Urteil des VG Münster vom 21.02.2003

VG Münster: politische verfolgung, entlassung aus der haft, syrien, anerkennung, bundesamt, theaterstück, heimatstaat, ausreise, verfolgter, verwaltungsverfahren

Verwaltungsgericht Münster, 10 K 353/98.A
Datum:
21.02.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Münster
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 353/98.A
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 08. Januar 1998 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten
anzuerkennen und festzustellen, dass in seiner Person die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für den Staat Syrien vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
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Der am 0 geborene Kläger stammt aus Syrien. Er ist kurdischer Volkszugehörigkeit und
moslemischen Glaubens.
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Der Kläger verließ nach seinen Angaben Ende 1997 seine Heimat, gelangte von Syrien
aus zunächst in den Irak und von dort in die Türkei und reiste schließlich auf dem
Luftweg von Istanbul aus in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier suchte er um Asyl
nach. Seine Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge fand am 30. Dezember 1997 statt. Hierbei gab der Kläger u. a. an, Mitglied
der Kurdischen Volksunion gewesen zu sein und an Theaterstücken teilgenommen zu
haben, die gegen den syrischen Präsidenten gerichtet gewesen seien.
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Mit Bescheid vom 08. Januar 1998 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers
ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen und forderte den Kläger auf,
die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser
Entscheidung zu verlassen. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er
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nach Syrien abgeschoben.
Am 11. Februar 1998 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sein Vorbringen aus dem
Verwaltungsverfahren ergänzt und vertieft und beantragt:
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„ Unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 08. Januar 1998, zugestellt und ausgehändigt am 05.
Februar 1998, die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten
anzuerkennen.
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Festzustellen, dass die Voraussetzungen der §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes in
der Person des Klägers vorliegen."
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid.
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Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung angehört worden. Auf die darüber
gefertigte Niederschrift wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der von der Beklagten vorgelegten
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der Anerkennung des Klägers als
Asylberechtigter und die Ablehnung der Feststellung, dass die Voraussetzungen des §
51 Abs. 1 AuslG vorliegen, sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen
Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO; denn der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung als
politisch Verfolgter im Sinne von Artikel 16 a Abs. 1 GG und auf die Feststellung, dass
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
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Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne des Artikel 16 a Abs. 1 GG genießt, wer bei
seiner Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit
Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit zu
erwarten hat.
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Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 157, 181,
182/80 -, BVerfGE 54, 341 = NJW 1980, 2641.
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Politische Verfolgung liegt vor, wenn dem Einzelnen durch den Staat oder durch
Maßnahmen Dritter, die dem Staat zuzurechnen sind, in Anknüpfung an seine Rasse,
Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, politische
Überzeugung oder vergleichbare persönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen
gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die nach ihrer Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen, ihn aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen
Einheit ausgrenzen und in eine ausweglose Lage bringen.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315
(334 f und 344 ff).
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Eine die Zuerkennung des Asylrechts rechtfertigende begründete Befürchtung einer
politischen Verfolgung ist dann gegeben, wenn dem Asylsuchenden für seine Person
bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles
politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass es ihm nicht
zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
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Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, NVwZ
1988, 838.
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Da das Asylgrundrecht auf dem Zufluchtgedanken beruht und deshalb grundsätzlich
den Kausalzusammenhang Verfolgung-Flucht-Asyl voraussetzt und nach dem
normativen Leitbild dieses Grundrechts typischerweise (nur) für solche Ausländer gilt,
die auf Grund politischer Verfolgung gezwungen sind, ihr Heimatland zu verlassen und
im Ausland Schutz und Zuflucht zu suchen und deswegen in die Bundesrepublik
Deutschland kommen, gelten für die Anerkennung eines Asylbewerbers
unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat vorverfolgt verlassen
hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Ist der
Asylsuchende aus Furcht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer
Verfolgung ausgereist und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines
Heimatlandes wegen Fehlens einer inländischen Fluchtalternative nicht zumutbar, so ist
er als Asylberechtigter anzuerkennen, wenn die fluchtbegründenden Umstände
einschließlich des Nichtbestehens einer inländischen Fluchtalternative im Zeitpunkt der
tatrichterlichen Entscheidung ohne wesentliche Änderung fortbestehen oder wenn sie
zwar entfallen sind, der Asylsuchende aber vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend
sicher sein kann. Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat jedoch unverfolgt
verlassen, ist er nur dann asylberechtigt, wenn ihm auf Grund beachtlicher
Nachfluchttatbestände politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9
C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (140 f).
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Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger Anspruch auf Anerkennung als
Asylberechtigter. Denn er war im Zeitpunkt seiner Ausreise einer Verfolgung aus
asylerheblichen Gründen ausgesetzt; ihm droht auch eine solche Verfolgung im Falle
einer Rückkehr nach Syrien.
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Der Kläger hat glaubhaft, nachvollziehbar, unter Angabe von Einzelheiten und auch,
bezogen auf sein Vorbringen vor dem Bundesamt, im Wesentlichen widerspruchsfrei
vorgetragen, in Syrien in den Blick der Geheimdienste geraten und deshalb politisch
motivierter Nachstellungen ausgesetzt gewesen zu sein. Dass diese Nachstellungen
dadurch hätten bedingt sein können, dass der Kläger einfaches Mitglied der Kurdischen
Volksunion gewesen ist, macht er selbst nicht geltend. Der Kläger hat aber glaubhaft
dargelegt, dass er an Theaterstücken, die sich regimekritisch mit dem in Syrien
herrschenden System auseinandersetzten und einem größeren Publikum zur Kenntnis
gebracht wurden oder jedenfalls werden sollten, aktiv mitgewirkt hat und auf diese
Weise von den syrischen Behörden als Oppositioneller wahrgenommen und in der
Folge als missliebige und auszugrenzende Person angesehen wurde. So schilderte der
Kläger in sich stimmig, im April 1996 wegen seiner Mitwirkung an einem Theaterstück
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festgenommen worden zu sein, in dem gespielt wurde, wie Kurden zunächst ihren
syrischen Personalausweis und später auch ihre Ländereien und ihr Hab und Gut
verloren hätten. Er habe dabei die Rolle eines normalen syrischen Mitbürgers gespielt,
dem die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt worden sei. Er habe dem Publikum
zeigen wollen, dass sie, die Kurden, Eigentümer des Landes seien und immer schon
dort gelebt hätten und wie jetzt ihre Rechte aberkannt würden. Das Gericht nimmt es
dem Kläger ab, wenn er angab, in der bis zum 01. Mai 1996 andauernden Haft verhört
und gefoltert worden zu sein. Diese Haft konnte er, auch dies erscheint dem Gericht
nachvollziehbar, nur dadurch beenden, dass er eine Erklärung unterschrieb, wonach er
sich nicht mehr gegen die Regierung betätigen und sich nicht mehr an Aktionen
beteiligen werde. „Mir blieb nichts anderes übrig. Ich wollte sie loswerden." Dass der
Kläger seine Entlassung aus der Haft auch dadurch erreichte, dass er etwa die Baath-
Partei lobte und darauf verwies, noch Schüler zu sein, erscheint dem Gericht ebenfalls
stimmig. Den eigentlichen Auslöser für die Ausreise des Klägers bildete sodann
offenbar der Umstand, dass der Kläger auf Grund eines im Jahre 1997 eingeprobten
Theaterstücks erneut in den Blick der syrischen Behörden geriet. Die Einzelheiten jenes
Theaterstücks und auch der dort verwandten Bilder und Symbole, die auf die
Unterdrückung der Kurden durch die Araber hinweisen sollten, vermochte der Kläger im
Einzelnen und widerspruchsfrei zu schildern. Das Gericht nimmt ihm auch ab, dass,
anders als bei dem erstgenannten Theaterstück, welches unter freiem Himmel
außerhalb der Ortschaft U vor einem größeren Publikum von etwa 600 Personen
aufgeführt wurde, die Proben für das letztgenannte Theaterstück durch Spitzel oder
Agenten zur Kenntnis des syrischen Geheimdienstes gebracht worden sein müssen,
was dann zu einem „Überfall" des Geheimdienstes führte, in dessen Verlauf es dem
Kläger gelang, unbemerkt über ein Nachbargrundstück zu fliehen. Ein Vergleich der
diesbezüglichen Bekundungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung mit jenen
im Verwaltungsverfahren zeigt, dass die Darstellung des Klägers auch insoweit in sich
stimmig und ohne nennenswerte Widersprüche ist. Auf der Grundlage dieser
tatsächlichen Feststellungen muss das Gericht davon ausgehen, dass der Kläger aus
Furcht vor bereits eingetretener, jedenfalls aber unmittelbar drohender politischer
Verfolgung ausgereist ist und dass ihm auch im Falle seiner Rückkehr nach Syrien
erneute politische Verfolgung drohen würde. Der Kläger ist folglich als Asylberechtigter
anzuerkennen.
Aus den genannten Gründen ist die Beklagte gemäß § 51 Abs. 2 Nr. 1 AuslG auch
verpflichtet, festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG für den Staat Syrien vorliegen.
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Die unter Ziffer 4. des angegriffenen Bescheids des Bundesamtes vom 08. Januar 1998
ausgesprochene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist aufzuheben,
weil der Kläger auf Grund seiner Asylanerkennung nicht zum Verlassen der
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83 b AsylVfG werden
Gerichtskosten nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit
der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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