Urteil des VG Münster vom 16.04.2010

VG Münster (antragsteller, verhältnis zu, gutachten, aufschiebende wirkung, unterricht, schule, verhalten, klasse, förderung, interesse)

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 164/10
Datum:
16.04.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 164/10
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
G r ü n d e
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Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
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die aufschiebende Wirkung seiner Klage 1 K 698/10 gegen den Bescheid des
Antragsgegners vom 26. März 2010 wiederherzustellen,
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ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zulässig, hat
aber in der Sache keinen Erfolg.
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Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entscheidung des
Antragsgegners auf Seite 2 des angefochtenen Bescheides genügt angesichts der aus
den Ausführungen zum sonderpädagogischen Förderbedarf selbst folgenden
Dringlichkeit noch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
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Die in gerichtlichen Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende
Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers daran, von der
sofortigen Vollziehung verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an der
sofortigen Durchsetzung des für notwendig gehaltenen Wechsels zu einer Förderschule
mit dem Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung fällt zu Lasten des
Antragstellers aus. Maßgeblich hierfür ist, dass nach der im vorliegenden Verfahren
gebotenen und nur möglichen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage
Überwiegendes für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung des
Antraggegners spricht und die begründete Besorgnis besteht, dass ein weiterer Besuch
der Hauptschule die weitere Schulausbildung des Antragstellers und seine allgemeine
Persönlichkeitsentwicklung gefährden würde.
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Es spricht Überwiegendes dafür, dass die angefochtene Entscheidung des
Antragsgegners über den sonderpädagogischen Förderbedarf des Antragstellers, den
Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung und den Ort der
sonderpädagogischen Förderung auf der Grundlage des § 19 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3
SchulG NRW i.V.m. § 3 Abs. 1, §§ 12 und 13 der Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (AO-SF)
rechtmäßig ist. Nach § 4 Nr. 1 AO-SF kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf
durch Lern- und Entwicklungsstörungen wie u.a. Erziehungsschwierigkeit begründet
sein. Erziehungsschwierigkeit liegt nach § 5 Abs. 3 AO-SF vor, wenn sich ein Schüler
der Erziehung so nachhaltig verschließt oder widersetzt, dass er im Unterricht nicht oder
nicht hinreichend gefördert werden kann und die eigene Entwicklung und die der
Mitschüler erheblich gestört oder gefährdet ist. Es bestehen gewichtige, bei
summarischer Prüfung durchgreifende Gründe für die Annahme des Antragsgegners,
dass beim Antragsteller eine solche Erziehungsschwierigkeit besteht.
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Das Gutachten vom 18. Januar 2010, das zur Ermittlung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs (vgl. § 12 Abs. 1 AO-SG) erstellt wurde, kommt zum Ergebnis, dass der
Antragsteller kaum in der Lage ist, in einer Klassenstärke einer allgemeinen Schule
erfolgreich zu lernen. Im Unterricht arbeite er oftmals unkonzentriert und unmotiviert und
sei schnell ablenkbar. Oftmals gingen von ihm massive Unterrichtsstörungen aus. Er
habe große Schwierigkeiten, sich an Absprachen und Regeln zu halten. In offenen
Situationen verhalte er sich häufig aggressiv. Er habe noch nicht gelernt, sich
angemessen zu behaupten. Er sei, vor allem in Krisensituationen, noch nicht in der
Lage, sein Verhalten angemessen selbst zu steuern, und er benötige ein hohes Maß an
Fremdkontrolle. Diese Einschätzungen hat die Gutachterin im sonderpädagogischen
Gutachten auf Grund ihres eigenen Eindrucks vom Antragsteller und der
herangezogenen Informationsquellen nachvollziehbar begründet. Insbesondere die von
ihr verwerteten Beobachtungen der Klassenlehrerin des Antragstellers erfassen eine
Vielzahl von - sich wiederholenden - Umständen, die den Schluss nahelegen, dass der
Antragsteller sich nachhaltig der Erziehung verschließt und im Unterricht an der
Hauptschule nicht hinreichend gefördert werden kann, so dass sowohl seine als auch
die Entwicklung seiner Mitschüler zumindest erheblich gefährdet sind. Der Antragsteller
sei häufig nicht in der Lage, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. An seiner
Bereitschaft, sich auf den Unterricht einzulassen, mangele es oftmals. Er strebe vielfach
danach, sich und andere abzulenken. Er nutze Unterrichtszeiten für private
Unterhaltungen. Reagierten seine Mitschüler nicht wie von ihm erwünscht, bedränge er
diese bis zu seinem persönlichen Erfolg. Er bewerfe sie dabei mit Gegenständen oder
überschreite körperliche Grenzen. Er störe den Unterricht durch monotone Geräusche,
Wortwiederholungen, auf den Tisch Klopfen. Auch durch verbale Hinweise von Außen
gelinge es ihm nicht immer, diese Spirale zu unterbrechen. Er habe große
Schwierigkeiten, Absprachen und Regeln des sozialen Miteinanders einzuhalten. In
offenen Situationen falle er durch unangemessene Verhaltensweisen auf, wobei er
immer wieder die Grenzen anderer überschreite und durch körperliche Gewalt sich und
andere in Gefahr bringe. Er rechtfertige sein aggressives Vorgehen mit
Entschuldigungen, z.B. dass er zugeschlagen habe, da er nicht nach seinen Wünschen
entsprechend angeschaut worden sei. Selbst bei geringfügigen verbalen
Auseinandersetzungen reagiere der Antragsteller schnell gewalttätig. Müsse er im
Anschluss sein Fehlverhalten reflektieren, äußere er keinerlei Einsicht. Er besitze kein
Unrechtsbewusstsein.
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Durchgreifende Anhaltspunkte, die gegen die Aussagekraft des Gutachtens sprächen
oder sonst ein günstigere Beurteilung des Lern- und Entwicklungsstandes des
Antragstellers und seiner Verhaltensweisen rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.
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Sie ergeben sich nicht daraus, dass die Gutachterin den Antragsteller ausschließlich in
einer nicht zu einem Klassenverband gehörenden Kleingruppe und nicht in der Klasse
beobachtet hat. § 12 Abs. 1 AO-SF erfordert eine Begutachtung in Zusammenarbeit mit
einer Lehrkraft der allgemeinen Schule. Die Gutachterin hat sich nach eigenen Angaben
in mehreren ausführlichen Gesprächen durch die Klassenlehrerin über das Verhalten
des Antragstellers in der Klasse ins Bild setzen lassen. Darin fügte sich zudem die
Selbsteinschätzung des Antragstellers gegenüber der Gutachterin ein. Er schilderte,
dass er sich in Konfliktsituationen nicht kontrollieren könne, dass er "ausraste(t)" und
selbst den Punkt nicht spüre, an dem er stoppen müsse.
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Weder den Verwaltungsvorgängen noch dem Vorbringen des Antragstellers in diesem
oder im Klageverfahren sind Gesichtspunkte zu entnehmen, die geeignet sind, die
Einschätzungen der Gutachterin zu relativieren. Der Einwand aus der Klageschrift, das
pädagogische Gutachten sei unsubstantiiert, ist angesichts der in dem Gutachten
detailliert ausgeführten Feststellungen zum Verhalten des Antragstellers in der Schule
ohne jeden Anhalt. Dass der Antragsteller sich von seiner Klassenlehrerin zum Teil zu
Unrecht behandelt fühlt und hierauf im Gutachten nicht näher eingegangen wird, betrifft
einzelne für die Feststellung der Erziehungsschwierigkeit nicht auschlaggebende
Vorfälle aus dem Verhältnis zu Mitschülern. Ob die insoweit erhobenen Beschwerden
(der Antragsteller habe bereits am Boden liegende Mitschüler mit Fußtritten traktiert,
Mitschülerinnen intim berührt und Zurückweisung ignoriert), kann deshalb in diesem
Verfahren dahinstehen. Zu dem Kern der im Gutachten wiedergegebenen
Feststellungen zum Verhalten des Antragstellers in der Klasse enthalten weder die
Antrags- noch die Klageschrift substantielle Ausführungen.
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Auch die Entscheidung des Antragsgegners, geeigneter Förderort sei eine Förderschule
mit dem genannten Förderschwerpunkt, ist bei summarischer Prüfung nicht zu
beanstanden. Die von der Gutachterin bei der Beobachtung des Antragstellers in der
Kleingruppe gewonnenen Eindrücke bestätigen das ebenso wie das Ergebnis des
schulärztlichen Gutachtens. In der Kleingruppe wirkte der Antragsteller ruhig und
angepasst, im Unterrichtsgespräch arbeitete er mit. Er wirkte konzentriert und arbeitete
zielgerichtet und war während der Hospitation in der Lage, Kritik in Bezug auf seinen
erledigten Auftrag anzunehmen. Im schulärztlichen Gutachten wird die von einem
Kinder- und Jugendpsychiater getroffene Feststellung wiedergegen, dass die
Konzentrationsfähigkeit des Antragstellers gut sei.
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Spricht nach alledem mehr für die Rechtmäßigkeit der angefochten Entscheidung des
Antragsgegners, ergibt die gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen, dass
das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Aufschubinteresse des
Antragstellers überwiegt. Nach Aktenlage besteht nämlich die Besorgnis, dass ein
weiterer Besuch der Hauptschule die weitere Schulausbildung und die allgemeine
Persönlichkeitsentwicklung des Antragstellers gefährden würde. Dass diese Besorgnis
nahe liegt, wird gerade aus der Gegenüberstellung der von der Klassenlehrerin
getroffenen Feststellungen zum Verhalten des Antragstellers in der Klasse und der
Beobachtungen seines Verhaltens in der Kleingruppe in Verbindung mit seiner
Selbsteinschätzung deutlich. Bei einem weiteren Hinauszögern des Schulwechsels
bestünde die Gefahr, dass der Antragsteller nicht nach Maßgabe seines
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Leistungsvermögens und seiner Konzentrationsfähigkeit gefördert werden könnte. Es ist
zu erwarten, dass der Antragsteller die durch den Schulwechsel eintretende Belastung
auf Grund der in der Förderschule vorhandenen Umstände, vor allem der
überschaubaren Klassengröße, und seiner Grundfähigkeit zur Konzentration und zur
konstruktiven Mitarbeit im Unterricht schnell überwinden kann. Unter Einbeziehung der
im schulärztlichen Gutachten getroffenen Feststellung könnte hierbei in Abstimmung mit
der Schule die Wiederaufnahme einer außerschulischen Förderung etwa in einer
Tagesgruppe helfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§
53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Der Auffangwert des § 53 Abs. 2 GKG ist wegen des
vorläufigen Charakters des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens um die Hälfte zu
reduzieren.
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