Urteil des VG Münster vom 22.03.2010

VG Münster (gefahr im verzuge, aufschiebende wirkung, antragsteller, schulbesuch, ansteckende krankheit, öffentliches interesse, sohn, schüler, erkrankung, ausschluss)

Verwaltungsgericht Münster, 1 L 115/10
Datum:
22.03.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1 L 115/10
Schlagworte:
vorübergehender Ausschluß Schulbesuch Erkrankung
Gesundheitsgefährdung Ordnungsmaßnahme Aggressionsverhalten
Gewalttätigkeit
Normen:
SchulG NRW § 54 Abs. 4
Leitsätze:
Nach dem Sinn und Zweck des § 54 Abs. 4 SchulG NRW ist ein
vorübergehender Ausschluß vom Schulbesuch wegen
Gesundheitsgefährdung anderer nur möglich, wenn die Gefährdung auf
einer Erkrankung des auszuschließenden Schülers beruht.
Die Erkrankung muß sich insbesondere auf eine ansteckende Krankheit
i. S. d. Infektionsschutzgesetzes beziehen.
Sofern die Gesundheitsgefährdungen anderer Mitschüler durch
Gewalttätigkeiten des auszuschließenden Schülers veranlasst sind,
müssen diese auf einer krankhaften nicht steuerbaren Verhaltensstörung
des auszuschließenden Schülers beruhen (hier nicht feststellbar).
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 1.
März 2010 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Februar
2010 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
G r ü n d e
1
Der – sinngemäße – Antrag der Antragsteller,
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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruches vom 1. März 2010 gegen den
Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Februar 2010 wiederherzustellen,
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ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
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Die Antragsteller sind analog § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, da mit dem vorläufigen
Ausschluss ihres Sohnes Q. nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen ist,
dass sie dadurch in ihrem elterlichen Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des
Grundgesetzes – GG -, Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Landesverfassung NRW, zu welchem
auch die Geltendmachung des Rechts auf Bildung ihres Kindes gehört, verletzt werden.
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Die nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse
an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Verfügung durch die
Antragsgegnerin einerseits und dem Interesse der Antragsteller andererseits, vorläufig
von der Vollziehung der Verfügung verschont zu bleiben, fällt zu Gunsten der
Antragsteller aus.
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An der sofortigen Vollziehung des Ausschlusses des Sohnes der Antragsteller vom
Schulbesuch gem. § 54 Abs. 4 SchulG besteht kein öffentliches Interesse, weil sich
diese Maßnahme nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein
gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig darstellt.
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Die Antragsgegnerin hat den Sohn der Antragsteller auf der Grundlage des § 54 Abs. 4
SchulG vom Schulbesuch wegen des Vorwurfs ausgeschlossen, aus ihrer Sicht liege
bei dem Sohn eine krankhafte Verhaltensstörung mit Aggressionserscheinungen vor,
die einer schulärztlichen Abklärung bedürfe. Die Einschätzung der Antragsgegnerin
stützt sich in ihrer Entscheidung auf wiederholte Aggressionen des Sohnes der
Antragsteller gegen einen Mitschüler, der von dem Sohn körperlich misshandelt wurde
und dessen Schulmaterialen von dem Sohn beschädigt wurden. Allerdings ist es bereits
vor diesen Vorfällen im Februar 2010 zu einem massiven Fehlverhalten von Q.
gegenüber Mitschülern und Lehrern gekommen. Eine schwerwiegende
Körperverletzung von Q. gegenüber einer Mitschülerin führte im August 2008 zu
einer Ordnungsmaßnahme der Teilkonferenz (vorübergehender Ausschluss vom
Schulunterricht für 5 Tage).
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Die nunmehr von der Antragsgegnerin für die Maßnahme des vorläufigen Ausschlusses
vom Schulbesuch herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 54 Abs. 4 SchulG
greift im vorliegenden Fall nicht ein. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können Schülerinnen
und Schüler, deren Verbleib eine konkrete Gefahr für die Gesundheit anderer bedeutet,
vorübergehend oder dauernd vom Schulbesuch ausgeschlossen werden. Nach Satz 2
trifft die Entscheidung die Schulleiterin oder der Schulleiter auf Grund eines Gutachtens
des schulärztlichen Dienstes. Satz 3 bestimmt, dass bei Gefahr im Verzuge die
Schulleiterin oder der Schulleiter befugt ist, einen vorläufigen Ausschluss vom
Schulbesuch auszusprechen. Nach dem Sinn und Zweck dieser Regelungen,
Krankheiten der Schülerinnen und Schüler vorzubeugen (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1
SchulG), sind von § 54 Abs. 4 SchulG die Fälle erfasst, in denen die
Gesundheitsgefährdung anderer Schülerinnen und Schüler auf einer Erkrankung des
vom Schulbesuch auszuschließenden Schülers beruht. Dabei belegt der
Zusammenhang der Vorschrift mit dem Infektionsschutzgesetz (vgl. § 54 Abs. 3 Satz 2
SchulG), dass sich § 54 Abs. 4 SchulG insbesondere auf die in § 34 des
Infektionsschutzgesetzes aufgezählten - ansteckenden - Krankheiten bezieht.
9
Vgl. VG Münster, Beschl. v. 9. März 2007 – 1 L 146/07 -, n.v.; ferner: Jülich/van
den Hövel/Packwitz, Schulrechtshandbuch Nordrhein-Westfalen, 18. Erg. Lfg.
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Februar 2010, § 54 Rdnr. 10; Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, 7. Aufl.,
Neuwied 2000, S. 572.
Dass der Sohn der Antragsteller an einer derartigen Krankheit leidet, ist weder von der
Antragsgegnerin substantiiert vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Die
Maßnahme lässt sich auch dann nicht auf § 54 Abs. 4 Satz 3 SchulG stützen, wenn die
Vorschrift auch solche Fälle erfassen sollte – wovon die Antragsgegnerin offensichtlich
auszugehen scheint -, in denen die Gesundheitsgefährdung anderer Schülerinnen und
Schüler auf einem krankheitsbedingten Verhalten des auszuschließenden Schülers
beruht und dieses zu Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern führt.
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Vgl. hierzu: Jehkul/Kumpfert/Budach/Ernst/Hebborn/Menzel, Schulgesetz für
das Land Nordrhein-Westfalen, 1. Aufl. 2005, § 54, Rdnr. 4.
12
Die Antragsgegnerin hat keine hinreichenden Anhaltspunkte geltend gemacht oder
substantiiert dargelegt, dass das dem Sohn der Antragsteller zur Last gelegte Verhalten
auf eine krankhafte Verhaltensstörung im genannten Sinn zurückzuführen ist. Nach
summarischer Durchsicht der Akten lässt sich zwar bei dem Sohn der Antragsteller ein
in der Schule der Antragsgegnerin immer wieder zum Ausbruch kommendes
überschießendes Aggressionspotential feststellen, doch ist in dem vorgelegten
Verwaltungsvorgang nirgendwo aktenkundig festgehalten, dass es sich hierbei um eine
pathologische Verhaltensweise oder um den Ausfluss einer krankhaften
Verhaltensstörung handelt. Das nach § 54 Abs. 4 Satz 2 SchulG für die Annahme einer
Erkrankung des betreffenden Schülers erforderliche schulärztliche Gutachten liegt nicht
vor. Vielmehr hat das von der Antragsgegnerin eingeschaltete Gesundheitsamt des
Kreises C. mit Schreiben vom 11. März 2010 eine Überprüfung der Schulfähigkeit
des Sohnes der Antragsteller abgelehnt. Der Schüler ist dem Gesundheitsamt bereits im
Dezember 2009 im Rahmen eines Verfahrens über die Feststellung
sonderpädagogischen Förderbedarfs vorgestellt worden, wonach das Gesundheitsamt
zu der Feststellung gelangte, dass seitens der Schule überprüft werden müsse, ob
sonderpädagogischer Förderbedarf (vermutet für den Bereich soziale und emotionale
Entwicklung) vorliege. Eine diagnostische Krankheitsbewertung erfolgte jedoch nicht.
Für eine erneute Untersuchung sah das Gesundheitsamt jetzt keine Veranlassung, da
den übersandten Unterlagen der Antragsgegnerin nicht entnommen werden könne,
dass sich der Gesundheitszustand von Q. in der Zwischenzeit geändert habe. Auch
auf die vom erkennenden Gericht eingeholte ärztliche Stellungnahme der X.
Klinik N1. -T. – I. – Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie vom
9. März 2010 lässt sich die von der Antragsgegnerin vorgenommene
Krankheitseinschätzung nicht stützen. Nach der ärztlichen Stellungnahme von Dr. phil.
W. leidet Q. u.a. an einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F
92.0) und an einer reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (F 94.1). Dass sein
Aggressionsverhalten krankhaft, also von ihm nicht steuerbar ist, lässt sich daraus nicht
ableiten.
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Ebenso wenig bestehen Verdachtsmomente, die die Annahme einer Gefahr im Verzuge
i.S.v. § 54 Abs. 4 Satz 3 SchulG rechtfertigen könnten. Hierfür reichen die von der
Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren aufgeführten Störungen und
Regelverletzungen nicht aus. Sofern diese Vorwürfe zutreffen – woran die Kammer nicht
zweifelt -, wäre hierin zwar ein Aggressionsverhalten des Sohnes der Antragstellers zu
sehen, dem aber mit erzieherischen Einwirkungen und ggf. schulischen
Ordnungsmaßnahmen zu begegnen gewesen wäre. Greifbare Hinweise auf eine
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krankheitsbedingte Verhaltensstörung des Antragstellers ergeben sich daraus ohne
weitere Substantiierungen noch nicht.
Der angefochtene Ausschluss des Antragstellers vom Schulbesuch lässt sich auch nicht
als Ordnungsmaßnahme auf der Grundlage des § 53 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Nr. 3 SchulG
aufrecht erhalten, wonach die Schulleiterin oder der Schulleiter eine Schülerin oder
einen Schüler vorläufig vom Unterricht von einem Tag bis zu zwei Wochen oder von
sonstigen Schulveranstaltungen ausschließen kann. Abgesehen davon, dass es der
hier angefochtenen Maßnahme ihrer besonderen Eigenart wegen an einer Fristsetzung
i.S.v. § 53 Abs. 3 Nr. 3 SchulG fehlt, wäre der Ausschluss des Antragstellers vom
Schulbesuch als Ordnungsmaßnahme auch eine andere im Rechtssinne. Für ihre
weiteren Überlegungen wird die Antragsgegnerin zu berücksichtigen haben, dass
Ordnungsmaßnahmen nur dann verhältnismäßig sind, wenn erzieherische
Einwirkungen nicht ausreichen.
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Die Kosten des Verfahrens hat nach § 154 Abs. 1 VwGO die Antragsgegnerin zu tragen,
weil sie unterlegen ist.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG. Der festgesetzte
Wert ist wegen des vorläufigen Charakters des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens
mit der Hälfte des im Hauptsacheverfahren anzunehmenden Auffangwerts nach § 52
Abs. 2 GKG zu bemessen.
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