormund bestellt.
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Der Hilfeempfänger verblieb weiterhin im Kinder- und Jugenddorf St. Elisabeth, welches
regelmäßig über die Entwicklung desselben berichtete. Ab Dezember 1993 wurde
außerdem ein Hilfeplan erstellt und in der Folgezeit fortgeschrieben. Aus dem Hilfeplan
vom 27. Januar 1998 geht hervor, dass sich der Hilfeempfänger mit den Konsequenzen
seiner bevorstehenden Volljährigkeit auseinander setzte und sich nicht vorstellen
konnte, das Kinder- und Jugenddorf schon verlassen zu müssen. Als mögliche
Alternative wurde die Unterbringung in einer Wohngruppe im Kinderdorf ins Auge
gefasst. In der Fortschreibung des Hilfeplans am 23. April 1998 heißt es, dass sich der
Hilfeempfänger überfordert fühlte, mit allem alleine zurecht zu kommen, wobei diese
Einschätzung vom Vormund und den Fachkräften des Kinder- und Jugenddorfes geteilt
wurde. Am 20. Juli 1998 stellte der Hilfeempfänger deshalb einen Antrag auf
Weiterführung der Hilfe, den er damit begründete, dass er noch Hilfe und Unterstützung
für seine weitere Verselbstständigung benötige. Insbesondere benötige er noch
Anleitung im Umgang mit Geld, Behörden, wie auch die Unterstützung in persönlichen
Schwierigkeiten. Das Hilfeplanteam kam sodann zu dem Ergebnis, dass der
Hilfeempfänger neben praktischer Hilfestellung insbesondere noch emotionalen
Rückhalt brauche. Mit Bescheid vom 10. September 1998 bewilligte die Klägerin
deshalb weitere Hilfemaßnahmen gemäß § 41 SGB VIII über den Eintritt der
Volljährigkeit hinaus, wobei die Hilfe bis August 2000 befristet wurde. Nach Kündigung
seines Ausbildungsvertrages im Oktober 1998 hatte der Hilfeempfänger in der Folgezeit
psychosomatische Beschwerden und Probleme mit seinem Selbstwertgefühl, sodass
eine Psychotherapie erwogen wurde. Aus der Fortschreibung des Hilfeplanes vom 28.
Oktober 1998 ergibt sich, dass der Hilfeempfänger bis Sommer 1999 in der Wohngruppe
bleiben sollte mit dem Ziel, sich mit Unterstützung und Anleitung hier auf ein
selbstständiges Leben vorzubereiten. Daran sollte sich ein Jahr betreute Wohnform bis
August 2000 anschließen. Aus einem weiteren Sachstandsbericht vom 5. März 1999
folgt, dass die Verselbstständigung in praktischen Dingen weiter fortschritt. Allerdings
musste der Hilfeempfänger noch den Umgang mit Geld lernen. Ab dem 15. Mai 1999
hatte er eine eigene Wohnung. In der Fortschreibung des Hilfeplanes vom 18. Mai 1999
heißt es: "Biniam hat in der Wohngruppe Selbstständigkeit erlangt in der Erledigung
seiner persönlichen Angelegenheiten ... Unsicher fühlt er sich noch bei der Einteilung
finanzieller Ressourcen. Biniam akzeptiert seinen Auszug aus der bisherigen
Wohngruppe als Notwendigkeit auf Grund seiner Volljährigkeit, ist jedoch emotional
noch sehr dort verbunden, die innere Ablösung fällt ihm derzeit noch schwer". Das
Hilfeplanteam hielt eine weitere Begleitung bei der Umsetzung seiner Kompetenzen
und erworbenen Selbstständigkeit im lebenspraktischen Bereich in der neuen
Wohnsituation noch für erforderlich, sodass die weitere Hilfe in Form des betreuten
Einzelwohnens im Jugendhilfeverbund St. Elisabeth gewährt wurde. Eine weitere
Hilfeplanfortschreibung erfolgte am 27. Januar 2000. Zum weiteren Hilfebedarf heißt es
dort, dass der Hilfeempfänger noch der Begleitung und Anleitung im finanziellen
Bereich bedürfe und es ihm auch noch nicht gelinge, seine freie Zeit alleine
befriedigend zu erleben. Die Umstellung von der Heimgruppe hin zum Alleinsein in der
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eigenen Wohnung bereite ihm Probleme. Er fühle sich noch nicht in der Lage, ganz
allein für sich die Verantwortung zu übernehmen und brauche noch einen
unterstützenden Rahmen.
Nachdem das Bundesverwaltungsamt den Beklagten durch Verfügung vom 21.
September 1994 zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt hatte, machte die
Klägerin gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 23. September 1994 und 26.
Februar 1998 einen Anspruch gemäß § 89 d SGB VIII auf Erstattung der Kosten der
Hilfemaßnahme für die Zeit ab dem 1. April 1993 geltend. Mit Schreiben vom
1. Dezember 1994 lehnte der Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass ein
Kostenerstattungsanspruch gemäß § 89 d SGB VIII nicht gegeben sei, da das
Asylverfahrensgesetz vorrangig Anwendung finde. Die Klägerin hat am 5. April 1997
Klage erhoben und beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die für Biniam Belay gemäß §§ 27,
34 und 41 SGB VIII entstandenen Kosten in der Zeit vom 1. April 1993 bis zum
31. August 2000 zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung führt er aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung,
da dem Hilfeempfänger nicht innerhalb eines Monats nach Einreise Jugendhilfe gewährt
worden sei. Vielmehr seien die Kosten für die Unterbringung von der hessischen
Gemeinschaftsunterkunft Schwalbach übernommen worden. Damit seien nicht nur die
"Zahlungsstrukturen", sondern auch die "Entscheidungsstrukturen" verändert worden.
Das Jugendamt der Stadt Frankfurt habe weder über eine Inobhutnahme gemäß § 42
SGB VIII entschieden, noch eine entsprechende Leistung erbracht.
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Schließlich sei die Ausschlussfrist des § 111 SGB X zu beachten. Es könne nicht
angehen, die Jugendhilfemaßnahmen nach §§ 27, 34 bzw. 41 SGB VIII als jeweils
einheitliche Maßnahmen zu betrachten. Vielmehr sei eine tag- bzw. monatsgenaue
Betrachtung und damit die Anmeldung der Ansprüche zur Kostenerstattung erforderlich.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie der weiteren Verfahren
9 K 1164/97, 9 K 1165/97 und 9 K 1166/97 und der dazu vorgelegten
Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig und begründet.
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Als Rechtsgrundlage kommt allein § 89 d SGB VIII in der Fassung des 1. Gesetzes zur
Änderung des 8. Buches Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993 (BGBl. I S. 239) in
Betracht. Die durch das 2. Gesetz zur Änderung des 11. Buches Sozialgesetzbuch
(SGB XI) und anderer Gesetze vom 29. Mai 1998 (BGBl. I S. 1188) in Kraft getretenen
Neufassung des § 89 d SGB VIII ist für den streitbefangenen Erstattungsanspruch nicht
einschlägig. Nach der in Art. 2 Nr. 11 des Änderungsgesetzes enthaltene
Übergangsbestimmung sind Kosten, für deren Erstattung das Bundesverwaltungsamt
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vor dem 1. Juli 1998 einen erstattungspflichtigen überörtlichen Träger bestimmt hat,
nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften zu erstatten. In dem
vorliegenden Fall ist die Bestimmung des Beklagten zum erstattungspflichtigen
überörtlichen Träger vor dem 1. Juli 1998 erfolgt.
Der Beklagte ist für den geltend gemachten Erstattungsanspruch passivlegitimiert. Er ist
durch Verfügung des Bundesverwaltungsamtes vom 21. September 1994 gemäß § 89 d
Abs. 2 SGB VIII zum überörtlichen Träger der Jugendhilfe bestimmt worden. Bei dieser
Bestimmung handelt es sich um eine bestandskraftfähige hoheitliche Entscheidung mit
Rechtswirkung nach außen, die im vorliegenden Fall mangels Einlegung eines
Widerspruchs durch den Beklagten in Bestandskraft erwachsen ist.
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Vgl. dazu OVG NW, Urteil vom 27. August 1998 - 16 A 3477/97 - S. 13 f des
amtlichen Entscheidungsabdrucks; Bay. VGH, Beschluss vom 1. Oktober 1992 -
FEVS 43, 400 (402 f.); Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII,
Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 2. Auflage § 89 d Rndnr. 13; offen
gelassen vom Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Juni 1999 NWVBl.
2000, 87.
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Gemäß § 89 d SGB VIII in der hier anzuwendenden Fassung setzt der dort geregelte
Erstattungsanspruch voraus, dass einem jungen Menschen, der im Inland keinen
gewöhnlichen Aufenthalt hat, Jugendhilfe gewährt wird und dafür Kosten aufgewendet
werden. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Hilfeempfänger war ein junger
Mensch im Sinne des Gesetzes, da er noch nicht 27 Jahre alt war (§ 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB
VIII). Er hatte vor Beginn der Maßnahme offensichtlich keinen gewöhnlichen Aufenthalt
im Inland. Ihm wurde innerhalb eines Monats nach seiner Einreise am 3. August 1990,
nämlich noch am selben Tage Jugendhilfe in der Form der Inobhutnahme in dem
Aufnahmeheim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge "Haus Waldfriede" der
Arbeiterwohlfahrt in Kronberg gewährt. Gemäß § 2 SGB VIII umfasst die Jugendhilfe
Leistungen und andere Aufgaben. Zu den anderen Aufgaben gehört gemäß § 2 Abs. 3
Nr. 1 SGB VIII die Inobhutnahme i. S. v. § 42 Abs. 1 SGB VIII.
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Entgegen der Ansicht des Beklagten handelt es sich im vorliegenden Fall bei der
Unterbringung im "Haus Waldfriede" um eine Inobhutnahme. Darunter ist gemäß § 42
Abs. 1 SGB VIII die vorläufige Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen bei einer
geeigneten Person oder in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten
Wohnform zu verstehen. Notwendigerweise gehört zum Begriff der Inobhutnahme auch
die umfassende Sorge für das physische und psychische Wohl des Kindes oder
Jugendlichen, die Beratung in seiner gegenwärtigen Lage und das Aufzeigen von
Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung.
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Vgl. Wiesner, a. a. O., § 42 Rndnr. 7 und 8 sowie Meinberger in Hauck,
Sozialgesetzbuch VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, § 42 Rndnr. 5.
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Im vorliegenden Fall ist der Hilfeempfänger ohne Begleitung von
Erziehungsberechtigten eingereist, sodass die Notwendigkeit bestand, ihn in einer
geeigneten Einrichtung vorläufig unterzubringen. Das geschah durch die Aufnahme im
Heim "Haus Waldfriede" in Kronberg, bei dem es sich gerade um ein Aufnahmeheim für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge handelt. Es stellt eine Einrichtung der
Jugendhilfe dar. Nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen des hessischen
Sozialministeriums dient es der Erstaufnahme und Versorgung von Kindern und
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Jugendlichen, die ohne Begleitung von Erziehungsberechtigten nach Deutschland bzw.
Hessen einreisen. Als rechtliche Grundlagen für die Aufnahme der Jugendlichen sind in
der Konzeption der Arbeiterwohlfahrt das Haager-Minderjährigen-Schutzabkommen und
die Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, insbesondere § 42 KJHG,
genannt. In dieser Konzeption wird darüber hinaus die pädagogische Zielsetzung
ausführlich beschrieben. Ferner folgt aus einem Schreiben des Landesjugendamtes
Hessen an den Magistrat der Stadt Fulda vom 10. Mai 2000, dass das Aufnahmeheim
"Haus Waldfriede" seit Eröffnung im Jahre 1988 als Jugendhilfeeinrichtung unter der
Aufsicht des Landesjugendamtes Hessen geführt wurde.
Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass nicht das Jugendamt der Stadt
Frankfurt, sondern auf Grund des Erlasses des hessisches Sozialministers vom 6. Juni
1983 die hessische Gemeinschaftsunterkunft Schwalbach die entstandenen Kosten
erstattet hat. Der Charakter einer Hilfemaßnahme und ihre rechtliche Einordnung
bestimmen sich nach Art und Inhalt der geleisteten Hilfe und nicht danach, von wem die
Kosten getragen werden. Aus dem Erlass des hessischen Sozialministers vom 6. Juni
1983 ergibt sich im Übrigen unzweideutig, dass die Übernahme der Kosten lediglich
eine landesinterne Regelung darstellte, ohne dass dadurch der Inhalt der Hilfeleistung
für die Kinder und Jugendlichen verändert werden sollte. So ist in dem Erlass
ausgeführt, dass die hessische Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge in
Schwalbach nicht zur Unterbringung und Betreuung von allein stehenden
minderjährigen ausländischen Staatsangehörigen, die in Hessen als Flüchtlinge um
Asyl nachsuchen, geeignet ist und die unbegleiteten ausländischen minderjährigen
Flüchtlinge deshalb in Heimen und Einrichtungen der Jugendhilfe unterzubringen sind.
Weiter wird hinsichtlich der Unterbringung auf § 11 Satz 2 JWG verwiesen, wonach für
vorläufige Maßnahmen das Jugendamt zuständig war, in dessen Bezirk das Bedürfnis
der öffentlichen Jugendhilfe hervortrat. Diesem Erlass und der tatsächlichen
Handhabung der Hilfe lassen sich deshalb keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass
der Inhalt der Hilfe und die Entscheidungsstrukturen verändert werden sollten. Vielmehr
war weiterhin - wie nach dem JWG und später dem KJHG bzw. SGB VIII gesetzlich
vorgesehen - das Jugendamt der Stadt Frankfurt als das Jugendamt örtlich zuständig, in
dessen Bezirk das Bedürfnis der öffentlichen Jugendhilfe hervortrat. Auch subjektiv
wollte das zuständige Jugendamt der Stadt Frankfurt im vorliegenden Fall eine
Inobhutnahme durchführen. So hat es in seinem Schreiben vom 10. August 1990 an das
Amtsgericht Königsstein erklärt, im Hinblick auf die durchgeführte Erstversorgung
gemäß § 42 KJHG zur Übernahme der Vormundschaft bereit zu sein. Damit kommt zum
Ausdruck, dass es den Jugendlichen in seine Obhut genommen hat.
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Soweit nach Stellung des Asylantrages und nach Zuweisung in eine
Gebietskörperschaft gemäß dem genannten Erlass die Kosten auf Grund des Gesetzes
über die Aufnahme ausländischer Flüchtlinge vom 15. Oktober 1980 - GVBl Hessen S.
384 erstattet wurden, gilt nichts anderes. Denn die landesrechtlichen Regelungen sind
gegenüber der Kostenerstattung in § 89 d SGB VIII nachrangig
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Vgl. Wiesner, a. a. O., § 89 d Rndnr. 18.
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Diese landesrechtliche Regelung diente ausschließlich dazu, landesintern die Lasten,
die mit der Einreise unbegleiteter minderjähriger Kinder und Jugendlicher verbunden
waren, zu verteilen und die davon besonders betroffenen Gemeinden und Städte zu
entlasten, da erst mit Wirkung vom 1. April 1993 die bundesrechtliche
Kostenerstattungregelung des § 89 d SGB VIII eingeführt wurde.
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Die Gewährung von Jugendhilfe entspricht auch im Übrigen den gesetzlichen
Anforderungen (§ 89 f. SGB VIII). Die im Anschluss an die vorläufige Inobhutnahme
erfolgte Unterbringung des Hilfeempfängers im Kinder- und Jugenddorf St. Elisabeth in
Fulda stellt sich als Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII dar. Gemäß § 27 Abs.
1 SGB VIII ist Hilfe zur Erziehung zu gewähren, wenn eine dem Wohl des Kindes oder
des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine
Entwicklung geeignet und notwendig ist. Diese Voraussetzungen liegen im
vorliegenden Fall vor, da der Hilfeempfänger auf Grund seines Alters einer Erziehung
bedurfte, die nicht gewährleistet war, weil er sich ohne Begleitung von
Erziehungsberechtigten in die Bundesrepublik Deutschland begeben hatte. Die
Unterbringung in dem Heim war auch zur Entwicklung des Hilfeempfängers geeignet
und notwendig, da eine bloße Unterbringung desselben ohne Erziehungsleistung dem
Auftrag des § 1 Abs. 1 SGB VIII, der in § 27 Abs. 1 SGB VIII seinen Niederschlag als
Anspruchsnorm des Personensorgeberechtigten gefunden hat, nicht gerecht geworden
wäre.
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Auch die weitere Gewährung von Hilfe über die Vollendung des 18. Lebensjahres
hinaus entspricht den Regelungen des SGB VIII. Gemäß § 41 Abs. 1 SGB VIII soll
einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer
eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und so lange die Hilfe auf
Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Auf Grund der
Aussagen in den Hilfeplänen ab Januar 1998 ist die Weitergewährung der Hilfe gemäß
§ 41 SGB VIII gerechtfertigt. Danach war der Hilfeempfänger überfordert, alleine zurecht
zu kommen und bedurfte weiterer Hilfe und Unterstützung für seine weitere
Verselbstständigung. In der Folgezeit schritt diese Verselbstständigung vor allem im
praktischen Lebensbereich weiter fort, Defizite bestanden jedoch weiterhin in Bezug auf
seine emotionale Ablösung vom Heim und im Umgang mit Geld. Auf Grund dessen ist
es gerechtfertigt, die Hilfe in Form des betreuten Wohnens bis Ende August 2000 als
Hilfe für junge Volljährige fortzuführen. Der Beklagte ist deshalb auch verpflichtet, die
künftig bis zum 31. August 2000 noch entstehenden Kosten der Hilfe für junge
Volljährige für den Hilfeempfänger zu erstatten. Anders als die Hilfe nach dem BSHG ist
die Hilfe nach dem SGB VIII auf die Erfüllung eines gegenwärtigen Erziehungsbedarfs
gerichtet und kann grundsätzlich auch für die Zukunft geltend gemacht werden.
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Vgl. dazu Verwaltungsgericht Münster, Urteil vom 26. Juni 1997 9 K 3351/96 ;
ebenso Stähr in Hauk/Heines, § 27 Rdn. 53.
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Entgegen der Ansicht des Beklagten ist der Erstattungsanspruch auch nicht teilweise
gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf
Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens 12
Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend
gemacht hat. Diese Vorschrift ist im Rahmen des § 89 d SGB VIII anwendbar, da die
Erstattungsvorschriften des SGB VIII durch die Regelungen der §§ 102 bis 114 SGB X
über die Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander ergänzt werden.
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Vgl. Wiesner, a. a. O. § 89 Anm. 12; Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und
Jugendhilferecht, Kommentar, vor § 89 und Hauck/Haines, SGB X, Kommentar,
§ 111 Rdnr. 12.
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Im vorliegenden Fall hat die Klägerin unmittelbar nach Bestimmung des Beklagen zum
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überörtlichen Träger der Jugendhilfe, ihren Kostenerstattungsanspruch geltend
gemacht. Damit hat sie eine einheitliche Anmeldungserklärung für alle ab dem 1. April
1993 entstandenen und künftig entstehenden Ansprüche abgegeben, sodass die
Voraussetzungen für einen Ausschluss der Erstattung nicht gegeben sind. Anders als
etwa die Sozialhilfe wird Jugendhilfe in der Regel nicht zeitabschnittsweise gewährt, da
es sich regelmäßig um eine in die Zukunft gerichtete Maßnahme von nicht absehbarer
Dauer handelt. Deshalb ist sowohl die Gewährung von Jugendhilfe gemäß §§ 27, 34
SGB VIII in Form der Heimunterbringung als auch die Hilfe für junge Volljährige gemäß
§ 41 SGB VIII jeweils als einheitliche Maßnahme zu betrachten. Vor dem Eintritt der
Volljährigkeit als Ende der Maßnahme gemäß §§ 27, 34 SGB VIII am 15. August 1998
hatte die Klägerin jedoch bereits ihren Kostenerstattungsanspruch angemeldet. Dies gilt
auch für die durch die Weitergewährung der Hilfe in Form der Hilfe für junge Volljährige
gemäß § 41 SGB VIII entstandenen weiteren Kosten, die die Klägerin ebenfalls
angemeldet hatte, sodass auch insoweit die Frist des § 111 SGB X gewahrt ist.